Kant: AA VIII, Von einem neuerdings erhobenen ... , Seite 389 |
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| 01 | Der Namen der Philosophie ist, nachdem er seine erste Bedeutung: | ||||||
| 02 | einer wissenschaftlichen Lebensweisheit, verlassen hatte, schon sehr früh als | ||||||
| 03 | Titel der Ausschmückung des Verstandes nicht gemeiner Denker in Nachfrage | ||||||
| 04 | gekommen, für welche sie jetzt eine Art von Enthüllung eines Geheimnisses | ||||||
| 05 | vorstellte. - Den Asceten in der Makarischen Wüste hie | ||||||
| 06 | ihr Mönchsthum die Philosophie. Der Alchemist nannte sich philosophus | ||||||
| 07 | per ignem. Die Logen alter und neuer Zeiten sind Adepten eines | ||||||
| 08 | Geheimnisses durch Tradition, von welchem sie uns mißgünstigerweise | ||||||
| 09 | nichts aussagen wollen ( philosophus per initiationem ). Endlich sind | ||||||
| 10 | die neuesten Besitzer desselben diejenigen, welche es in sich haben, aber | ||||||
| 11 | unglücklicherweise es nicht aussagen und durch Sprache allgemein mittheilen | ||||||
| 12 | können ( philosophus per inspirationem ). Wenn nun ein Erkenntniß | ||||||
| 13 | des Übersinnlichen (das in theoretischer Absicht allein ein wahres | ||||||
| 14 | Geheimniß ist) gäbe, welches zu enthüllen in praktischer Absicht dem | ||||||
| 15 | menschlichen Verstande allerdings möglich ist: so würde doch ein solches | ||||||
| 16 | aus demselben, als einem Vermögen der Erkenntniß durch Begriffe, | ||||||
| 17 | demjenigen weit nachstehen, welches als ein Vermögen der Anschauung | ||||||
| 18 | unmittelbar durch den Verstand wahrgenommen werden könnte; denn | ||||||
| 19 | der discursive Verstand muß vermittelst der ersteren viele Arbeit zu der | ||||||
| 20 | Auflösung und wiederum der Zusammensetzung seiner Begriffe nach | ||||||
| 21 | Principien verwenden und viele Stufen mühsam besteigen, um im Erkenntniß | ||||||
| 22 | Fortschritte zu thun, statt dessen eine intellectuelle Anschauung | ||||||
| 23 | den Gegenstand unmittelbar und auf einmal fassen und darstellen würde. | ||||||
| 24 | - Wer sich also im Besitz der letztern zu sein dünkt, wird auf den erstern | ||||||
| 25 | mit Verachtung herabsehen; und umgekehrt ist die Gemächlichkeit eines | ||||||
| 26 | solchen Vernunftgebrauchs eine starke Verleitung ein dergleichen Anschauungsvermögen | ||||||
| 27 | dreist anzunehmen, imgleichen eine darauf gegründete | ||||||
| 28 | Philosophie bestens zu empfehlen: welches sich auch aus dem natürlichen | ||||||
| 29 | selbstsüchtigen Hange der Menschen, dem die Vernunft schweigend | ||||||
| 30 | nachsieht, leicht erklären läßt. | ||||||
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