Kant: AA VIII, Über das Mißlingen ... , Seite 268

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 ist nicht neu (denn Hiob hat sie schon gemacht); aber fast sollte man glauben,      
  02 daß die Aufmerksamkeit auf dieselbe für Sitten= und Religionslehrer neu      
  03 sei: so wenig findet man, daß sie ungeachtet der Schwierigkeit, welche eine      
  04 Läuterung der Gesinnungen der Menschen, selbst wenn sie pflichtmäßig      
  05 handeln wollen, bei sich führt, von jener Bemerkung genugsamen Gebrauch      
  06 gemacht hätten. - Man kann diese Wahrhaftigkeit die formale Gewissenhaftigkeit      
  07 nennen; die materiale besteht in der Behutsamkeit,      
  08 nichts auf die Gefahr, daß es unrecht sei, zu wagen: da hingegen jene in      
  09 dem Bewußtsein besteht, diese Behutsamkeit im gegebnen Falle angewandt      
  10 zu haben. - Moralisten reden von einem irrenden Gewissen. Aber ein      
  11 irrendes Gewissen ist ein Unding; und gäbe es ein solches, so könnte man      
  12 niemals sicher sein recht gehandelt zu haben, weil selbst der Richter in der      
  13 letzten Instanz noch irren könnte. Ich kann zwar in dem Urtheile irren,      
  14 in welchem ich glaube Recht zu haben: denn das gehört dem Verstande      
  15 zu, der allein (wahr oder falsch) objectiv urtheilt; aber in dem Bewußtsein:      
  16 ob ich in der That glaube Recht zu haben (oder es bloß vorgebe),      
  17 kann ich schlechterdings nicht irren, weil dieses Urtheil oder vielmehr      
  18 dieser Satz bloß sagt: daß ich den Gegenstand so beurtheile.      
           
  19 In der Sorgfalt sich dieses Glaubens (oder Nichtglaubens) bewußt      
  20 zu werden und kein Fürwahrhalten vorzugeben, dessen man sich nicht bewußt      
  21 ist, besteht nun eben die formale Gewissenhaftigkeit, welche der Grund      
  22 der Wahrhaftigkeit ist. Derjenige also, welcher sich selbst (und, welches      
  23 in den Religionsbekenntnissen einerlei ist, vor Gott) sagt: er glaube,      
  24 ohne vielleicht auch nur einen Blick in sich selbst gethan zu haben, ob er      
  25 sich in der That dieses Fürwahrhaltens oder auch eines solchen Grades      
  26 desselben bewußt sei*), der lügt nicht bloß die ungereimteste Lüge (vor      
           
    *) Das Erpressungsmittel der Wahrhaftigkeit in äußern Aussagen, der Eid ( tortura spiritualis ), wird vor einem menschlichen Gerichtshofe nicht bloß für erlaubt, sondern auch für unentbehrlich gehalten: ein trauriger Beweis von der geringen Achtung der Menschen für die Wahrheit selbst im Tempel der öffentlichen Gerechtigkeit, wo die bloße Idee von ihr schon für sich die größte Achtung einflößen sollte! Aber die Menschen lügen auch Überzeugung, die sie wenigstens nicht von der Art oder in dem Grade haben, als sie vorgeben, selbst in ihrem innern Bekenntnisse; und da diese Unredlichkeit (weil sie nach und nach in wirkliche Überredung ausschlägt) auch äußere schädliche Folgen haben kann, so kann jenes Erpressungsmittel der Wahrhaftigkeit, der Eid (aber freilich nur ein innerer, d. i. der Versuch, ob das Fürwahrhalten auch die Probe einer innern eidlichen Abhörung [Seitenumbruch] des Bekenntnisses aushalte), dazu gleichfalls sehr wohl gebraucht werden, die Vermessenheit dreister, zuletzt auch wohl äußerlich gewaltsamer Behauptungen, wo nicht abzuhalten, doch wenigstens stutzig zu machen. - Von einem menschlichen Gerichtshofe wird dem Gewissen des Schwörenden nichts weiter zugemuthet, als die Anheischigmachung: daß, wenn es einen künftigen Weltrichter (mithin Gott und ein künftiges Leben) giebt, er ihm für die Wahrheit seines äußeren Bekenntnisses verantwortlich sein wolle; daß es einen solchen Weltrichter gebe, davon hat er nicht nöthig ihm ein Bekenntniß abzufordern, weil, wenn die erstere Betheurung die Lüge nicht abhalten kann, das zweite falsche Bekenntniß eben so wenig Bedenken erregen würde. Nach dieser innern Eidesdelation würde man sich also selbst fragen: Getrauest du dir wohl, bei allem, was dir theuer und heilig ist, dich für die Wahrheit jenes wichtigen oder eines andern dafür gehaltenen Glaubenssatzes zu verbürgen? Bei einer solchen Zumuthung wird das Gewissen aufgeschreckt durch die Gefahr, der man sich aussetzt, mehr vorzugeben, als man mit Gewißheit behaupten kann, wo das Dafürhalten einen Gegenstand betrifft, der auf dem Wege des Wissens (theoretischer Einsicht) gar nicht erreichbar ist, dessen Annehmung aber dadurch, daß sie allein den Zusammenhang der höchsten praktischen Vernunftprincipien mit denen der theoretischen Naturerkenntniß in einem System möglich (und also die Vernunft mit sich selbst zusammenstimmend) macht, über alles empfehlbar, aber immer doch frei ist. - Noch mehr aber müssen Glaubensbekenntnisse, deren Quelle historisch ist, dieser Feuerprobe der Wahrhaftigkeit unterworfen werden, wenn sie Andern gar als Vorschriften auferlegt werden: weil hier die Unlauterkeit und geheuchelte Überzeugung auf Mehrere verbreitet wird, und die Schuld davon dem, der sich für Anderer Gewissen gleichsam verbürgt (denn die Menschen sind mit ihrem Gewissen gerne passiv), zur Last fällt.      
           
     

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