Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 200 |
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01 | weder Anschauungen (wie die von Raum und Zeit), noch Gefühle (wie | ||||||
02 | die Glückseligkeitslehre sie sucht), welche beide zur Sinnlichkeit gehören; | ||||||
03 | sondern Begriffe von einer Vollkommenheit, der man sich zwar immer | ||||||
04 | nähern, sie aber nie vollständig erreichen kann. | ||||||
05 | Vernünftelei (ohne gesunde Vernunft) ist ein den Endzweck vorbeigehender | ||||||
06 | Gebrauch der Vernunft, theils aus Unvermögen, theils aus Verfehlung | ||||||
07 | des Gesichtspunkts. Mit Vernunft rasen heißt: der Form seiner | ||||||
08 | Gedanken nach zwar nach Principien verfahren, der Materie aber oder | ||||||
09 | dem Zwecke nach die diesem gerade entgegengesetzten Mittel anwenden. | ||||||
10 | Subalterne müssen nicht vernünfteln (räsonniren), weil ihnen das | ||||||
11 | Princip, wornach gehandelt werden soll, oft verhehlt werden muß, wenigstens | ||||||
12 | unbekannt bleiben darf; der Befehlshaber (General) aber muß Vernunft | ||||||
13 | haben, weil ihm nicht für jeden vorkommenden Fall Instruction | ||||||
14 | gegeben werden kann. Daß aber der sogenannte Laie ( Laicus ) in Sachen | ||||||
15 | der Religion, da diese als Moral gewürdigt werden muß, sich seiner eigenen | ||||||
16 | Vernunft nicht bedienen, sondern dem bestallten Geistlichen ( Clericus ), | ||||||
17 | mithin fremder Vernunft folgen solle, ist ungerecht zu verlangen: | ||||||
18 | da im Moralischen ein jeder sein Thun und Lassen selbst verantworten | ||||||
19 | muß, und der Geistliche die Rechenschaft darüber nicht auf seine eigene | ||||||
20 | Gefahr übernehmen wird, oder es auch nur kann. | ||||||
21 | In diesen Fällen aber sind die Menschen geneigt, mehr Sicherheit | ||||||
22 | für ihre Person darin zu setzen, daß sie sich alles eigenen Vernunftgebrauchs | ||||||
23 | begeben und sich passiv und gehorsam unter eingeführte | ||||||
24 | Satzungen heiliger Männer fügen. Dies thun sie aber nicht sowohl aus | ||||||
25 | dem Gefühl ihres Unvermögens in Einsichten (denn das Wesentliche aller | ||||||
26 | Religion ist doch Moral, die jedem Menschen bald von selbst einleuchtet), | ||||||
27 | sondern aus Arglist, theils um, wenn etwa hiebei gefehlt sein möchte, | ||||||
28 | die Schuld auf andere schieben zu können, theils und vornehmlich um | ||||||
29 | jenem Wesentlichen (der Herzensänderung), welches viel schwerer ist als | ||||||
30 | Cultus, mit guter Art auszuweichen. | ||||||
31 | Weisheit, als die Idee vom gesetzmäßig=vollkommenen praktischen | ||||||
32 | Gebrauch der Vernunft, ist wohl zu viel von Menschen gefordert; aber | ||||||
33 | auch selbst dem mindesten Grade nach kann sie ein anderer ihm nicht eingießen, | ||||||
34 | sondern er muß sie aus sich selbst herausbringen. Die Vorschrift, | ||||||
35 | dazu zu gelangen, enthält drei dahin führende Maximen: 1) Selbstdenken, | ||||||
36 | 2) sich (in der Mittheilung mit Menschen) an die Stelle des Anderen zu | ||||||
37 | denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. | ||||||
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