Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 450

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 bloße Tugendpflicht, verhältnißweise gegen die Liebespflicht für enge, die      
  02 letztere also als weite Pflicht angesehen.      
           
  03 Die Pflicht der Nächstenliebe kann also auch so ausgedrückt werden:      
  04 sie ist die Pflicht Anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich      
  05 sind) zu den meinen zu machen; die Pflicht der Achtung meines Nächsten      
  06 ist in der Maxime enthalten, keinen anderen Menschen blos als Mittel      
  07 zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der Andere solle      
  08 sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu fröhnen).      
           
  09 Dadurch, daß ich die erstere Pflicht gegen jemand ausübe, verpflichte      
  10 ich zugleich einen Anderen; ich mache mich um ihn verdient. Durch die      
  11 Beobachtung der letzteren aber verpflichte ich blos mich selbst, halte mich      
  12 in meinen Schranken, um den Anderen an dem Werthe, den er als      
  13 Mensch in sich selbst zu setzen befugt ist, nichts zu entziehen.      
           
  14
Von der Liebespflicht insbesondere.
     
  15
§ 26.
     
           
  16 Die Menschenliebe (Philanthropie) muß, weil sie hier als praktisch,      
  17 mithin nicht als Liebe des Wohlgefallens an Menschen gedacht wird, im      
  18 thätigen Wohlwollen gesetzt werden und betrifft also die Maxime der      
  19 Handlungen. - Der, welcher am Wohlsein ( salus ) der Menschen, so fern      
  20 er sie blos als solche betrachtet, Vergnügen findet, dem wohl ist, wenn es      
  21 jedem Anderen wohlergeht, heißt ein Menschenfreund (Philanthrop)      
  22 überhaupt. Der, welchem nur wohl ist, wenn es Anderen Übel ergeht,      
  23 heißt Menschenfeind (Misanthrop in praktischem Sinne). Der, welchem      
  24 es gleichgültig ist, wie es Anderen ergehen mag, wenn es ihm selbst      
  25 nur wohl geht, ist ein Selbstsüchtiger ( solipsista ). - Derjenige aber,      
  26 welcher Menschen flieht, weil er kein Wohlgefallen an ihnen finden      
  27 kann, ob er zwar allen wohl will, würde menschenscheu (ästhetischer      
  28 Misanthrop) und seine Abkehr von Menschen Anthropophobie genannt      
  29 werden können.      
           
  30
§ 27.
     
           
  31 Die Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe) ist aller      
  32 Menschen Pflicht gegen einander, man mag diese nun liebenswürdig finden      
  33 oder nicht, nach dem ethischen Gesetz der Vollkommenheit: Liebe deinen      
  34 Nebenmenschen als dich selbst. - Denn alles moralisch=praktische Verhältniß      
           
     

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