Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 308

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. 2) Daß,      
  02 da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Producte zugleich Muster,      
  03 d. i. exemplarisch, sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung      
  04 entsprungen, anderen doch dazu, d. i. zum Richtmaße oder Regel der Beurtheilung,      
  05 dienen müssen. 3) Daß es, wie es sein Product zu Stande      
  06 bringe, selbst nicht beschreiben, oder wissenschaftlich anzeigen könne, sondern      
  07 daß es als Natur die Regel gebe; und daher der Urheber eines Products,      
  08 welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die      
  09 Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen      
  10 nach Belieben oder planmäßig auszudenken und anderen in solchen Vorschriften      
  11 mitzutheilen, die sie in Stand setzen, gleichmäßige Producte hervorzubringen.      
  12 (Daher denn auch vermuthlich das Wort Genie von genius ,      
  13 dem eigenthümlichen, einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen,      
  14 schützenden und leitenden Geist, von dessen Eingebung jene originale Ideen      
  15 herrührten, abgeleitet ist.) 4) Daß die Natur durch das Genie nicht der      
  16 Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vorschreibe und auch dieses nur,      
  17 in sofern diese letztere schöne Kunst sein soll.      
           
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§ 47.

     
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Erläuterung und Bestätigung obiger Erklärung vom Genie.

     
           
  20 Darin ist jedermann einig, daß Genie dem Nachahmungsgeiste      
  21 gänzlich entgegen zu setzen sei. Da nun Lernen nichts als Nachahmen ist,      
  22 so kann die größte Fähigkeit, Gelehrigkeit (Capacität) als Gelehrigkeit,      
  23 doch nicht für Genie gelten. Wenn man aber auch selbst denkt oder dichtet      
  24 und nicht bloß, was andere gedacht haben, auffaßt, ja sogar für Kunst      
  25 und Wissenschaft manches erfindet: so ist doch dieses auch noch nicht der      
  26 rechte Grund, um einen solchen (oftmals großen) Kopf (im Gegensatze      
  27 mit dem, welcher, weil er niemals etwas mehr als bloß lernen und nachahmen      
  28 kann, ein Pinsel heißt) ein Genie zu nennen: weil eben das auch      
  29 hätte können gelernt werden, also doch auf dem natürlichen Wege des      
  30 Forschens und Nachdenkens nach Regeln liegt und von dem, was durch      
  31 Fleiß vermittelst der Nachahmung erworben werden kann, nicht specifisch      
  32 unterschieden ist. So kann man alles, was Newton in seinem unsterblichen      
  33 Werke der Principien der Naturphilosophie, so ein großer Kopf auch      
  34 erforderlich war, dergleichen zu erfinden, vorgetragen hat, gar wohl lernen;      
  35 aber man kann nicht geistreich dichten lernen, so ausführlich auch      
           
     

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