Kant: AA II, M. Immanuel Kants Nachricht ... , Seite 305

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Alle Unterweisung der Jugend hat dieses Beschwerliche an sich, daß      
  02 man genöthigt ist, mit der Einsicht den Jahren vorzueilen, und, ohne die      
  03 Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse ertheilen soll, die      
  04 nach der natürlichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten      
  05 Vernunft könnten begriffen werden. Daher entspringen die ewige Vorurtheile      
  06 der Schulen, welche hartnäckichter und öfters abgeschmackter sind      
  07 als die gemeinen, und die frühkluge Geschwätzigkeit junger Denker, die      
  08 blinder ist als irgend ein anderer Eigendünkel und unheilbarer als die      
  09 Unwissenheit. Gleichwohl ist diese Beschwerlichkeit nicht gänzlich zu vermeiden,      
  10 weil in dem Zeitalter einer sehr ausgeschmückten bürgerlichen      
  11 Verfassung die feinere Einsichten zu den Mitteln des Fortkommens gehören      
  12 und Bedürfnisse werden, die ihrer Natur nach eigentlich nur zur      
  13 Zierde des Lebens und gleichsam zum Entbehrlich=Schönen desselben gezählt      
  14 werden sollten. Indessen ist es möglich, den öffentlichen Unterricht      
  15 auch in diesem Stücke nach der Natur mehr zu bequemen, wo nicht mit      
  16 ihr gänzlich einstimmig zu machen. Denn da der natürliche Fortschritt      
  17 der menschlichen Erkenntniß dieser ist, daß sich zuerst der Verstand ausbildet,      
  18 indem er durch Erfahrung zu anschauenden Urtheilen und durch      
  19 diese zu Begriffen gelangt, daß darauf diese Begriffe in Verhältniß mit      
  20 ihren Gründen und Folgen durch Vernunft und endlich in einem wohlgeordneten      
  21 Ganzen vermittelst der Wissenschaft erkannt werden, so wird      
  22 die Unterweisung eben denselben Weg zu nehmen haben. Von einem      
  23 Lehrer wird also erwartet, daß er an seinem Zuhörer erstlich den verständigen,      
  24 dann den vernünftigen Mann und endlich den Gelehrten      
  25 bilde. Ein solches Verfahren hat den Vortheil, daß, wenn der Lehrling      
  26 gleich niemals zu der letzten Stufe gelangen sollte, wie es gemeiniglich      
           
     

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