Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 196 |
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| 01 | alt, als in der Blüthe ihrer Vollkommenheit, oder in dem Verfall ihrer | ||||||
| 02 | Kräfte begriffen, könne angesehen werden. Sie hat uns zwar die Zeit | ||||||
| 03 | ihrer Ausbildung und den Zeitpunkt ihrer Kindheit entdeckt, aber wir | ||||||
| 04 | wissen nicht, welchem von den beiden Endpunkten ihrer Dauer, dem | ||||||
| 05 | Punkte ihres Anfanges oder Unterganges, sie anjetzt näher sei. Es | ||||||
| 06 | scheint in der That ein der Untersuchung würdiger Vorwurf zu sein, | ||||||
| 07 | zu bestimmen, ob die Erde veralte und sich durch eine allmählige Abnahme | ||||||
| 08 | ihrer Kräfte dem Untergange nähere, ob sie jetzt in der Periode | ||||||
| 09 | dieses abnehmenden Alters, oder ob ihre Verfassung annoch im Wohlstande | ||||||
| 10 | sei, oder wohl gar die Vollkommenheit, zu der sie sich entwickeln | ||||||
| 11 | soll, noch nicht völlig erreicht und sie also ihre Kindheit vielleicht noch | ||||||
| 12 | nicht überschritten habe. | ||||||
| 13 | Wenn wir die Klagen bejahrter Leute hören, so vernehmen wir, | ||||||
| 14 | die Natur ältere merklich, und man könne die Schritte verspüren, die | ||||||
| 15 | sie zu ihrem Verfall thue. Die Witterungen, sagen sie, wollen nicht | ||||||
| 16 | so gut wie vormals einschlagen. Die Kräfte der Natur sind erschöpft, | ||||||
| 17 | ihre Schönheit und Richtigkeit nimmt ab. Die Menschen werden | ||||||
| 18 | weder so stark noch so alt mehr als vormals. Diese Abnahme, | ||||||
| 19 | heißt es, ist nicht allein bei der natürlichen Verfassung der Erde zu | ||||||
| 20 | bemerken, sie erstreckt sich auch bis auf die sittliche Beschaffenheit. Die | ||||||
| 21 | alte Tugenden sind erloschen, an deren statt finden sich neue Laster. | ||||||
| 22 | Falschheit und Betrug haben die Stelle der alten Redlichkeit eingenommen. | ||||||
| 23 | Dieser Wahn, welcher nicht verdient widerlegt zu werden, | ||||||
| 24 | ist nicht sowohl eine Folge des Irrthums als der Eigenliebe. Die | ||||||
| 25 | ehrliche Greise, welche so eitel sind, sich zu überreden, der Himmel | ||||||
| 26 | habe die Sorgfalt für sie gehabt sie in den blühendsten Zeiten an das | ||||||
| 27 | Licht zu stellen, können sich nicht überreden, daß es nach ihrem Tode | ||||||
| 28 | noch eben so gut in der Welt hergehen solle, als es zuging, ehe sie geboren | ||||||
| 29 | waren. Sie möchten sich gerne einbilden, die Natur veralte zugleich | ||||||
| 30 | mit ihnen, damit es sie nicht reuen dürfe eine Welt zu verlassen, | ||||||
| 31 | die schon selber ihrem Untergange nahe ist. | ||||||
| 32 | So ungegründet wie diese Einbildung ist, das Alter und Dauerhaftigkeit | ||||||
| 33 | der Natur nach dem Maßstabe eines einzigen Menschenalters | ||||||
| 34 | messen zu wollen, so scheint doch eine andere Vermuthung dem ersten | ||||||
| 35 | Anblicke nach nicht eben so ungereimt: daß in einigen tausend Jahren | ||||||
| 36 | vielleicht einige Veränderung in der Verfassung des Erdbodens merklich | ||||||
| 37 | werden könne. Es ist hier nicht gnug mit Fontenellen anzumerken, | ||||||
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