Quelle Nummer 500
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.14 : SCIENCE
WOLFGANG JESCHKE
DER ZEITER
(SCIENCE FICTION)
HEYNE-BUCH NR. 3328
001 Diese Geschichte ist alltäglich, alltäglich für eine
002 Zeit, in der In-der-Zeit-Leben langweilig ist wie
003 für uns etwa Eisenbahnfahren. Du löst also ein Ticket und gehst
004 in den Zeiter Er trägt dich über Jahrhunderte, da du
005 noch nicht warst, deine Materie noch ungeordnet, noch Staub der
006 Geschichte. Eine dieser Reisen dauerte nur (...) Zwölf
007 Minuten und einiges mehr. Das Flugfeld dehnte sich dösend in
008 der Sonne. Kiara. Alte Erde, ausgedörrt, geschichtsträchtig.
009 Hitze. Der Staub flimmerte und machte die wenigen Bäume grau.
010 Am Rande hockte der Zeiter und gähnte mit seinen hohen
011 Fenstern in den Nachmittag. Der Wind schlief. Das große
012 Gerät hielt an Fäden Gehirne in den trägen Strom der Zeit,
013 hatte seine Fühler ausgestreckt, schwebte über Abgründen der
014 Vergangenheit, über Schluchten und Untiefen, toten Wassern,
015 wachte, dünne Planken im Ungefähr. Doch kein Fuß suchte
016 Tritt, keine Hand suchte Halt, nur Lähmung, Schlaf und
017 matter Reflex. Ein Gespinst von Silberelektroden im grauen
018 Gewölk der Großhirnrinde, eine Hand, die dir behutsam durch
019 die Stirn greift, dich hält; winzige Energiefäden, Muster,
020 schwerelos in den Schädel gelagert, tragen dein Ich über
021 Schaltstellen und Verstärkerlemente in die große Dunkelheit der
022 Korridore, in denen die Zeit rinnt. Das Flugfeld dehnte sich
023 dösend in der Sonne, das Flugfeld von Kiara, am Rande der
024 uralten, verlassenen Stadt zwischen Wüste und längst versiegtem
025 Strom. Hitze. Ich habe einen Untermieter. Nun werden Sie
026 sagen, das sei nichts Besonderes, und Sie haben recht. Viele
027 haben Untermieter, sympathische oder unangenehme, die ständig
028 Ärger machen, aber Sie werden sehen, meiner ist doch etwas
029 Besonderes. Wir bewohnen nämlich beide dasselbe Zimmer, doch
030 - ich habe ihn noch nie gesehen oder gehört. Ich meine, richtig
031 gehört. Ein überaus angenehmer Mieter, werden Sie jetzt sagen,
032 aber langsam, langsam! Hören Sie weiter zu. Ich muß Ihnen
033 versichern, ich glaube nicht an Gespenster, bin auch sonst nicht
034 furchtsam, aber mir ist die Sache doch ein bißchen unheimlich.
035 Deshalb erzähle ich Ihnen auch von der Geschichte. Mir wäre
036 nie im Traum eingefallen, Sie zu belästigen, aber ich möchte
037 doch wissen, ob es anderen ähnlich geht wie mir. Lachen Sie
038 nicht, ich habe meine Gründe für diese Annahme. Ich habe also
039 einen Untermieter, den ich noch nie gesehen habe oder gehört,
040 richtig gehört. Nur nachts. Nachts höre ich ihn manchmal. Er
041 spricht sehr leise, fast unhörbar, obwohl seine Stimme direkt in
042 meinem Gehirn ist und ich die Ohren dabei zuhalten kann, ja oft
043 zuhalten muß, um mich ganz auf seine Stimme zu konzentrieren.
044 Stimme ist schon zuviel gesagt. Es ist ein unbestimmtes Flüstern,
045 Zischeln und Raunen. Ich habe große Mühe, ihn zu verstehen,
046 muß oft rückfragen oder gar unser Gespräch abbrechen,
047 aufstehen und mich erfrischen. Manchmal bin ich zu müde oder zu
048 unkonzentriert, dann flehe ich ihn an, das Gespräch zu
049 verschieben. Er willigt ein, ist nie ungehalten, denn er hat
050 Zeit, viel Zeit, mehr als Sie und ich uns vorstellen können.
051 Vieles von dem, was er erzählt, verstehe ich nicht, erscheint
052 mir wirr und ungereimt, aber ich will es so wiedergeben, wie ich
053 glaube, es wiederholt gehört zu haben. Er sagt, er sei im
054 Zeiter. Das scheint eine Maschine zu sein, ein Fahrzeug
055 oder so etwas Ähnliches, zugleich aber ein Tor, durch das man
056 einreisen und ausreisen kann. Von diesem Ding wurde er
057 aus der Zukunft weit in die Vergangenheit transportiert, dort
058 scheint er aber den Anschluß verpaßt zu haben, nun muß er warten.
059 Er sagt, er sei uralt und doch nicht geboren, er sei noch nicht
060 eigentlich, doch er sei unter uns und überall, sei Sie und ich,
061 Asche und Blatt, Meer und Staub, Sterne und Licht, noch
062 ungeordnet. Er sagt, ich sei ein Telepath, außergewöhnlich,
063 das sei selten, da habe man Glück, habe Gesellschaft. Ich
064 weiß nicht, ob ich ein Telepath bin, woher sollte ich auch?
065 Ich habe keine Ahnung, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht.
066 Aber er muß es ja wissen, denn er ist uralt und hat viel gesehen
067 und gehört, obwohl er noch gar nicht geboren ist, ich vielleicht
068 sein Urahn bin mit Ur hoch wer weiß wieviel. Wer will das wissen?
069 Verrückt, was? Er hat mir seine Geschichte erzählt, eine
070 seltsame Geschichte. Nachts, wenn die Stadt still ist und unter
071 ihren Dächern schläft, und der Mond voll ist und leuchtend über
072 den Himmel schwimmt, am Rande des Traums, da kann ich ihn hören.
073 Ich werde mich hüten, meinen Nachbarn von der Sache zu
074 erzählen. Sie würden die Nase rümpfen, mich heimlich auslachen,
075 weil sie es nicht verstehen. Wie sollten sie auch? Sie würden
076 mich vielleicht sogar für verrückt halten und mit dem Finger auf
077 mich zeigen, mir gar Schwierigkeiten machen. Aber Sie kenne ich
078 nicht, und wenn Sie lachen, so tun Sie es eben, es tut mir nicht
079 weh, und mit dem Finger auf mich zeigen können Sie nicht, weil
080 Sie nicht wissen, wie ich heiße, und wo ich wohne. Aber
081 vielleicht ist Ihre Reaktion ganz anders, Sie lachen nicht,
082 atmen erleichtert auf, haben nun endlich die Gewißheit, daß es
083 Ihnen nicht allein so geht und kennen meine Geschichte nur zu gut,
084 haben auch einen Untermieter, der Sie erschreckt und der Ihnen
085 leid tut. Oh, ich bin sicher! Es gibt ihrer viele, die warten,
086 bis die erste Maschine erfunden wird, mit der sie in ihre Heimat
087 zurück können, in die Zukunft; auf das Johannesburg-Tor
088 warten sie, wie meiner erzählte. Unser Jahrhundert ist wie ein
089 riesiger, schrecklicher Wartesaal, in dem sie sitzen, unsichtbar,
090 schattenhaft, sich räuspern, manchmal seufzen, eine
091 geflüsterte Unterhaltung versuchen, andere schlafen, nichts
092 interessiert sie mehr, sie haben alles gesehen, viel zu viel. Nun
093 warten sie, bis der erste Zug abgeht, aber es sind noch nicht
094 einmal die Gleise verlegt, auf denen er fahren soll. Schrecklich.
095 Manchmal suchen sie mit uns ins Gespräch zu kommen. Vielleicht
096 hören Sie ihre Stimme. Nachts, wenn die Stadt still geworden
097 ist und der Mond über den Dächern schwimmt, dann hören Sie
098 genau hin. Am Rande des Traums. Vielleicht (...)? Kiara und
099 Hitze. Und vor den hohen Fenstern der Nachmittag auf dem
100 Flugfeld. " Es müßte wieder einmal richtig regnen, Gin.
101 Weißt du, so ein richtiger guter Regen mit Gewitter, der alles
102 naß macht, so richtig naß. " Er sagte gern " richtig ", und
103 war einer der letzten alten Beamten des Zeiters. Er war
104 dick, trug eine sandbraune Uniform und schwitzte stark. Seine
105 Uniform war ausgebleicht, hatte fast die Farbe des Staubs auf den
106 Blättern und dunkle Flecken vom Schweiß. Sein kahler Schädel
107 war rot gebrannt von der Sonne, und das alte Gesicht lachte mit
108 tausend Fältchen. " Gewitter sind hier nicht gestattet, Chef.
109 Elektrische Entladungen in der Atmosphäre wären eine
110 Katastrophe für den Zeiter. Das wissen Sie so gut wie
111 ich, Chef. Das Wetteramt wird in diesem Distrikt nie Gewitter
112 zulassen. " Gin war groß und schlank. Er bewegte sich kraftvoll
113 und geschmeidig und schwitzte nicht. Seine Haut war glatt und
114 seine Stimme etwas farblos. Sein Körper bestand aus Metall und
115 Plastikgewebe. Er war Androide. " Ja, ich weiß, leider.
116 Nur Sonne und wieder Sonne. Sie produzieren kein Lüftchen,
117 diese Scheißkerle, und wenn wir in diesem Kasten verschmachten.
118 Ich wünschte mir, es würde mal regnen, allen Verboten zum
119 Trotz. Wie die dumm schau'n würden. " Er stellte es sich vor
120 und rieb sich vergnügt die Hände. " Richtig regnen, daß alles
121 naß wird. Kannst du dir das vorstellen, Gin, alles so richtig
122 naß? " " Natürlich, Chef, aber mein Organismus reagiert
123 auf Feuchtigkeit weniger erfreut. Meine Vorfahren kommen nicht
124 aus dem Wasser wie die von euch Menschen. " " Ihr
125 Schrotthaufen seid wasserscheu wie die Katzen, ich weiß. Aber
126 ich werde mir heute noch ein Gewitter suchen. Ein richtiges
127 Gewitter, mit Sturm und Regen. Reich mir die Wetterkarte. "
128 " Ja, Chef. " Ein Schiff tropfte auf das Flugfeld, und der
129 Lautsprecher schreckte den Nachmittag auf. Er floh in die Wüste,
130 und die große Stimme schepperte ihm nach bis an den Rand der
131 Piste, wo die Lagerhäuser stehen, und kehrte zurück, um sich
132 zu verlieren. Die Hitze blieb. " Zwanzig Minuten Aufenthalt
133 in Kiara, dann Wega, Aldebaran, Berenice, weiter (...) Das
134 Restaurant schaukelte wispernd auf den Platz und ließ sich nieder.
135 Es strahlte Frische aus und war bunt. Gäste kamen und setzten
136 sich an die Tische, einer trat aus dem Schatten und ging quer
137 über den Platz zum Zeiter hinüber. Der Kunde trug sein
138 Haar lang und war hager. Er sah dunkel aus, fremd und wie von
139 weit her. Er stellte eine große Reisetasche auf den Schalter. "
140 Eine Reise, bitte. " Er sagte es leise, fast schüchtern,
141 wie ein Junge, der etwas Großes kaufen will. Seine Sprache war
142 auch von weit her, wie sein Gesicht. " Wohin, bitte? " sagte
143 Gin und stanzte die Leitkarte. " 17 346 vor Zahatopolk, bitte
144 ", sagte der Fremde und sah seine staubigen Schuhe an. Sein
145 Haar war pechschwarz und dicht, und er war noch jung, höchstens
146 200 Jahre. Der Mann mit dem Regen sah auf und wischte sich den
147 Schweiß von der Stirn, dann sagte er: " In diesem Gebiet
148 haben wir bis zu zwei Jahren Streuung. Dort haben wir auch noch
149 keine Körper zur Verfügung, müssen Sie wissen, ich meine,
150 richtige Körper, oder (...) ", der Beamte lächelte, " (...) sind
151 Sie Esper? " fragte er. Der Fremde hob die Schultern und
152 machte eine unbestimmte Geste. " Ich mache Sie darauf aufmerksam,
153 daß die Rückreise erst ab etwa 15 300 vor Zah möglich ist.
154 Sie haben also eine lange Wartezeit. Ist Ihnen klar, was das
155 heißt? Werden Sie es durchhalten? " Der Beamte schien
156 besorgt. " Ich weiß Bescheid ", sagte der Fremde. " Ich
157 bin vorbereitet. Ein Auftrag, wissen Sie. Ich muß dort (...)
158 Er brach ab, als habe er schon zuviel gesagt, und zählte die
159 Kredite auf den Schaltertisch. " Gut, dann hören Sie mir zu ",
160 sagte der Beamte und wies auf die riesige Zeittafel hinter
161 sich. " Wir befinden uns hier. " Sein Finger fuhr die mit
162 Hunderten von farbigen Markierungen und Zahlen bedeckte Zeitlinie
163 weit zurück, wo die Zeichen immer spärlicher wurden, und noch
164 weiter. " Sie landen hier. " Er ließ eine kleine blaue
165 Scheibe auf einen Punkt der Zeitlinie klicken, wo sie haften
166 blieb. Gin stanzte die Position in die Leitkarte. " Von hier
167 an müssen wir Sie treiben lassen. Sie müssen etwa 3000 Jahre
168 auf den Retrozeitpunkt warten. " Der Beamte fuhr die Zeitlinie
169 wieder nach vorn. " Hier (...) ", er klopfte mit dem Finger auf
170 eine grüne Marke, " (...) 15 370 vor Zah wird der Zeiter
171 erfunden, aber erst 70 Jahre später sind die ersten Tore nach
172 oben geöffnet für Reisende aus unserem Zeitgebiet. Ich empfehle
173 Ihnen das Johannesburg-Tor, der erste wirklich brauchbare
174 Zeiter sehr präzis für die technischen Möglichkeiten jener
175 Zeit, geöffnet ab 15 275. Sehr zuverlässig. Archäologen und
176 Historiker nehmen Johannesburg. Wir haben da noch nie Ärger
177 gehabt. Von dort holen wir Sie sicher zurück. Finden Sie sich
178 dort nicht ein, dann müssen wir Sie suchen. Darüber können
179 noch ein paar Jahrhunderte vergehen. Es ist also in Ihrem
180 Interesse, wenn Sie pünktlich sind. Wir sind es zu jeder Zeit.
181 Sie wissen also Bescheid. " " Ja, danke. Es ist gut so.
182 Ich werde da sein. " " Danke. " " Dann wünsche ich Ihnen
183 gute Zeit. " " Keine Ursache. Stets zu Ihren Diensten.
184 Gin, begleite den Herrn zu Kabine 13. " " Hier entlang,
185 bitte. " Gin ging voraus. Der Fremde hob die Augen zu dem
186 hohen Wabenwerk der Reisekabinen. Die Plattform schwebte nach
187 oben. Die Zellentür seufzte und klappte zu. Gin blies ihm Gas
188 ins Gesicht und beobachtete ihn durch das Glas. Der Fremde sah
189 das Gesicht des Androiden verschwimmen und begann zu schweben.
190 Der Zeiter griff zu. Als die Elektroden tastend in sein
191 Gehirn drangen, war es wie die langen Finger einer zärtlichen
192 Hand im Haar. Er begann zu fliegen. Es wurde dunkel und kalt
193 und immer schneller. Korridore der Zeit. Nur der leichte Griff
194 der Hand im Haar hielt ihn in der Dunkelheit, hielt ihn, damit
195 er nicht falle und verlorenginge. Er flog weiter und weiter über
196 Ebenen aus Asche und Nacht, dorthin, wo sein Körper noch
197 Staub war und Blatt und Blume und Tier, du und ich. Sterne und
198 Licht und alles zugleich, ungeordnet. Er lag ohnmächtig
199 zurückgelehnt in der Zelle, während der irisierende Punkt im
200 Zentrum, der sein Ich war, ist, sein wird, über Relais und
201 Verzweigungen durch elektronische Muster jagte, die es
202 überlagerten und verstärkten, flog und flog über Ebenen von
203 Asche und Nacht. Schlaf und matter Reflex. Kiara und Hitze.
204 " Gin, schau dir das an. Hast du schon einmal Bücher gesehen,
205 richtige Bücher? " Er griff in die große abgeschabte
206 Reisetasche, die der Fremde auf dem Schaltertisch hatte
207 stehenlassen. " Richtige Bücher, sicher uralt ". Behutsam
208 hob er eins hoch und schnupperte daran. " Sie riechen nach
209 Ichweißnichtwas. " Er blätterte darin, aber die Zeichen waren
210 ihm unbekannt. Er schüttelte den Kopf. " Ein seltsamer Mensch,
211 Gin. So fremd wie seine Bücher. " " Menschen sind alle
212 seltsam ", meinte Gin einsilbig und verfolgte den Lichtpunkt auf
213 der Zeitlinie. " Meinst du? " Der Nachmittag hatte sich
214 wieder auf das Flugfeld gewagt und strich neugierig um das fremde
215 Schiff und die offenen schattigen Tische des Restaurants. Der
216 Lichtpunkt auf der Zeitlinie war im Zielgebiet erloschen. Gin
217 drehte sich plötzlich um. " Chef, ich hab's. " " Was hast du? "
218 " Ich bin dem Datum nachgegangen, es kam mir irgendwie
219 bekannt vor. Jetzt habe ich's. " " Na, was denn? " " 17
220 346 war der Beginn einer alten Zeitrechnung dieses Planeten, die
221 an ein kulturelles oder religiöses Ereignis anknüpfte. " " Na
222 und? Um so mehr ein Grund für Historiker oder Soziologen,
223 sich dort umzusehen. Vielleicht ist er Raumfahrthistoriker, das
224 ist doch jetzt große Mode. " " Meines Wissens gibt es in jenen
225 Jahrhunderten noch keine Raumfahrt. " " Na ja, irgend etwas
226 wird er schon wollen. Es geht uns ja auch nichts an. Aber ohne
227 Grund wird er wohl kaum 3000 Jahre Wartezeit in Kauf nehmen.
228 Das ist kein Vergnügen, das kann ich dir versichern, Gin.
229 Für mich wäre das nichts mehr, obwohl ich schon einiges erlebt
230 habe entlang der Zeitlinie. "
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