Quelle Nummer 498

Rubrik 23 : BOTANIK   Unterrubrik 23.00 : BOTANIK

PFLANZENSTATIK
WERNER NACHTIGALL
BIOTECHNIK. STATISCHE KONSTRUKTIONEN IN DER NATUR
UTB QUELLE UND MEYER VERLAG HEIDELBERG 1971, S. 95-


001  Materialökonomie durch Wahl günstiger
002  Querschnittsformen. Demgemäß findet man bandförmige
003  Versteifungen in Natur und Technik nur bei rein zugbeanspruchten
004  Systemen, die nicht biegestabil zu sein brauchen. In allen
005  anderen Fällen sind materialsparende Anordnungen üblich - zum
006  Beispiel nach Art eines Doppel-T-Trägers oder eines
007  Hohlträgers -, die gegen Beanspruchungen in verschiedenen
008  Ebenen mehr oder weniger biegestabil sind. Sie sind dann optimal
009  angeordnet, wenn ihre biegestabilste Querschnittsachse in der
010  Ebene der Hauptbiegebeanspruchung liegt. Beispiel 32:
011  Querschnitte pflanzlicher Trägerelemente und ihre Lage zur
012  Hauptbeanspruchungsrichtung. Bei Blättern verläuft im
013  allgemeinen die Hauptbiegungsebene senkrecht zur Blattspreite und
014  parallel zur Blattlängsachse. Bei vierkantigen Stengeln läuft
015  sie parallel zu einer Randfläche, bei homogenen drehrunden
016  Stengeln ist sie längsachsenparallel und kann nach verschiedenen
017  Radien ausgerichtet sein. Die Abb. 33 zeigt Umrißskizzen
018  quergeschnittener pflanzlicher Stützgewebebündel, in denen die
019  Durchstoßlinien der Hauptbiegungsebenen eingetragen sind. Im
020  Vergleich mit den vorhergehenden Abschnitten erkennt man unschwer,
021  daß diese Bündel in der gegebenen Orientierung (x-Achse
022  senkrecht zur Hauptbiegungsebene) maximale axiale
023  Trägheitsmomente aufweisen. Sie besitzen günstige
024  Querschnittsformen und haben die Querschnitte bestmöglich
025  orientiert. Biotechnisch gesprochen sind es angenähert O
026  Träger, UTräger, LTräger, T
027  Träger oder Doppel-T-Träger. Selten findet sich
028  in einem architektonischen System ein Versteifungsträger alleine.
029  Meist durchziehen mehrere ein biegebelastetes Bauwerk, etwa einen
030  Fernsehturm oder einen Pflanzenstengel. Auf einem Querschnitt
031  des Bauwerks bilden sie dann ein bestimmtes, meist reguläres
032  Muster. Das Muster ist dann besonders günstig, wenn
033  Beanspruchungen eines Elements in Richtung seiner
034  biegeempfindlichsten Achse dadurch vermieden werden, daß diese
035  Beanspruchungen auf benachbarte Elemente in Richtung ihrer
036  biegestabilsten Achse wirken und dadurch abgefangen werden.
037  Trägerverbundsysteme. Wenn nebeneinanderliegende Träger mit
038  aneinander stoßenden Kanten verschmelzen, kommen
039  Trägerverbundsysteme zustande. Sie zeichnen sich durch besonders
040  hohe Stabilität gegen Biegung und Knickung aus. Die im
041  Querschnitt oft hantelförmigen bis i-förmigen
042  Träger der Pflanzen verschmelzen vielfach an den Rändern, so
043  daß im Grenzfall zwei Platten entstehen, die durch
044  Parallelreihen von Zwischenleisten auf Abstand gehalten werden.
045  In Abbildung 34 sind einige dieser Systeme dargestellt. Die
046  Platten liegen entweder angenähert parallel wie bei Blättern,
047  oder konzentrisch wie bei manchen Stengeln. Sie bilden einzelne,
048  getrennte, größere Komplexe, oder sie umfassen geschlossen den
049  gesamten Organquerschnitt. Für die außerordentliche
050  Biegefestigkeit, die diese mechanischen Verbundsysteme etwa einem
051  Grashalm verleihen, ist der Stengel von Molinia coerulea ein
052  gutes Beispiel. Dieses " Pfeifengras " wurde früher zum
053  Durchstoßen verstopfter Pfeifenröhren verwendet. Beispiel
054  33: Blätter. Bei abstehenden und schräg hängenden
055  Blättern ist die Oberseite die Zugseite, die Unterseite die
056  Druckseite. In Brückenkonstruktionen sind die Zugseiten durch
057  flache Bänder, die Druckseiten durch kastenförmige I
058  Träger oder U-Träger abgesichert. Analog sind die
059  Versteifungssysteme einiger Blätter konstruiert (Holtermann,
060  1909). Beim Mais und bei verschiedenen Savannengräsern liegen
061  auf der zugbelasteten Oberseite breite bandartige Streifen aus nur
062  wenigen Zellenlagen, auf der Unterseite dagegen nach innen
063  vorspringende massive Leisten. In analoger Weise - wenn auch
064  nicht so drastisch unterschiedlich - ist die Blattspreite von
065  Gynerium argenteum gebaut. Auch makroskopisch sind solche
066  biotechnisch günstigen Ausbildungen vielfach verwirklicht. Das
067  Weißholz in der Astoberseite der Fichte (Zugseite) ist doppelt
068  so zugfest wie das Rotholz in der Astunterseite (Druckseite).
069  Dieses ist dagegen durch Ausbildung stark verdickter Elemente
070  druckfester konstruiert. Polares Flächenträgheitsmoment
071  Das axiale oder äquatoriale Flächenträgheitsmoment (Formel) ist
072  auf eine in der betrachteten Ebene liegende Achse x bezogen. Als
073  polares Flächenträgheitsmoment (Formel) einer ebenen Fläche, bezogen
074  auf einen in dieser Ebene liegenden Punkt (Formel), bezeichnet man den
075  analogen Ausdruck (Formel) wobei (Formel) der Abstand des betrachteten
076  Flächenelements (Formel) vom Punkt O ist. Im Falle einer
077  Kreisfläche mit O als Mittelpunkt stellt (Formel) einen Radius dar.
078  Die Fläche (Formel) ist hier als unendlich dünner Kreisring mit dem
079  Umfang (Formel) und der Breite (Formel) aufzufassen; (Formel). Damit wird (Formel)
080  Polare Flächenträgheitsmomente könnten in axiale umgewandelt
081  werden: (Formel). Die Achsen x und y sind zwei aufeinander senkrecht
082  stehende Bezugsachsen; im Fall der Kreisfläche gilt (Formel) wenn x
083  durch O läuft. Damit wird (Formel) wobei (Formel) und (Formel) den äußeren und
084  den inneren Radius des Kreisrings darstellen. Ein Trägersystem
085  mit kreisförmigem Querschnitt wird (in Grenzen) um so
086  biegungsstabiler sein, je höher sein (Formel)-Wert ist.
087  Beispiel 34: Polare Flächenträgheitsmomente von Vollträgern
088  und Hohlträgern kreisförmigen Querschnitts. In Abb. 35
089  sind ein Vollträger und zwei Hohlträger aufgezeichnet; sie
090  besitzen kreisförmigen bzw. kreisringförmigen
091  Querschnitt und konstante Fläche (Formel) und sind in ein homogenes,
092  druckinstabiles und biegungsinstabiles Material
093  eingelassen. Die polaren Flächenträgheitsmomente (Formel) der
094  Träger sind nach den oben angegebenen Formeln berechnet worden.
095  Man erkennt, daß (Formel) größer wird, wenn man das Material so
096  verteilt, daß es möglichst großen Abstand vom Zentrum hat.
097  Optimal ist das Trägermaterial dann angeordnet, wenn es direkt an
098  der Peripherie des zu stützenden Materials liegt. Allerdings
099  darf die Wanddicke des Trägerrings ein gewisses relatives Minimum
100  nicht unterschreiten, wenn das System nicht beulungsunstabil
101  und knickunstabil werden soll. Die hohen Schubspannungen
102  wirken sich dann schon aus, und der Querschnitt könnte bei
103  Beanspruchung bleibend verformt werden. In der Technik betragen
104  die Wanddicken biegungsbeanspruchter Röhren üblicherweise ein
105  Fünftel bis ein Neuntel des Außendurchmessers. Ähnliche
106  Werte werden auch im Pflanzenreich erreicht. Beim Roggenhalm
107  beträgt die Wanddicke, die etwa gleich der Gesamtdicke der
108  tragenden Wand ist, rund ein Zehntel des Halmdurchmessers.
109  Sklerenchymzüge, die einen drehrunden Pflanzenstengel
110  biegungsstabil aussteifen sollen, sind also dann optimal ausgebildet,
111  wenn sie mit geringstem Eigenmaterialaufwand auskommen (zum
112  Beispiel I-Träger) und damit den anderen lebenswichtigen
113  Geweben im Stengel wenig Raumkonkurrenz machen, mit ihrer
114  biegestabilsten Achse radiär stehen, möglichst peripher
115  verlaufen, sich durch seitliches Verwachsen zum Kreisring
116  schließen. Die beiden ersteren Punkte sind oben abgehandelt, die
117  beiden letzteren werden nunmehr besprochen. Periphere
118  Anordnung der Festigungselemente bei Biegungsbeanspruchung.
119  Beispiel 35: Pflanzenstengel und Pflanzen blätter.
120  In Abbildung 35 d-i sind die Stengelquerschnitte einiger
121  Pflanzen abgebildet, die sich durch relativ zum Stengeldurchmesser
122  hohen Wuchs auszeichnen. Es sind unter anderem Gräser,
123  Baumfarne und Schachtelhalme. Die Teilbilder d-g sind -
124  obwohl ungünstig schematisiert - von besonderem Interesse. Sie
125  sind den historischen Vorlesungen Schwendeners über " mechanische
126  Probleme der Botanik " entnommen. Bei den Beispielen d-f
127  bilden die Festigungsstränge mehrminder peripher liegende
128  Kreiszylinder. Zusätzlich finden sich radiär ausgerichtete
129  Sklerenchymstränge, und weiterhin die meist peripher verlagerten
130  Xyleme der Leitbündel als Verstärkungslemente. Beim
131  Schachtelhalm Equisetum telmateya liegt der Ring mechanostabiler
132  Zellen ganz außen. Er besitzt noch zentripetal gerichtete
133  " angeschmolzene " Versteifungsrücken. Für die anderen
134  Schachtelhalme sind getrennt liegende Rippen typisch. Einige
135  Baumfarne besitzen neben einem ganz außen liegenden Ring
136  mechanostabiler Zellen noch kräftige, halbmondförmige Stränge
137  solcher Zellen in der Periphere, die die Leitbündel begleiten
138  und umgeben. Bei Moosen und Farnen ist das Prinzip des
139  peripheren Versteifungsrings ebenfalls vielfältig verwirklicht.
140  Gräser besitzen verschiedenartig geformte biegestabile Elemente.
141  Stark mit Bast begleitete Leitbündel liegen im Mark zerstreut,
142  ordnen sich aber überwiegend peripher zu eng aneinanderliegenden,
143  teils auch miteinander verschmolzenen Säulen an. Die Bambusarten
144  als riesig entwickelte Gräser drängen die stark bewehrten
145  Leitbündel nahezu vollständig an die Peripherie; bei einigen
146  Arten ist das Mark weich und schwammig. Voll ausgebildete
147  Getreidehalme sind reine, biegungsstabile Hohlsäulen. Bei den
148  Palmen verschmelzen die Bastbeläge der Gefäßbündel zu einem
149  massiven Stützzylinder; gegen das Zentrum hin nehmen Zahl und
150  Stärke des Bastbelags der Gefäßbündel rapide ab. Die
151  Kollenchyme krautiger Pflanzen mit vierkantigem Stengel sind als
152  gegenständige Gurtungen oft auf die Ecken konzentriert und bilden
153  dort kantige Ausbuchtungen (Randversteifungen bei der Taubnessel
154  Lamium album). Bisweilen sind auch die peripheren Wände durch
155  mittelständige, längs verlaufende Kollenchymgurtungen versteift.
156  Das zeigt die Abbildung 35 h am Beispiel eines jungen
157  Holundersprosses. Auch sklerenchymatische Gewebestränge sind oft
158  in die äußersten, hervorspringenden Kanten von Stengeln mit
159  polygonen Querschnitten verlagert. Der gemeine Schachtelhalm
160  Equisetum arvense besitzt etwa zehn solcher Rippen in ovaler
161  Querschnittsform. Casuarina equisetifolia besitzt acht solcher
162  Rippen von ankerartiger Querschnittsform, deren Seitflügel
163  insgesamt einen acht Mal unterbrochenen peripheren Kreisring bilden.
164  Biegedynamische Konzeption der pflanzlichen
165  Stützsysteme. Alle Betrachtungen der letzten Kapitel über
166  die Architektur der pflanzlichen Stützgewebe sind rein statische.
167  Die Tragegerüste wurden weiter als Systeme betrachtet, die mit
168  geringstem Materialaufwand möglichst große Biegefestigkeit
169  garantieren. Bei diesen Betrachtungen sind zwei wesentliche
170  Punkte nicht berücksichtigt: Viele Pflanzenstengel und
171  Pflanzen stämme sind einer starken dynamischen Belastung
172  ausgesetzt (Schwingung im Wind mit großer Amplitude). Die
173  Festigungsgewebe verhindern das Schwingen nicht vollständig
174  (nicht ideale Biegesteifigkeit). Festigungsgewebe könnten deshalb
175  so konstruiert sein, daß sie nicht nur ideal statisch festigen
176  (Windstille), sondern auch besonders gut auf die mittlere
177  dynamische Beanspruchung abgestimmt sind. Rasdorsky (1924-
178  1930) hat wahrscheinlich gemacht, daß die letztere Annahme
179  zutrifft. Er hat die Pflanze als dynamisch angepaßte
180  Verbundbaukonstruktion betrachtet, die nicht allein auf " Stehen ",
181  sondern gerade auch auf elastisches " Schwingen " abgestimmt
182  ist (Rasdorsky, 1930 a). Damit finden auch die in Tabelle 1
183  genannten hohen (Formel)-Werte und die vergleichsweise geringen (Formel)
184  -Werte ihre funktionelle Deutung. Eine genaue Besprechung
185  derartiger Aspekte sprengt freilich den Rahmen dieser Einführung.
186  Zentrale Anordnung der Festigungselemente bei reiner
187  Zugbeanspruchung. Die bisher geschilderte Anordnung der
188  Festigungselemente war typisch für Pflanzenteile, die auf Druck
189  und Biegung beansprucht werden und in sich möglichst formstabil
190  bleiben sollen: Stengel, Blätter der meisten höheren Pflanzen.
191  Andere Pflanzenteile werden rein auf Zug oder Zug und Biegung
192  und Torsion beansprucht: Lianen, Tange, mehr oder weniger auch
193  Wurzeln, sowie die Stengel und Blätter fließwasserbewohnender
194  Laichkräuter. Solche Teile kann man mit Seilen vergleichen.
195  Lianen und Tange müssen zugfest, dabei aber in Richtungen
196  senkrecht zur Längsachse leicht beweglich und biegbar, d.h.
197  formlabil sein. Windbewegungen und Wasserbewegungen
198  sollen sie unbedingt nachgeben können, ohne daß die durchlaufenden
199  Leitungsgefäße mechanisch Schaden nehmen. Im Zusammenhang
200  damit besteht die Erfordernis, daß sie in der Längsrichtung
201  mechanisch federn können, d.h. etwas elastisch dehnbar sind.
202  Vor Erreichen einer biologisch gefährlichen spezifischen
203  Dehnung müssen sie dagegen zugfest werden. Damit sind die
204  Belastungen und die technischen Anforderungen ähnlich wie bei
205  Tauen, Drahtseilen und stark zugbeanspruchten mehrlitzigen Kabeln.
206  In einem Seilquerschnitt können nur Zugkräfte, aber keine
207  Druckkräfte und keine Biegemomente übertragen werden.
208  Festigungslemente brauchen deshalb nur auf Zugbeanspruchung
209  ausgerichtet sein. Ein Tau oder Draht ist biegefähig, weil
210  seine einzelnen Festigungselemente (Bastfasern, Einzeldrähte)
211  zunächst selbst biegbar sind und weiterhin nicht gruppenartig
212  oder gar ringartig miteinander verschmolzen sind. Sie können
213  tangential etwas gegeneinander gleiten. Beispiel 36: Lianen
214  Analog bilden die Holzstränge tropischer Lianen keinen
215  verschmolzenen Festigungsgürtel wie etwa beim Grashalm. In der
216  Entwicklung kann der Holzkörper von vornherein vielsträngig
217  angelegt werden (Bignoniaceae, Malpighiaceae) oder er kann
218  einheitlich engelegt und erst bei der Weitereintwicklung in einzelne
219  Holzstränge zerlegt werden, die sich schließlich mit eigenen
220  Peridermen umgeben. Letztlich entstehen Lianenstämme, die
221  Ähnlichkeit mit dicken, geflochtenen Tauen aufweisen. Die
222  Holzkörper sind bandförmig, zerfurcht, zerklüftet oder geteilt.
223  Die tropischen Lianen der Gattungen Serjania und Paullinia
224  (Sapindaceae) bilden mehrere, parallel zueinander laufende
225  Holzkörper aus, die durch Bastzonen gegeneinander abgesetzt sind.
226  Der Sklerenchymring der Rinde ist nicht einheitlich, sondern in
227  eine Vielzahl von Einzelsträngen aufgelöst. Die Zentralachse
228  eines Zylinders erfährt ja bei Biegung keine Längenänderung und
229  ist deshalb weder auf Zug noch auf Druck beansprucht. Bei stark
230  biegungsfähigen Pflanzenteilen sollten deshalb mechanisch besonders
231  gefährdete Systeme, die Gefäße für Wasserleitung
232  und Saftleitung, günstigerweise zentrisch verlaufen. Sie müssen
233  dann durch ein unmittelbar benachbartes System von zugfesten
234  Elementen geschützt werden. Der biegungssteife Sklerenchymring
235  der sonstigen Pflanzenstengel und Pflanzen stämme soll
236  ein möglichst großes Flächenträgheitsmoment haben und deshalb
237  außen liegen. Im hier besprochenen Fall dagegen ist nicht
238  Biegesteifigkeit, sondern Biegungsfähigkeit gefordert. Der
239  Sklerenchymring zugfester Elemente muß nun ein möglichst kleines
240  Flächenträgheitsmoment aufweisen, das heißt möglichst zentral
241  gelagert sein, den Gefäßen unmittelbar ringförmig anliegend oder
242  sternförmig inliegend. Beispiel 37: Pflanzenwurzeln.
243  Besonders schöne Beispiele für diese Festigungssysteme liefern
244  Pflanzenwurzeln. Festigungsringe um die zentralen Leitbündel
245  können gebildet werden von tertiär verstärkten Endodermis-
246  Schichten, Bastbelägen (bei Schmetterlungsblütlern)
247  sklerotisierten Exodermen und Rindenparenchym-Schichten (bei
248  Gräsern und Palmen) und vor allem dadurch, daß das
249  Xylemparenchym verholzt und sich stark vermehrt und verdickt. Es
250  ist auffallend, daß die stark verholzten Peridermiszellen
251  aneinander liegenden und nach außen geöffneten U-Trägern
252  gleichen. Auch Palmenblätter, die im Wind Flatterbewegungen
253  ausführen und daher stark gebogen werden, können als zugfeste aber
254  biegungsfähige Systeme konstruiert sein. Bei der Palme
255  Martinezia finden sich mitten im Blattgewebe zwischen den
256  Gefäßbündeln starke Baststränge, während periphere Rippen
257  vollständig fehlen. Weitere instruktive Beispiele stellen die
258  flutenden Stengel der Fließwasser-Laichkräuter
259  (Potamogeton-Arten) dar. Differenzierte Festigungsgewebe
260  findet man bei der Wasserfeder Hottonia palustris. Sie besitzt
261  zugfeste Unterwasserstengel und biegungsstabile Überwasserstengel.
262  Manche Wurzeln - etwa Stützwurzeln von Mangroven - müssen
263  nicht nur zugfest sodern auch biegungsfest sein. Solche
264  Wurzeln besitzen nicht nur das zentrale Sklerenchymsystem, sondern
265  auch einen peripheren Zylindermantel von Festigungsgewebe.
266  Vielfach treten mehrere solche Festigungsmöglichkeiten kombiniert
267  auf. Der Zentralzylinder der Schwertlilienwurzel (Iris)
268  besitzt stark verfestigte Xylemparenchymzellen und zudem einen
269  kräftigen Abschlußzylinder tertiär verfestigter Endodermiszellen.
270  Knickfestigkeit und Steifigkeit. Wenn ein Stab exakt
271  in Richtung seiner Längsachse auf Druck belastet wird, so knickt
272  er ein, sobald die Belastung einen kritischen Wert überschritten
273  hat. Diese kritische knickende Last ist proportional dem
274  Elastizitätsmodul und dem kleinsten der
275  Hauptflächenträgheitsmomente der Querschnitte, sowie umgekehrt
276  proportional dem Quadrat der Stablänge. Betrachtungen dieser
277  Art sind mehrfach auf botanische (Roggenhalm mit Ähre) und auf
278  zoologische Objekte (Röhrenknochen) angewandt worden. Es ist
279  aber als sicher anzunehmen, daß diese Analogisierung technisch
280  nicht relevant ist. Vorausgesetzt ist nämlich, daß der
281  betrachtete Stab vollständig homogen ist, daß alle seine
282  " Fasern " exakt gerade sind. Die Last muß ohne die geringste
283  Abweichung in Längsachsenrichtung wirken. Diese Bedingungen
284  sind selbst bei technischen Knickversuchen nur sehr schwierig
285  einzuhalten. Die geringste Abweichung induziert Biegespannungen,
286  die den Wert der kritischen Last weit überschreiten können.
287  Weder der morphologischen Ausbildung noch der Art der Belastung
288  nach sind biologische Objekte rein knickbeansprucht. Die relevante
289  Beanspruchung bei selbsttragenden biologischen Stützsystemen ist
290  die Biegebeanspruchung. Seiner Bedeutung entsprechend wurde
291  dieser Begriff ausführlich abgehandelt. Bezüglich der
292  Knickfestigkeit dagegen führt ein Vergleich von Biologie und
293  Technik nicht zu einem besseren Verständnis der biologischen
294  Konstruktion. Lediglich bei der Diskussion des
295  Schlankheitsgrades haben sich solche Betrachtungen als wertvoll
296  erwiesen. Ähnliches gilt für den Begriff " Steifigkeit ".
297  Man versteht darunter die Durchbiegung eines Bauwerks unter
298  Belastung, bezogen auf eine charakteristische Länge, im
299  Brückenbau oft auf die Stützweite der Träger. Die Baustatik
300  fordert aus Gründen der Verträglichkeit für die Benutzer extrem
301  hohe Steifigkeit, das heißt extrem geringe Durchbiegungen und
302  damit geringe Schwingungsamplituden. Die Pflanze dagegen ist mit
303  ihrer geringen Steifigkeit, ihren großen Schwingungsamplituden
304  und ihren großen elastischen Rückstellmomenten in diesem Punkt
305  den Gebilden der Bautechnik nicht analog zu setzen.

Zum Anfang dieser Seite