Quelle Nummer 487
Rubrik 25 : ANTHROPOLOGIE Unterrubrik 25.00 : ANTHROPOLOGIE
SCHULBUCH: DER MENSCH
DIETER BLUME U.A.
DER MENSCH
AUSGABE A/B
LEHRSYSTEM MENSCHENKUNDE
ERNST KLETT VERLAG STUTTGART 1971, S. 5-
001 Mensch und Menschenaffen. Wir haben bisher im
002 Biologieunterricht eine Fülle von Lebewesen kennengelernt, in
003 der Hauptsache Pflanzen und Tiere. Gelegentlich ist auch der
004 Mensch besprochen worden. Wir wissen bereits, daß er die
005 gleichen Organe besitzt wie die Säugetiere: Knochen, Sehnen,
006 Muskeln, ein Herz, Verdauungsorgane, Sinnesorgane usw.
007 Sein Körper ist also ähnlich aufgebaut wie der der Säugetiere.
008 Trotzdem meinen wir, daß der Mensch sich von den Tieren
009 grundlegend unterscheidet. Aber darüber können wir noch keine
010 näheren Angaben machen. Wir müssen zuvor alle Teile des
011 menschlichen Körpers und ihr Zusammenwirken sorgfältig
012 untersuchen. Darin besteht die erste Aufgabe dieses Buches.
013 Die Frage nach der Sonderstellung des Menschen. Eine zweite
014 Aufgabe ist mit dieser ersten eng verbunden. Wir wollen
015 untersuchen, ob sich am Körper des Menschen irgendwelche
016 Besonderheiten zeigen, die sich bei den Tieren nicht finden.
017 Auch wenn uns diese Besonderheiten zunächst geringfügig
018 erscheinen mögen, müssen wir alle genau beobachten und
019 zusammentragen. Wir wissen bereits aus unserer täglichen
020 Erfahrung, daß der Mensch einige geistige Fähigkeiten besitzt,
021 die sich bei Tieren nicht finden. Er kann lesen, schreiben,
022 rechnen, sprechen, denken. Mit diesem Wissen wollen wir uns
023 nicht begnügen, sondern wir wollen fragen, ob diese geistigen
024 Fähigkeiten des Menschen mit seinen körperlichen Besonderheiten
025 im Zusammenhang stehen. Diese Frage ist die eigentliche Frage
026 nach der Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen. Die
027 dritte Aufgabe dieses Buches besteht darin, eine Antwort auf sie
028 zu suchen. Deshalb wird sie uns in allen Abschnitten beschäftigen.
029 Der Mensch und seine nächsten Verwandten. Wenn ein
030 Biologe den Aufbau eines Lebewesens erfassen will, vergleicht er
031 es mit den Lebewesen, die ihm am meisten ähnlich sehen, also mit
032 verwandten Lebewesen. Wenn er z.B. die Eigenart der
033 Gartenrose beschreiben will, vergleicht er sie etwa mit der
034 Heckenrose. Dann werden zugleich mit den Gemeinsamkeiten die
035 Unterschiede deutlich. Genauso wollen wir auch beim Menschen
036 verfahren. Wir wollen ihn mit den Lebewesen vergleichen, die ihm
037 am meisten in ihrer Körperlichkeit ähnlich sehen. Das sind die
038 Menschenaffen, zu denen heute Schimpanse, Gorilla und
039 Orang-Utan gezählt werden. Die Menschen,
040 Menschenaffen, Affen und Halbaffen (Lemuren)
041 bilden die Ordnung der Primaten (Herrentiere). Alle
042 Primaten haben Greifhände und nach vorn gerichtete Augen. Sie
043 benutzen ihre vorderen Gliedmaßen nicht nur zur Fortbewegung,
044 sondern führen mit ihnen auch die Nahrung zum Mund. Während sie
045 fressen, können sie ihre Umgebung weiter beobachten, sie brauchen
046 ihren Kopf ja nicht immer wieder zur Nahrung herunter zu beugen.
047 Da ihre Augen nicht seitlich am Kopf, sondern an dessen
048 Vorderseite sind, entsteht zwischen ihren Augen kein toter Winkel.
049 Sie können also nicht nur Gegenstände greifen, sondern auch
050 sehen, was sie greifen. Die Größenverhältnisse der
051 Körperteile und die Form des Körpers sind bei den Primaten
052 recht verschieden. Die einfachsten Primaten, die
053 Spitzhörnchen, haben eher das Aussehen eines Nagetieres,
054 etwa einer Ratte. Die Beine sind kurz, der Schwanz ist lang,
055 der Kopf geht unmittelbar in den Rumpf über. Bei den
056 Lemuren sind die Beine länger und der Kopf ist bereits vom
057 Rumpf etwas abgesetzt. Die Affen haben so lange Beine,
058 daß ihr Rumpf ein ganzes Stück vom Boden abgehoben ist. Ihr
059 Kopf erinnert mehr an den eines Menschen als an den eines
060 Nagetieres. Die bisher genannten Primaten sind fast sämtlich
061 Baumbewohner und bewegen sich springend und hangelnd durch das
062 Gezweig. Nur bestimmte Affen, z.B. die Paviane, leben
063 vorwiegend auf dem Boden, wobei sie auf allen Vieren gehen. Auch
064 die Menschenaffen gehen auf allen Vieren. Dabei stützen
065 sie die vorderen Gliedmaßen auf die Rückseite der Hände. Die
066 Wirbelsäule bildet gewissermaßen eine Brücke zwischen dem
067 Beckengürtel und dem Schultergürtel. Beim Sprung wird das
068 Gewicht des Körpers durch Gelenkbewegungen in den Gliedmaßen
069 abgefangen. Der Kopf wird durch starke Nackenmuskeln in seiner
070 Lage gehalten. Zeitweise können Menschenaffen auch aufrecht
071 gehen. Dabei wirken sie aber immer noch ein wenig gekrümmt. Die
072 Füße setzen sie nicht mit der ganzen Sohle auf, sondern rollen
073 sie über die äußere Kante der Sohle ab. Diese Erscheinung ist
074 bei Schimpansen und Orang ausgeprägt, der Gorilla hat sich am
075 weitesten zum Sohlengänger entwickelt. Die aufrechte Haltung,
076 eine Besonderheit des Menschen.. Nur der Mensch hält sich
077 natürlicherweise und dauernd aufrecht. Die Hände dienen nicht
078 mehr der Fortbewegung, sondern sind frei für andere Aufgaben.
079 Die Wirbelsäule ist mehr auf die Rumpfmitte zugerückt und bildet
080 einen federnden, doppelt gebogenen Stab. Sie fängt beim Sprung
081 Stöße des Körpers auf und überträgt das gesamte Gewicht von
082 Rumpf und Kopf auf die Beine. Der Kopf wird von ihr unterhalb
083 seines Schwerpunktes unterstützt. Die Nackenmuskeln sind
084 geringer ausgebildet als bei den Menschenaffen. Der Brustkorb des
085 Menschen ist im Unterschied zu dem der Menschenaffen breiter als
086 tief. Die Schulterblätter sind von einer mehr seitlichen
087 Stellung nach hinten auf den Rücken verschoben. Die Arme
088 gewinnen dadurch eine große Beweglichkeit zur Seite hin. Die
089 Beckenknochen sind zu einer Art Schüssel geformt; sie bergen
090 von unten her schützend die Baucheingeweide. Mit diesen
091 Veränderungen der Körperform gehen Änderungen in den
092 Größenverhältnissen der Körperteile einher. Wir haben relativ
093 kürzere Arme, aber relativ längere Beine als die Menschenaffen.
094 Zum Beispiel beträgt beim Schimpansen die Armlänge 175 %
095 der Rumpflänge, bei uns nur 150 %, dagegen macht die
096 Beinlänge beim Schimpansen nur 128 % der Rumpflänge, bei
097 uns hingegen 171 % aus. Die aufrechte Haltung hat also
098 gänzlich andere Maßverhältnisse des menschlichen Körpers mit
099 sich gebracht und eine Vielzahl von Besonderheiten, die wir nun
100 näher betrachten und zusammentragen wollen. Die unteren
101 Gliedmaßen des Menschen.. Die Beine tragen allein die Last
102 des Körpers. Oberschenkel und Unterschenkel bilden
103 eine genau senkrechte Längsachse, während sie bei den
104 Menschenaffen im Knie gewinkelt bleiben, wenn diese Tiere sich
105 aufrichten. Außerdem ist bei den Menschenaffen der Unterschenkel
106 nach außen abgewinkelt. Ein Lebewesen, das sich von Natur
107 aufrecht hält, muß ständig kleine Schwankungen aus der
108 Lotrechten abfangen können. Der Mensch vermag das durch seine
109 kräftig ausgebildeten Muskeln an den unteren Gliedmaßen. Er
110 allein hat ein Gesäß und Waden. Die starken Muskeln dieser
111 Körperteile verhindern ein Abknicken des Körpers in der Hüfte
112 und im Kniegelenk. Der Mensch ist ein Sohlengänger,
113 allerdings ist die Fußunterseite nicht flach, sondern gewölbt,
114 und zwar in der Längsrichtung und Querrichtung! Der
115 Fuß hat drei Unterstützungspunkte, zwei unter den Zehenballen,
116 einen unter der Ferse. Die Großzehe ist wie die anderen Zehen
117 ausgerichtet, also nicht vom Fußkörper abgewinkelt. Sie kann
118 deshalb auch nicht wie der Daumen bewegt werden. Da überdies alle
119 Zehen kürzer als die der Menschenaffen sind, ist der Fuß kein
120 Klammerorgan mehr. Die Menschenaffen können die vier kleinen
121 Zehen und den großen Zeh gesondert gegen die Fußfläche klappen
122 und sie so an Gegenstände anschmiegen oder diese umgreifen. Auf
123 diese Weise können sie an senkrechten und gewölbten Flächen
124 Halt finden und z.B. ihren Körper an Bäumen hochstemmen.
125 Man nennt ihre Beine deshalb Stemm-Greif-
126 Gliedmaßen. Die oberen Gliedmaßen des Menschen.
127 Unsere Arme sind im Schultergelenk, Ellenbogen
128 gelenk und Handgelenk beweglicher als die der Menschenaffen.
129 Auch alle Finger, insbesondere der Zeigefinger, sind bedeutend
130 beweglicher. Die Hand der Menschenaffen hat längere Finger,
131 aber einen kürzeren Daumen als unsere Hand. Sie ist in erster
132 Linie ein Klammerorgan, das die ganze Last des Körpers bei der
133 Bewegung durch das Gezweig tragen muß. Die Menschenaffen sind
134 Schwing-Hangelkletterer und an die Lebensweise auf
135 Bäumen hervorragend angepaßt. Man kann sagen, ihre Gliedmaßen
136 seien spezialisiert, d.h. für das Leben in einer ganz
137 bestimmten Umwelt besonders geeignet. Unsere Gliedmaßen sind
138 nicht spezialisiert. Wir können daher auch nicht alle
139 Bewegungsweisen der Menschenaffen nachmachen, uns zum Beispiel
140 nicht schwingend durch das Gezweig von Bäumen hangeln, aber wir
141 verfügen über Bewegungsweisen, die die Menschenaffen nicht
142 beherrschen. Wir können z.B. über weite Strecken
143 marschieren, einen Berg besteigen, an einem Seil emporklettern,
144 über ein Hindernis springen, schwimmen und tauchen. Die
145 Menschenaffen besitzen immer nur einige dieser Fertigkeiten, die
146 aber sind hervorragend ausgebildet. Mit ihren Händen können sie
147 sich zwar lange Zeit an einem Ast festgeklammert halten, aber sie
148 könnten nicht die vielfältigen kleinen Fingerbewegungen eines
149 Uhrmachers oder Schnitzers ausführen. Auch im Gebiß von
150 Menschenaffe und Mensch zeigen sich Unterschiede. Zwar ist die
151 Zahl der Zähne gleich, aber die menschlichen sind kleiner. Der
152 Mensch hat eine geschlossene Zahnreihe, bei allen Menschenaffen
153 befindet sich neben dem Eckzahn eine Zahnlücke. Überdies ragt
154 der Eckzahn deutlich aus der Zahnreihe heraus, allerdings nicht so
155 stark wie bei Raubtieren. Der menschliche Eckzahn hat dieselbe
156 Höhe wie die benachbarten Zähne. Zusammenfassung des
157 Vergleichs: Menschenaffe - Mensch.. Die untersuchten
158 Körperteile setzen sich aus denselben Bestandteilen zusammen,
159 allerdings haben sie beim Menschenaffen und Menschen eine
160 unterschiedliche Form und eine unterschiedliche Größe. Ein
161 Teil der Verschiedenheiten ist durch die Tatsache verständlich,
162 daß der Mensch im Unterschied zu den Menschenaffen durch die
163 aufrechte Haltung seines Körpers gekennzeichnet ist. Bildlich
164 gesprochen, ist aus denselben Grundbestandteilen eine andere Form
165 konstruiert worden, oder - anders ausgedrückt - die Grundform
166 der Primaten ist in einer bestimmten Richtung abgewandelt. Ein
167 anderer Teil der besprochenen Unterschiede wird durch die Tatsache
168 verständlich, daß der Mensch nicht an das Leben in einer ganz
169 bestimmten Umwelt angepaßt ist, sondern auf Grund der
170 Organisation seines Körpers die verschiedensten Umwelten bewohnen
171 kann. Er ist unspezialisiert, und diese Unspezialisiertheit ist
172 eine Bedingung seiner Vielseitigkeit. Wir wollen nun die Methode
173 des Vergleichens auf das Verhalten von Menschenaffen und Mensch
174 anwenden. Die Biologie beschäftigt sich nämlich nicht nur mit
175 dem Aufbau der Lebewesen, sondern untersucht gleichfalls, wie sie
176 sich zueinander und zur Umwelt verhalten. Dabei wollen wir einen
177 speziellen Fall von Verhalten herausgreifen: den
178 Werkzeuggebrauch. Er galt lange Zeit als der entscheidende
179 Unterschied zwischen Mensch und Tier. Wir wollen sehen, ob das
180 stimmt. Der Werkzeuggebrauch bei Menschenaffe und Mensch.
181 Wir sagten bereits, daß Primaten greifen können, was sie
182 vor sich sehen, und sehen können, was sie greifen. Das ist die
183 entscheidende Voraussetzung für den Werkzeuggebrauch. Ein
184 Werkzeug ist ein Gegenstand, mit dessen Hilfe irgend etwas in der
185 Umwelt zielgerichtet verändert wird. Ein Werkzeug ist nur dann
186 sinnvoll eingesetzt, wenn das Ergebnis seiner Anwendung von den
187 Sinnen kontrolliert wird. Es ist häufig beobachtet worden, daß
188 Menschenaffen Werkzeuge gebrauchen, und zwar nicht nur Zootiere,
189 bei denen man eine Nachahmung menschlicher Verrichtungen nicht
190 ausschließen kann, sondern auch in freier Wildbahn lebende Tiere.
191 Wenn man Schimpansen die Attrappe eines Leoparden, ihres
192 einzigen Feindes, in den Weg stellt, schlagen sie mit Knüppeln
193 auf ihn ein. Schimpansen sind auch fähig, Stöckchen oder
194 Grashalme in Termitenbauten einzuführen. Sie warten, bis die
195 Termiten sich an den Stöckchen festgebissen haben, dann ziehen
196 sie sie heraus und fressen die Termiten ab. Man weiß ferner,
197 daß Schimpansen Blätter zu einer schwammartigen Masse zerkauen.
198 Sie tunken sie in kleine Wasserlachen, die sie mit dem Munde
199 nicht erreichen können, und lutschen dann die getränkte Masse aus.
200 Die beiden letzten Beispiele zeigen, daß Menschenaffen nicht
201 nur Werkzeuge gebrauchen, sondern sie auch herstellen. Die
202 " termitenfischenden " Schimpansen richten nämlich die Stöckchen
203 zum Gebrauch her, indem sie Blätter und Seitenzweige abstreifen.
204 Allerdings bleibt ein Unterschied zwischen tierischer und
205 menschlicher Werkzeugherstellung: Der Schnitzer in hat eine
206 ganze Anzahl verschiedener Werkzeuge, die für im voraus bedachte
207 Aufgaben - sicher nicht von ihm selbst - hergestellt worden sind.
208 Schimpansen stellen ihre einfachen Werkzeuge immer nur in einer
209 bestimmten Situation und immer nur zur Befriedigung eines Triebes
210 her. Der Mensch schafft sich Werkzeuge für Situationen, die
211 irgendwann in der Zukunft eintreten, und keineswegs nur zur
212 Befriedigung von Hunger, Durst oder zur Abwehr von Feinden.
213 Womit könnte dieser Unterschied zusammenhängen? Betrachten wir
214 . Zunächst fallen beim Menschenaffen die stark vorspringende
215 Schnauze und die Überaugenwülste auf, sodann die fliehende
216 Stirn und das fliehende Kinn, d.h. sie zeigen keine
217 Vorwölbung. Die Nase ragt kaum aus der Gesichtsfläche hervor.
218 Die Kaumuskeln sind außerordentlich stark, die Gesichtsmuskeln
219 hingegen schwach entwickelt, so daß die Ausdrucksmöglichkeiten
220 des Gesichts, die man Mimik nennt, gering bleiben. Der
221 Gehirnschädel des Menschen ist eindeutig größer als sein
222 Gesichtsschädel; bei den Menschenaffen ist das
223 Größenverhältnis umgekehrt. Kein Tier hat im Verhältnis zur
224 Körpergröße ein so großes Gehirn wie der Mensch. In der
225 Entwicklung seines Gehirns ist der Mensch also außerordentlich
226 spezialisiert. Seine Hand hatten wir als unspezialisiert und daher
227 vielseitig bezeichnet. Beide Tatsachen müssen wir nun in einen
228 Zusammenhang stellen. Der Mensch kann in der Werkzeugherstellung
229 so Außerordentliches leisten, weil er einmal über ein großes
230 Gehirn verfügt und zum anderen zugleich Hände hat, die zu den
231 kompliziertesten Bewegungen fähig sind. Damit ist die
232 Sonderstellung des Menschen keineswegs erschöpfend beschrieben.
233 Es ist nur ein Kennzeichen unter vielen erfaßt. Andere werden in
234 späteren Abschnitten des Buches behandelt. Hier kam es nur
235 darauf an, eine bestimmte Fragerichtung des Buches in den Blick
236 zu bekommen. Wir sind von ganz bestimmten körperlichen Merkmalen
237 ausgegangen, die wir genau beschrieben haben.
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