Quelle Nummer 483

Rubrik 04 : PSYCHOLOGIE   Unterrubrik 04.02 : FACHWISSENSCHAFTLICH

WAHRNEHMUNG UND URTEIL
VIKTOR SARRIS
WAHRNEHMUNG UND URTEIL
GOETTINGEN 1971, S. 18-


001  Zur Phänomenanalyse: Wahrnehmung als
002  " Klassifikation ". Zunächst einige Vorbemerkungen:
003  Die Wahrnehmungserscheinungen gehören zu den wichtigsten
004  Untersuchungsgegenständen der Psychologie. Zwar weiß bereits
005  der Laie mit einer für das allgemeine Wahrnehmungsphänomen
006  typischen Selbstverständlichkeit mehr oder weniger deutlich zu
007  beschreiben, was mit dem Begriff der Wahrnehmung phänomenal
008  gemeint ist. Der Psychologe aber bemüht sich darüber hinaus um
009  den empirischen Nachweis sowie um die wissenschaftlich
010  repräsentative Erfassung derjenigen zahlreichen Faktoren, die die
011  Wahrnehmungserscheinungen gesetzmäßig beeinflussen.
012  Insbesondere der Neuropsychologe bzw. auch der Neurophysiologe
013  bemühen sich seit den letzten Jahren mit wachsendem Erfolg um die
014  Aufdeckung des physiologischen Substrats dieser Erscheinungen.
015  So verfügt die derzeitige Wahrnehmungspsychologie bereits über
016  viele Detailkenntnisse, und dies in einem Ausmaß, wie man es
017  vielleicht vor noch 25 Jahren kaum für möglich gehalten hätte.
018  Dabei hat sich gerade auch die experimentell systematische
019  Erforschung der Bedingungen für das Auftreten von
020  Wahrnehmungstäuschungen als wichtig erwiesen. Denn wenn -
021  wie schon die skeptischen Philosophen der Antike an Beispielen zu
022  demonstrieren wußten - nicht alles für " wahr genommen " werden
023  darf, was mittels unserer Sinnesorgane wahrgenommen wird, dann
024  dürfte in der Regel nicht nur ein mehr oder weniger spontanes
025  Sachinteresse an einer singulären Deutung einzelner
026  Täuschungsphänomene erwachen, sondern es müssen dann auch
027  wissenschaftlich brauchbare Theorien entwickelt werden, welche
028  allgemeine Erklärungen und Vorhersagen für das Auftreten sowie
029  Verschwinden von Wahrnehmungstäuschungen unter bestimmten
030  angebbaren Bedingungen ermöglichen (vgl. dazu speziell den
031  kritischen Beitrag von Over, 1968). Trotz des Vorliegens
032  vieler Einzelfakten zeigt das Studium der einschlägigen Literatur
033  allerdings auch, daß es so etwas wie eine allgemein verbindliche
034  Theorie des Wahrnehmens noch nicht gibt. Vielmehr zeugen die
035  Fachwerke noch immer von der gleichzeitigen Existenz vieler
036  verschiedener Wahrnehmungstheorien. Diese unterscheiden sich
037  sowohl im Hinblick auf die gewählten Grundannahmen als auch in
038  bezug auf die Breite ihres vermuteten Geltungsbereichs. Dabei
039  dürfte das generelle Problem bereits mit der Suche nach einer
040  zunächst fast simpel erscheinenden Begriffsklärung des
041  Wahrnehmungsphänomens beginnen. Was unter " Wahrnehmung " in
042  einem definitorisch allgemein befriedigenden Sinne zu verstehen ist,
043  wird nämlich rasch zu einer kritischen Frage, sobald man einen
044  streng naturwissenschaftlichen Maßstab anzulegen versucht. Eines
045  dürfte jedenfalls gewiß sein: es wäre bestimmt falsch, wollte
046  man von einer subjektiv erlebten Wahrnehmungssicherheit auf die
047  begriffliche Eindeutigkeit dieses Phänomens schließen.
048  Phänomenevidenz dürfte ganz allgemein eine notwendige, aber
049  keineswegs hinreichende Bedingung für wissenschaftliche
050  Begriffsbestimmungen darstellen. Tatsächlich wäre es sachlich
051  wohl angemessener, betrachtete man zur Zeit noch die bisher
052  entwickelten theoretischen Konzeptionen explizite als
053  " Arbeitstheorien " für jeweils bestimmte Bereiche der
054  experimentellen Wahrnehmungsforschung. Im folgenden wird die
055  Grundproblematik des Wahrnehmens unter besonderer
056  Berücksichtigung der psychophysischen Experimentiersituation
057  behandelt. Um dabei möglichst konkret zu bleiben, wird unter
058  anderem eine Phänomenanalyse versucht, die sich am allgemeinen
059  Beispiel einer psychophysischen Versuchsanordnung orientiert.
060  Merkmale einer Versuchsanordnung zur Erfassung von
061  Kontexteffekten. Die Ausführungen dieses Unterabschnitts sind
062  im Sinne einer begrenzten Materialsammlung zur Erörterung
063  einiger wahrnehmungspsychologischer Grundfragen bei der
064  Reizklassifikation zu verstehen. Daher werden hier nur allgemeine
065  Merkmale einer Versuchsanordnung zur Erfassung von
066  Kontexteffekten in der Psychophysik besprochen. Spezielle
067  Beschreibungen einer diesbezüglichen Experimentiersituation finden
068  sich in anderen Abschnitten. In einer historisch wichtigen
069  Studie konnten schon Martin und Müller aufgrund von
070  Gewichtsexperimenten zeigen, daß sich trotz ihrer
071  Versuchsinstruktion, die dargebotenen Objekte mittels
072  komparativer Urteile zu klassifizieren, sogenannte " absolute "
073  Urteile zu den Gewichtseindrücken einstellten. Anstatt
074  gemäß der Versuchsinstruktion irgendein experimentell dargebotenes
075  Gewicht als " schwerer " oder " leichter " im direkten
076  Vergleich zu einem Standardreiz einzustufen, neigten die
077  Probanden gelegentlich dazu, ihre Eindrücke von bestimmten
078  Gewichten spontan mit " leicht " oder " schwer " zu bezeichnen,
079  und sie mußten daher vom 6 an ihre eigentliche Versuchsaufgabe
080  erinnert werden. Über ganz ähnliche Versuchsresultate bei
081  Experimenten mit Zeitintervallschätzungen,
082  Lautstärkenschätzungen und Längenschätzungen
083  berichtete wenig später Titchener (1905). Offenbar machte sich
084  auch in diesen Versuchen die Vp-Tendenz zu einem sog.
085  " Absoluturteil " anstelle des geforderten " Vergleichsurteils "
086  bemerkbar. Wesentlich später haben dann Wever und Zener, von
087  diesem psychologischen Tatbestand ausgehend, die sogenannte
088  " Methode des absoluten Urteils " als eine psychophysische
089  Untersuchungstechnik eingeführt. Auch wenn dieses Verfahren im
090  Vergleich zu den klassischen psychophysischen
091  Untersuchungstechniken noch relativ lange unberücksichtigt blieb,
092  ist dieser Schritt trotzdem von besonderer methodischer Bedeutung.
093  Etwa zur gleichen Zeit berichteten Fernberger sowie Turner,
094  Preston und Cohen über das Auftreten von Kontexteffekten bei
095  einer mittels herkömmlicher Untersuchungsmethoden vorgenommenen
096  Reizbeurteilung. Ferner konnten Guilford und Park nachweisen,
097  daß ein zeitlich zwischen Standardreiz und
098  Vergleichsreiz noch zusätzlich eingeschobener Stimulus je nach
099  seiner quantitativen Ausprägung die psychometrischen Kennwerte
100  verändert. Preston berichtete zusammenfassend, daß sich diese
101  Kontextwirkung meistens - aber nicht immer - in einem sog.
102  " Kontrasteffekt " äußere. Das heißt, wenn zum
103  Beispiel ein und dieselbe Tonhöhe A das eine Mal zusammen mit
104  einem objektiv tiefen, das andere Mal zusammen mit einem objektiv
105  hohen Zusatzton zur Beurteilung dargeboten wird, dann stuft die
106  Vp den Ton A aufgrund ihres subjektiven Spontaneindrucks in der
107  Regel das eine Mal höher, das andere Mal tiefer ein, als wenn
108  vergleichsweise dieser Ton isoliert vorgegeben würde. Die
109  Kontrasteffekte wurden anfangs als sog. " konstante Fehler "
110  des psychophysischen Versuchs aufgefaßt, und auch heute noch
111  werden sie in einschlägigen Fachbüchern etwa neben dem sog.
112  " Halo-Effekt ", der " Zentraltendenz " usw. als
113  Versuchsfehler gewertet. Allgemein wird der Kontrasteffekt
114  als eine durch den Kontext bedingte Verstärkung eines
115  Wahrnehmungs-Unterschiedes bzw. Beurteilungs-
116  Unterschiedes zwischen Reizen ein und derselben Sinnesmodalität
117  definiert. Die Kontextergebnisse blieben in der Folgezeit
118  zunächst noch so gut wie unbeachtet, und zwar vermutlich deshalb,
119  weil damals eine ihnen gemeinsame Erklärungsbasis fehlte. Von den
120  genannten Arbeiten verdienen aber zumindest drei Dinge festgehalten
121  zu werden: 1.Personen zeigen im Versuch eine natürliche
122  Tendenz, die ihnen experimentell dargebotenen Reize nach einer
123  phänomenal meist als bipolar erlebten graduierten Skala wie z.B.
124  leicht - schwer ", " Kurz - lang " usw.
125  einzustufen. 2.Werden etwa im Sinne von Guilford
126  und Park zusätzliche Reize zwischen Standardreiz und
127  Vergleichsreiz eingeschoben, dann stellen sich besonders
128  augenfällige Bezugssystemeffekte ein, die sich unter anderem in
129  einer Veränderung der klassischen psychometrischen Kennwerte
130  zeigen. 3.Die experimentell ermittelten
131  Kontexteinflüsse äußern sich meist, aber nicht immer in
132  sogenannten Kontrasteffekten. Für die theoretische Basis
133  der vorliegenden Arbeit ist der folgende Sachverhalt von besonderer
134  Bedeutung: Die von Wever und Zener experimentell provozierten "
135  Absoluturteile " erweisen sich bei einer entsprechenden
136  Versuchsausweitung faktisch als relativ, da sie
137  nämlich kontextabhängig sind. Es ist wichtig, die hier benutzten
138  Begriffe " absolut " und " relativ " sorgfältig voneinander zu
139  trennen, um Mißverständnissen oder gar inneren Widersprüchen
140  vorzubeugen. Auf eine kurze Formel gebracht, kann man zunächst
141  einmal sagen: Das Wahrnehmungsurteil ist in phänomenaler
142  Hinsicht " absolut ", jedoch in psychologischer Hinsicht "
143  relativ ". Das bedeutet nun im einzelnen: Eine Person, die
144  an einem psychophysischen Experiment teilnimmt und nichts von der
145  Untersuchungsabsicht weiß - also eine sogenannte " naive " Vp
146  -, nimmt die experimentellen Reize als isoliert
147  dargeboten wahr, so daß zum Beispiel ein Ton A unmittelbar als "
148  tief " oder ein Ton B unmittelbar als " hoch " erlebt und
149  beurteilt wird; und diese subjektive Reizklassifizierung
150  impliziert dann nicht noch ein zusätzliches Spontanerlebnis,
151  welches darin bestände, daß Ton A etwa " tief " nur in bezug
152  auf den als " hoch " klassifizierten Ton B sei und vice versa.
153  Das heißt im Bewußtsein der Vp werden die beiden Töne A
154  und B unabhängig voneinander erlebt, sofern sie wirklich spontan
155  und rein eindrucksmäßig urteilt. Genauso nimmt man in der Regel
156  ein sich mit 180 km (math.Op.) h fortbewegendes Auto spontan als " sehr
157  schnell " fahrend wahr und beurteilt dies so, ohne darüber zu
158  reflektieren, im Hinblick auf welche Bezugsgeschwindigkeit das
159  betreffende Auto als " sehr schnell " beurteilt wird. Will man
160  nun ein solches Wahrnehmungsverhalten und
161  Urteilsverhalten experimentell prüfen, so braucht man eine
162  Versuchssituation, die ein solches " naives
163  " Urteilsverhalten - das mit stereotyp vergröberten
164  Ersturteilen beginnt, sich allmählich differenziert und dann zu
165  einer stabileren Reizklassifikation führt - in geeigneter Weise
166  provoziert. Als geeignetes Untersuchungsverfahren bietet sich hier
167  die genannte " Methode des Absoluturteils " an. Für diese
168  Untersuchungstechnik ist das Folgende charakteristisch: Zum
169  Teil äußern diese Probanden gerade beim Versuchsbeginn trotz der
170  Orientierungshilfe einer meist visuell dargebotenen Ratingskala den
171  Wunsch nach zusätzlicher Vorgabe eines Bezugsreizes, und dies,
172  weil sie den Versuch in der Regel als ein echtes "
173  Leistungsexperiment " auffassen. Da aber die Vpn diesen
174  gewünschten Bezugsreiz gemäß der Untersuchungsabsicht nicht
175  erhalten, werden sie sich anfangs auf ihren meist unsicheren
176  Erfahrungshorizont mehr oder weniger spontan beziehen müssen.
177  Bezeichnenderweise werden sie daher bei der Einstufung gerade der
178  ersten wahrgenommenen Reize besonders schwanken und erst allmählich
179  wird sich der Bezugsrahmen festigen, nicht zuletzt eben durch die
180  Beurteilungen der letztdargebotenen Reize in bezug auf die
181  früheren. Mit anderen Worten: die " absolute
182  " Reizklassifizierung erfolgt einigermaßen spontan erst nach einiger
183  Übungszeit. Bei einer geübten Reizbeurteilung handelt es sich
184  um gelernte Konnotationen zu physikalisch definierten Reizobjekten.
185  Eine solche Versuchssituation dürfte nun allgemeines
186  Wahrnehmungsverhalten und Urteilsverhalten in seiner
187  Genese recht lebensnah repräsentieren, und zwar sowohl im
188  Hinblick auf das (psychologisch eindimensionale)
189  Wahrnehmungslernen des heranwachsenden Individuums als auch
190  bezüglich der neuen Situationen, denen sich der Erwachsene
191  gegenübersieht (wie auch die Laborsituation zumindest für eine "
192  naive " Vp eine neue ist). Aus diesen Gründen erschien denn
193  auch die von Wever und Zener entwickelte Untersuchungstechnik als
194  die Methode der Wahl für die vorliegenden Experimente. Generell
195  läßt sich festhalten, daß eine naive Vp erlebnismäßig eine
196  eher eindeutige Beziehung zwischen Reizen einerseits und
197  Wahrnehmungsurteilen andererseits unterstellt, sofern sie - nach
198  kurzer Einübungszeit - wirklich spontan urteilt, so als
199  entspräche der absoluten Skala der physikalischen Reize de facto
200  eine ebenso absolute der Wahrnehmungsurteile. Demgegenüber sind
201  nun diese " Absoluturteile " aus der Betrachtungsweise des
202  Experimentalpsychologen insofern " relativ ", als sich bei einer
203  entsprechend aufgebauten Versuchsanordnung die Spontanurteile
204  der Vp zu denselben Reizen - je nach Kontext - experimentell
205  manipulieren lassen, zumindest falls die Vp von dieser
206  Manipulationsabsicht nichts weiß. Um den gemeinten Sachverhalt
207  noch von einem Alltagsbeispiel her zu illustrieren: ein und
208  dieselbe Fahrgeschwindigkeit eines Autos von z.B. 80 km
209  (math.Op.) h dürfte als " eher langsam " empfunden werden, falls der
210  Wagen auf übersichtlicher Autobahnstrecke fährt, hingegen als "
211  sehr schnell ", sobald sich etwa das Auto in den engen Straßen
212  einer Großstadt zur Zeit des Stoßverkehrs bewegt. Eben diese
213  kontextbedingte Wahrnehmungsrelativität und
214  Urteilsrelativität wird in der vorliegenden Arbeit in bezug
215  auf ihre quantitativ faßbaren experimentellen Grenzen untersucht.
216  Obwohl die obigen Beispiele für " absolutes " und " relatives
217  " Wahrnehmen und Urteilen von fast bedenklich erscheinender
218  Einfachheit sind, reichen sie trotzdem vorläufig aus, um die
219  folgenden wichtigen Fragen herausstellen zu können: Die von
220  Wever und Zener entwickelte Methode des Absoluturteils wirft das
221  noch nicht befriedigend gelöste Problem auf, ob die Vp-
222  Beurteilungen echte Wahrnehmungseffekte reflektieren oder rein
223  sprachlicher Natur (d.h. Wahrnehmungs-Artefakte)
224  sind oder aber Wechselwirkungsphänomene zwischen beiden fassen.
225  Dies ist in der Tat eine kritische Frage sowohl für die
226  allgemeine Psychophysik als auch speziell für unsere eigenen
227  Experimente. Sie wird daher im folgenden Abschnitt noch etwas
228  näher untersucht werden müssen. Im Gegensatz zu den
229  psychophysischen Techniken, wie sie z.B. Stevens
230  entwickelt hat, wird bei der Verwendung der Methode des
231  Absoluturteils ausdrücklich nicht um Vergleichsurteile gebeten,
232  und es wird hier ein besonders spontanes Urteilsverhalten
233  experimentell provoziert. Methodisch besteht dieses Verfahren aus
234  einfachen Schätzurteilen, wie sie etwa auch an Hand einer
235  Ratingskala vorgenommen werden. Diese Ratingskalen-Methode
236  kann allgemein auch als dasjenige psychologische
237  Skalierungsverfahren bezeichnet werden, welches - wie oben
238  begründet - die subjektiven Wahrnehmungstendenzen und
239  Urteilstendenzen von Personen in einer besonders wirklichkeitsnahen
240  Weise zu untersuchen gestattet. Damit dürfte sich diese
241  Skalierungsmethode auch als ein nützliches Verfahren für die
242  Analyse von Kontexteffekten in der Psychophysik eignen, und zwar
243  unbeschadet der Möglichkeit, daß diese Technik eventuell eine
244  Reizskalierung mit der psychologischen Meßdignität etwa nur einer
245  Rangskala anstatt vielleicht mit einer (hypothetisch unterstellten)
246  Intervallskalen-Meßdignität erlaubt. Es ist in diesem
247  Zusammenhang darauf aufmerksam zu machen, daß als primäre
248  Voraussetzung einer adäquaten Kontexteffekt-Untersuchung
249  nicht so sehr die Verbesserung der Technik des " Messens " an
250  sich, sondern die einer sachrepräsentativen Versuchsanordnung
251  zu gelten hat, obschon beide Problemaspekte sachlogisch eng
252  miteinander verknüpft sind. Den klassischen Psychophysikern
253  (einschließlich Stevens), die mittels komparativer Vp-
254  Urteile nach " dem " allgemeinen psychophysischen Gesetz zwischen "
255  Reizen " und " Reaktionen " (Wahrnehmungsurteilen) gesucht
256  haben, mag über die kritischen Einwände neuerer Arbeiten hinaus
257  die in diesem Zusammenhang auftretende Frage gestellt werden, ob
258  und inwieweit der psychologische Tatbestand der oben besprochenen
259  Absoluteindrücke die Experimentatoren dazu veranlaßt hat, an die
260  Möglichkeit der Auffindung eines eindeutigen Reiz-Reaktions
261  -Gesetzes zu glauben. Denn es ist bisher nicht mit Sicherheit
262  auszuschließen, daß die Grundüberzeugung von der Existenz eines
263  solchen parameterinvarianten Gesetzes vielleicht das eigene
264  Spontanerleben der klassischen Psychophysiker selbst in bezug auf
265  eine eindeutige Entsprechung von Reizgrößen einerseits und
266  Wahrnehmungsurteilen andererseits mit reflektiert. Mit diesen
267  Erläuterungen sind bisher zwar einige phänomenale Grundmerkmale
268  der subjektiven Vp-Befindlichkeit im psychophysischen
269  Kontexteffektversuch beschrieben worden, aber es wurde die
270  schwierige Frage, wie die Wahrnehmungsprozesse und
271  Urteilsprozesse psychologisch zu erkennen sind, noch nicht genauer
272  behandelt. Auf diesen Punkt soll der nächste Abschnitt, der mit
273  einer kurzen allgemeinen Erörterung des Wahrnehmungsbegriffs
274  beginnt, eingehen. Wahrnehmungspsychologische Fragen zur
275  Reizklassifikation. Wenn eine Versuchsperson in einem
276  psychophysischen Experiment beispielsweise zwei Tonfrequenzen A
277  und B als voneinander verschieden erkennt, dann läßt sich die vom
278  6 registrierte Versuchleistung auf vier verschiedene Aspekte des
279  allgemeinen psychologischen Wahrnehmungsbegriffs beziehen: Es
280  muß eine sinnesphysiologische bzw. neurophysiologische
281  Verarbeitung der Tonfrequenzen A und B stattgefunden haben
282  (neurophysiologischer Aspekt). Der Versuchsperson ist der
283  objektive Ünterschied zwischen den Frequenzen A und B bewußt
284  geworden (Erlebnisaspekt). Die Versuchsperson teilt
285  ihren subjektiven Unterschiedseindruck in einer vom 6 festgesetzten
286  Form mit, nämlich entweder mittels einer verbalen Äußerung oder
287  in Form einer motorischen Antwort wie etwa durch entsprechenden
288  Knopfdruck usw. (Verhaltensaspekt). Der um die
289  Phänomenanalyse bemühte Psychologe bezieht die von ihm
290  registrierte Versuchsleistung auf ein theoretisches Konzept,
291  welches in diesem Fall als " Wahrnehmung " bezeichnet wird
292  (Aspekt des hypothetischen Konstrukts).

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