Quelle Nummer 474

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.15 : KRIMI

DIE LUEGE
PAUL BERTOLOLY
DER SCHREI AUS DER NACHT (KRIMINALERZAEHLUNGEN)
HOHENSTAUFEN VERLAG BODENSEE 1970, S. 159-


001  Die Lüge. Im Villenviertel des Außenbezirks einer
002  größeren Stadt lagen, von Gärten und hohen, parkähnlich
003  angelegten Bäumen umgeben, zwei elegante einstöckige Villen
004  modernen Stils nebeneinander. Die eine war von dem
005  jungverheirateten Ehepaar Darjan bewohnt. Eduard Darjan war
006  Offizier in der Kriegsmarine und näherte sich den vierzig; er
007  war fünfzehn Jahre älter als seine Frau Lea. Gleich nach den
008  Flitterwochen, die das Paar zumeist im Süden verbracht hatte,
009  mußte er sich wieder zu seiner Einheit begeben, was ihm bei seinem
010  unruhigen, an die Weite der Meere gewöhnten, militärisch
011  ausgerichteten Sinn nicht allzu schwer zu fallen schien. Seitdem
012  bewohnte Lea mit ihrer jungen Hausbediensteten Anna Kelle das
013  Haus allein. Zwar hatte ihr Eduard nahegelegt, für die Monate
014  seiner Abwesenheit in ihr Elternhaus heimzukehren, aber sie konnte
015  sich bei ihrem schlechten Einvernehmen mit ihrer älteren Schwester,
016  die despotisch, zänkisch und verbittert der Mutter den Haushalt
017  führte, nicht dazu entschließen. So verbrachte sie die erste
018  Zeit mit der Instandsetzung der noch nicht völlig eingerichteten
019  Wohnung, widmete sich der Lektüre und ihrem Klavier oder dem mit
020  den ersten Herbstfarben sich schmückenden Garten, um, wenn sie
021  einmal ihre Einsamkeit gar zu drückend empfand, mit ihrem Wagen
022  oder der nahen Autobusverbindung nach der Innenstadt zu fahren.
023  Sie war der Liebling ihres vor kurzem verstorbenen Vaters gewesen,
024  der sie auch reichlich verwöhnt hatte. So war ihre behütete
025  Jugend sorgenlos und ohne Konflikte, in jeder Hinsicht
026  unauffällig verlaufen. Sie hatte die höhere Schule besucht,
027  anschließend an der Universität, weniger um sich einem Beruf zu
028  widmen als aus Bildungsinteressen, einige Semester Literatur und
029  Geschichte gehört, um ihr Studium mit ihrer Verheiratung
030  abzubrechen. Unkompliziert, doch nicht oberflächlich, dem Leben
031  aufgeschlossen, wenn auch unerprobt seinen Wechselfällen
032  gegenüber, und es von der freundlichen Seite nehmend, war sie von
033  den Problemen der Zeit und den Stürmen der heranwachsenden und
034  ihren fortschrittlichen Ideen nachjagenden, im letzten
035  ausschweifenden und haltlosen Jugend unberührt geblieben. Auch
036  ihr sentimentales Leben war in dieser turbulenten Umgebung
037  unerweckt geblieben, abgesehen von einigen mehr kameradschaftlichen
038  Flirten, die sie aus kritischem Instinkt, sei es aus Furcht vor
039  Gefahr oder Enttäuschung, vielleicht unter dem Vergleich mit dem
040  Idealbild ihres Vaters, beizeiten abgebrochen hatte. Erst
041  Eduard, den sie auf einem Offiziersball kennengelernt hatte und
042  dessen forsche, militärisch-kosmopolitische Erscheinung sich
043  mit einem höheren Bildungsgrad und weltmännischen Formen verband,
044  erschien ihr als der Mann ihrer Wahl. So war sie zwischen
045  Traum und Erwachen in das Neuland ihrer Ehe getreten, um sich
046  nach sechs Wochen als sich ihrer bewußte Frau in die Einsamkeit
047  versetzt zu sehen. Das war wenigstens das Bild, das sich alle
048  Welt, nicht zum wenigsten ihre Eltern, von ihr machten, und wie
049  es auch später im Zeugenverhör der Schwurgerichtsverhandlungen
050  einhellig zu Tag trat. Das Nachbarhaus bewohnte ein junger
051  alleinstehender Ingenieur einer nahen chemischen Fabrik, Herbert
052  Luschka, dem eine ältere Zugeherin täglich einige Stunden den
053  Haushalt besorgte. Es gibt Männer vom Typus des Schönlings im
054  Gewand des Salonlöwen, des Filmhelden oder sogar des
055  Kriegshelden, die auf die Frauen derselben oberflächlich
056  blendenden Art eine magnetische Anziehung ausüben, um dafür von
057  den Frauen, die an das Wesen des Mannes ernsthaftere Ansprüche
058  stellen, um so kritischer eingeschätzt zu werden. Wenn Luschka,
059  der notorische Weiberheld und Rou‚, im Verkehr mit den
060  Frauen oder auf der Jagd nach ihnen auf jede Parade dieser Art
061  verzichten konnte, so, weil seine Natur und seine Erscheinung ihn
062  zum Verführer erkoren hatten und er nichts dazuzutun brauchte, um
063  sich Erfolg zu verschaffen. Dazu mußte man eine Art Influenz,
064  eine sinnlich bestechende Ausstrahlung annehmen, wenn man nicht
065  einen an sich abschreckenden und zugleich aufreizenden zynischen Zug
066  um seine Mundwinkel gelten lassen will, der nur den Frauen
067  gegenüber hervortrat, oder den sehr ruhigen, überlegenen Ton
068  seiner Stimme und Redeweise, hinter dem ein helleres Ohr eine
069  erschreckende Kälte und ein maßloses Selbstbewußtsein erkennen
070  konnte. Solche Charaktere in ihrer hintergründigen Kraft und
071  Gefährlichkeit, bei ihrem Raubtierinstinkt von durchaus
072  unauffälliger Erscheinung kennen im letzten nur die Verachtung,
073  die Verachtung gerade des Objekts, das ihr Denken und Trachten
074  völlig einnimmt und dem sie mit allen Mitteln nachjagen, der Frau.
075  Die verträumt im Grünen liegende Villa war der Schauplatz
076  verschwiegener Liebesidyllen wie auch bisweilen rauschender, sogar
077  durch die geschlossenen Läden dringender Orgien. Doch war in
078  letzter Zeit eine merkwürdige Ruhe in das Haus eingetreten,
079  Luschka schien seinen amourösen Abenteuern abgesagt zu haben und
080  zwar, seit er seine Aufmerksamkeit auf seine schöne Nachbarin
081  geworfen hatte. Der Herbst war eingezogen und ein früher Winter
082  folgte. Eduard hatte geschrieben, daß er erst mit dem beginnenden
083  Frühjahr auf Urlaub rechnen könne. Lea antwortete ihm mit einem
084  langen Brief. Diesen Brief stellte Eduard später dem Gericht
085  zur Verfügung, da er selbst bei der Schwurgerichtsverhandlung
086  gegen seine Frau nicht anwesend sein konnte. Er lautete:
087  " Seit Deiner Abwesenheit empfinde ich meine Einsamkeit von Tag zu
088  Tag drückender. Ich lebe in einer nie gekannten Unruhe, die
089  sich mitunter mit angstvollen Schwermutsanwandlungen ablösen und
090  mir den Schlaf rauben. Dazu gesellte sich eine fieberhafte
091  Erkältungskrankheit. Anna ließ mir keine Ruhe, bis ich den in
092  der Nähe wohnenden Arzt, Doktor Vernau, zu mir bitten ließ.
093  Er versicherte mich der Ungefährlichkeit meiner Krankheit, um
094  desto ernsthafter auf meinen nervösen Zustand einzugehen. Er ist
095  ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Arzt, es ist nichts von
096  Autorität oder übergeordnetem Wissen an ihm, er hat eine ebenso
097  rücksichtsvoll diskrete wie humorvoll getönte, spielerische, fast
098  jungenhafte Art, die dem Kranken sogleich jede Hemmung nimmt.
099  Er ist über die erste Jugend hinaus, trägt langes, dunkles
100  Haar, das seinen hageren, unregelmäßigen, unschönen Zügen
101  einen bohŠmehaft genialischen Anflug gibt. In seiner
102  geistigen Beweglichkeit, der ein Gespräch über Literatur oder
103  Musik näher liegt als eine gelehrte medizinische Auslegung,
104  erinnert er mich an meinen Vater. Er verschrieb mir weder
105  Medikamente noch eine psychotherapeutische Behandlung, ging auch
106  in der Folge kaum noch auf meine Beschwerden ein, als verlohne es
107  sich nicht, sie ernst zu nehmen. So ist er einer der Ärzte, die
108  bei hypochondrisch veranlagten Kranken jedes medizinische Eingehen
109  ablehnen aus der Erkenntnis der Gefahr, die der Arzt für sie
110  bildet, indem er ihre Beschwerden zu ernst nimmt und sie dadurch
111  zum unheilbaren Komplex verankert. Ich bin ihm aus dieser
112  Einsicht nur dankbar und betrachte ihn etwa wie einen väterlichen
113  Ratgeber, bin auch einer gesellschaftlichen Einladung in sein
114  Haus gefolgt und lernte seine Frau und seine beiden Kinder kennen. "
115  In einem andern Brief kam sie auf ihren Nachbarn, den
116  Ingenieur Luschka, zu sprechen: " Damals, als wir ihm unsern
117  Höflichkeitsbesuch machten und er ihn erwiderte, sagtest Du, er
118  mache den Eindruck eines losen Vogels, diese Mischung von
119  Schneidigkeit, Selbstbewußtsein und versteckter Arroganz bei
120  durchaus vorschriftsmäßigen Manieren verleugne sich nicht. Du
121  hattest völlig recht damit. Er steht im Ruf eines skrupellosen
122  Mädchenjägers, und manches, was zur Nachtzeit, wenn auch
123  gedämpft, tosende Musik und ausschweifendes Gelächter,
124  herüberdringt, scheint es zu bestätigen. Ich vermeide es nach
125  Möglichkeit, mit ihm zusammenzutreffen, was mir um so leichter
126  fällt, als er den Tag über in der Fabrik ist. Obwohl er mir
127  bei diesen seltenen Begegnungen korrekt, ja fast überhöflich
128  gegenübertritt, ist in seinem Auge etwas, das jede feinfühlende
129  Frau beunruhigt, etwas zynisch Herabziehendes, ich möchte sagen,
130  Entkleidendes, besonders wenn sich dabei seine Mundwinkel leicht
131  senken, als denke er an etwas Pikantes und setze das Verständnis
132  dafür auch beim andern voraus. Er ist mir aus diesem Grund
133  äußerst unsympathisch, obwohl ich mich formell in keiner Weise
134  über sein Betragen beklagen könnte. " In einem weiteren Brief
135  schrieb sie: " Es ist nicht immer möglich, eine Begegnung mit
136  Luschka zu vermeiden, sei es, wenn ich mich im Garten befinde
137  oder auf der Straße, wenn unsere Wege sich zufällig kreuzen.
138  Und es ist dann immer dasselbe: alltäglich harmlose Gespräche,
139  korrekte Worte verbindliche Phrasen, ohne je die Grenzen galanter
140  Höflichkeit zu überschreiten, aber sozusagen nur als Tarnung,
141  unter der sein tastender Blick, sein ironisch lüsternes Lächeln
142  eine ganz andere, stumme und unangreifbare Sprache führen. Dabei
143  bin ich nicht einmal sicher, ob er sich seiner Mimik bewußt ist,
144  noch ob sie speziell auf mich abgestimmt ist, es ist vielleicht sein
145  gewohnter Ausdruck, eine Art Reflex, wenn er mit einer Frau
146  spricht. So unbehaglich mir daher seine Art ist, so wenig wäre
147  es mir möglich, mich über ihn zu beklagen oder ihn zurechtzuweisen.
148  Mir bleibt nur eines, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. "
149  Wieder ein Brief, einen Monat später datiert, lautete:
150  " Ich habe von unserm unsympathischen Nachbar in letzter Zeit nichts
151  mehr geschrieben, um Dich nicht zu beunruhigen. Es ereignete sich
152  auch nichts Besonderes, das schreibenswert gewesen wäre. Doch
153  gestern abend, als ich von der Stadt kam und Luschka gerade aus
154  dem Haus trat, überschritt er zum erstenmal die Schranken
155  konventioneller Schicklichkeit, indem er im Verlauf der wenigen
156  Worte, die wir wechselten, sagte: " Es muß für eine
157  jungverheiratete, schöne Frau doch gewiß schwer sein, die
158  Einsamkeit zu ertragen. " Ich war bedacht genug, ihm lachend zu
159  erwidern: " Die Männer scheinen immer da am meisten Mitgefühl
160  zu empfinden, wo es am wenigsten angebracht ist ", und trat rasch
161  und ohne Gruß ins Haus. Ich hoffe, er wird es sich zur Lektion
162  dienen lassen. " Weitere Briefe bezogen sich nicht mehr auf
163  Luschka. Gegen Mitte Dezember erschien in der Tagespresse
164  folgende Mitteilung: Die in der Gartenstraße von dem
165  Kapitänleutnant Darjan und seiner jungen Frau Lea bewohnte
166  Villa war am Freitag gegen Mitternacht der Schauplatz einer
167  ebenso mysteriösen wie sensationellen Bluttat. Im Verlauf einer
168  Auseinandersetzung in ihrer Wohnung mit ihrem Nachbarn, dem
169  dreißigjährigen Ingenieur Herbert Luschka, gab Frau Darjan,
170  fünfundzwanzig Jahre alt, einen Revolverschuß auf ihn ab, der
171  ihn schwer am Leib verletzte. Luschka besaß noch die Kraft, ins
172  Freie zu flüchten, um jedoch vor dem Gartentor zusammenzubrechen.
173  In diesem Augenblick gab Frau Darjan, die ihm nachgefolgt war,
174  aus kürzester Entfernung zwei weitere Schüsse auf ihn ab, die
175  unmittelbar tödlich waren. Passanten, durch den Knall alarmiert,
176  fanden den Toten und benachrichtigten die nächste Polizeistation.
177  Frau Darjan befand sich beim Eintreffen der Beamten in einem
178  Zustand seelischer Gebrochenheit, die ihre Vernehmung unmöglich
179  machte. Am Tisch sitzend, starrte sie wie erstorben vor sich hin
180  und war zu keiner Antwort zu bewegen. Die Tat ist um so
181  unverständlicher, als das Ehepaar erst seit kaum vier Monaten
182  verheiratet ist und Frau Darjan den besten Ruf genießt. Ihr
183  Gatte befindet sich zur Zeit auf hoher See und soll erst zu
184  Beginn des neuen Jahres zurückkehren. Weniger günstig lauten
185  die Auskünfte über das Opfer. Der junge Ingenieur war wegen
186  seines flotten, wenn nicht lockeren Lebenswandels weithin bekannt.
187  Zu bemerken ist noch, daß keine Zeugen bei der Tat vorhanden
188  waren, da Frau Darjan ihrer Hausgehilfin den Abend frei gegeben
189  hatte. Frau Darjan wurde in Untersuchungshaft überführt. Ihr
190  Gatte, der einen Monat später auf Urlaub zurückkehrte, erhielt
191  die Erlaubnis, sie mehrfach zu besuchen. Er stellte sich
192  vollständig auf ihre Seite, indem er seinem Stolz unumwunden
193  Ausdruck gab, daß sie auf so heroische Art ihre Ehre verteidigt
194  hatte. Zugleich erfolgte seine Aussage vor dem
195  Untersuchungsrichter, damit sich seine Vorladung zu der
196  Gerichtsverhandlung, deren Termin noch nicht feststand, infolge
197  seiner dienstlichen Abwesenheit erübrige. Die Verhandlung vor
198  dem Schwurgericht erfolgte drei Monate darauf. Sie bildete die
199  Sensation der Saison. Der Saal war überfüllt, hauptsächlich
200  die elegante Welt war vertreten, man hätte sich auf den ersten
201  Blick in eine Modeschau versetzt glauben können. Lea erschien,
202  von zwei uniformierten Wächtern eskortiert, im Brennpunkt der
203  Blicke. Im Kontrast zu ihrem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid
204  sprang ihre Blässe noch mehr hervor. Es war die Blässe ihrer
205  langen Untersuchungshaft, ins Büßerische abgewandelt durch ihre
206  engelhaft anmutende Ruhe und den sanften, dunklen Glanz ihrer
207  blicklosen Augen, die nur dazu angetan schienen, sich im stillen
208  Schein der Heiligkeit, im frommen Schimmer der Altarkerzen
209  aufzuschließen. Sie setzte sich mit im Schoß gefalteten Händen
210  und leicht gesenktem Gesicht ohne Scheu vor der sie bis auf ihren
211  letzten Gedanken durchwühlenden, lüsternen Neugier der Menge,
212  die sich wie immer aus der Liebestragödie einer schönen Frau in
213  ihrem Aroma von Blut und Sinnlichkeit einen pikanten Genuß
214  verspricht. Der Vorsitzende verlas den Anklageakt, der die
215  Angeklagte Lea Darjan beschuldigte, am zwölften Dezember des
216  vergangenen Jahres um dreiundzwanzig Uhr fünfzehn den Ingenieur
217  Herbert Luschka nach vorausgegangenem Wortwechsel mit
218  Revolverschüssen getötet zu haben und zwar, nachdem sie ihn in
219  ihrer Wohnung mit einem Schuß in den Leib schwer verletzt hatte,
220  ihm, als er ins Freie flüchtete, nachgeeilt zu sein, um am
221  Gartentor zwei weitere Schüsse in den Kopf und Rücken auf ihn
222  abzugeben. Die Anklage lautete auf Totschlag. Der Vorsitzende
223  wandte sich an die Angeklagte: " Angeklagte, bekennen Sie sich
224  schuldig? Lea richtete ihren Blick voll bezwingender Ruhe auf
225  ihn: " Nichtschuldig, da ich in Notwehr gehandelt habe.
226  " Aufgefordert, den Hergang der Tat zu schildern, fuhr sie mit
227  klarer, fester Stimme fort:

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