Quelle Nummer 453
Rubrik 03 : PHILOSOPHIE Unterrubrik 03.00 : PHILOSOPHIE
METAPHYSIK
ERNST FRIEDERICH SAUER
METAPHYSIK
ZUGLEICH EIN BEITRAG ZUR FRIEDENSFORSCHUNG
MUSTERSCHMIDT-VERLAG, GOETTINGEN, FRANKFURT, ZUERICH
1970, 70-
001 Ontologie. Wieso Ontologie etwas mit
002 Friedensforschung zu tun haben könne, erscheint unerfindlich.
003 Und doch ist es so. Ontologie befaßt sich mit dem Seinsganzen.
004 Dieses aber ist ein Wertganzes. Damit ist die Verbindung zur
005 Axiologie, die wir eben behandelt haben, geschlagen. Wie stark
006 sie der Friedensforschung nützen konnte, habe ich dargelegt.
007 Darüber hinaus wird unten ausgeführt: Seinserkenntnis sei
008 Selbsterkenntnis. In diesem Sinne ist jede Seinsanalyse ein
009 Beitrag zur subjektiven Bewußtseinsanalyse und bedeutet von
010 vorneherein, daß sie geeignet ist, die wesentlichen von den
011 unwesentlichen Dingen und Relationen zu trennen, zu unterscheiden.
012 Damit ist aber für die Friedensarbeit ungeheuer viel gewonnen.
013 Denn wenn es durch Ontologie und richtige Seinsanalyse möglich
014 werden sollte, bei staatlichen Meinungsverschiedenheiten, die
015 leicht zu einer bewaffneten Auseinandersetzung führen könnten,
016 einen vielschichtigen Sachverhalt nach seiner objektiven Seinsnatur
017 zu analysieren, ist damit eine Sachverhaltsfeststellung gemeint,
018 die für die gegenseitig erhobenen Ansprüche jedenfalls pragmatisch
019 bedeutsam ist. Kant würde das nicht für wahr halten. Irgendwo
020 in seinem handschrift. Nachlaß soll es stehen, Ontologie sei
021 die Wissenchaft von den Dingen überhaupt, sie könne uns nichts
022 von den Dingen an sich lehren, sondern nur von den Bedingungen a
023 priori, unter denen wir Dinge in der Erfahrung überhaupt erkennen
024 könnten. Anderswo (Welches sind die wirklichen Fortschritte,
025 welche die Met (...) gemacht hat, Vorr. 3) hatte er gemeint, in
026 der Ontologie sei seit Aristoteles " Zeiten nicht viel
027 Fortschreitens gewesen usw.. Demgegenüber die neuere
028 Ontologie, die sich u. a. mit der " wertbestimmten
029 Seinsfinalität " beschäftigt und hierbei auf die Philosophia
030 cordis und die Einwirkung der Persönlichkeit auf ihr Erkennen zu
031 sprechen kommt. Man trifft dort auf den Satz, ein jeder sehe,
032 was er im Herzen trage, dann: jedes Fragen, Denken, Sehen
033 erfolge aus einer bestimmten inneren Haltung heraus. Weiter S.
034 391: es gebe ein subjektiv-emotionales Erkenntnisapriori.
035 Unter Bezug auf Heraklit heißt es: Des Menschen Dämon ist
036 sein Ethos. Alles dieses sind Gesichtspunkte, die eminente
037 Bezüge zur Friedensforschung haben. Heutzutage interessiert
038 man sich wieder für Ontologie. Man befaßt sich mit dem Wesen
039 und der Begründung des Seins. Man spricht sogar von
040 Seinsvergessenheit, als ob wir unserer Welt, die doch ein Sein
041 ist, völlig entfremdet wären. Daran läßt sich die Fremdheit
042 gewisser Philosophen gegenüber der heutigen Problematik ablesen.
043 Das Sein ist ja immer dagewesen, solange es Wirklichkeit gab.
044 Man kann es niemals vergessen haben. Wir wissen nicht genau, wie
045 es, wie und wann die Welt und ihr Sein entstanden sind.
046 Ontologische Fragen sind sehr wichtig. Auch manche Denker der
047 Gegenwart, welche sich mit Ontologie beschäftigen, haben einen
048 starken Einfluß auf die philosophische Entwicklung unserer Tage
049 ausgeübt. Ich denke besonders an Nikolai Hartmann, dessen Werk
050 bereits in mehreren Auflagen vorliegt. Sein Ontologiebegriff ist
051 jedoch a-metaphysisch. Er erkennt nicht mehr an, daß Sein im
052 Grunde war, geordnet und gut ist. Vgl. auch Hartmann, Zur
053 Grundlegung der Ontologie 1941, 62. Gibt es nun ontologische
054 Fortschritte? Damit ist zuerst die Wissenschaft gemeint. Hat
055 die ontologische Wissenschaft dazu beigetragen, die
056 Weltwirklichkeit besser zu erfassen? Um hierauf eine Antwort zu
057 geben, muß man weit in die Philosophiegeschichte zurückgehen.
058 Schon vor der Zeitenwende gab es ja ontologische Denker. Damals
059 haben sich die meisten Mataphysiker mit dem Sein als solchem
060 abgegeben. Es ging ja gar nicht anders. Sie kamen mit ihren
061 Gedanken stets auf die Frage zurück: was ist die wahre
062 Wirklichkeit, was sind Wesen und echte Merkmale des Seins?
063 Und wo steckt seine Begründung, welches sind seine Ziele?
064 Gibt es ein letztes Ziel des allgemeinen Seins? Soviele Fragen,
065 soviele Antworten. Das eine steht fest: zu allen Zeiten hat
066 man ontologisch gedacht, mag man eine eigene Wissenschaft der
067 Ontologie auch erst im Spätmittelalter und im 17.Jahrhundert
068 erfunden haben. Hierzu verweise ich auf Werke von Coclenius und
069 Clauberg. Im Zuge der Trennung von Seinslehre und
070 Gotteslehre tauchte der Name Ontologie auf. Im Sprachgebrauch
071 war man unsicher. Clauberg schrieb 1664 von einer " Ontosophia
072 " und stellte sie der " Theosophia ", nämlich der Theologie
073 entgegen. Christian Wolff führte den Wortgebrauch weiter und
074 faßte unter Ontologie die Metaphysica generalis, wobei er die
075 metaphysischen Fragen nach Gott, Seele und Unsterblichkeit
076 ausschaltete. Aber schon Plato und Aristoteles, um nur zwei der
077 Frühen zu nennen, haben Ontologie betrieben. Plato forschte
078 nach der wahren Wirklichkeit und dem Sinn des Seins. Woher kamen
079 die allgemeinen Begriffe überhaupt, die Universalien, von denen
080 das Mittelalter sprach und auch die Neuzeit nicht müde wird zu
081 berichten? Er legte der Seele eine mystische Vorerinnerung
082 oder Rückerinnerung zu, die zurückgehen sollte auf ihr
083 vorirdisches Dasein. Was also der denkende Mensch über das
084 allgemeine Sein wußte oder wissen wollte, ging irgendwie zurück
085 auf eine Vorerfahrung, auf eine andersartige (bessere?)
086 Existenz. Nicht so Aristoteles. Er suchte in seinem ganzen
087 Leben nach dem höchsten Seinsprinzip, fand es zunächst in den
088 Wesenheiten der Natur, nahm dann einen neuen Anlauf und entdeckte
089 als dieses Prinzip das Sein: to on. Wo ist hier
090 Seinsvergessenheit? Bei den Alten bereits wird das Sein in
091 seiner ganzen Fülle erkannt. Es besteht nicht nur, wie bei
092 Heidegger, aus den inneren Korrelationen mit den Menschen, die
093 oft in die Irre oder ins Nichts führen. Sein ist nicht gleich
094 Nichts. Natürlich ist das allgemeine Sein " es selbst ",
095 Doch was ist mit solcher Tautologie gewonnen? Der Name der
096 Ontologie, das will ich grundsätzlich bemerken, sollte eine
097 umfassende Bedeutung haben. Er sollte nicht einer Wissenschaft
098 angehören, welche die ganze Seinsfülle nicht kennt. Dazu rechne
099 ich auch das personale Sein, das die gegenwärtige Ontologie
100 bisweilen ausläßt. Es zeigt - genau wie die Richtung auf das
101 unendliche Sein - die ganze Seinsfülle an. Rechte Ontologie
102 geht von einer realistischen Erkenntnislehre aus. Wer allein mit
103 Hilfe seines Kopfes die Welt messen will, verfehlt sie, muß
104 sich im Nebel der Unwissenheit verirren. Zutreffend hat V.
105 Rüfner (Zum Kampf um das Sein in der Philosophie der
106 Gegenwart, Bonn 1966, 115) gesagt, die Methode der
107 ontologischen Forschung sei schlicht, sie habe das reale Sein in
108 seinem Sinn zum ersten Ausgangspunkt. Sie verschmähe den Blick
109 auf das endlich Seiende und dessen ontologische Untersuchung nicht.
110 Sich damit abzugeben, also echte Regionalontologie zu betreiben,
111 sei keineswegs Seinsvergessenheit, sondern gerade umgekehrt,
112 Beachtung der Fülle des Seins und Beachtung der inneren
113 Verhältnisse von Unendlichkeit und Endlichkeit. Nach ihm führt
114 die echte Methode der Ontologie über die Betrachtung der obersten,
115 alle Endlichkeit überschreitenden Seinsmerkmale der Einheit,
116 Wahrheit und des Gutseins zum Religiösen. Ontologie ist jedoch
117 keine Religion oder ein Religionsersatz. Die "
118 existenzialistische Seinsandacht " will die Religion ersetzen,
119 kann es aber nicht, weil sie im Raum logischer Allgemeinheiten
120 hängen bleibt und die höhere Allgemeinheit, die in den Bereich
121 des Personalen eingreift, nicht kennt. Natürlich sind Personen
122 nie allgemein, sondern immer Individuen, wenn sich auch über
123 menschliche Personen Allgemeines sagen läßt. Das allgemeine
124 Sein, das Sein als Sein gilt es zunächst zu erfassen, soweit
125 dies möglich ist. Wir sehen die Wirklichkeit und ihr Sein. Wir
126 betrachten sie und stammeln. Wir sind verwirrt ob der Fülle der
127 mannigfachen Erscheinungen, die sich vor uns ausbreiten. Wir
128 erkennen, daß wir oft durch unsere Sinne getäuscht werden. Wir
129 fragen uns: vermögen wir alles Sein, die Hintergründe des
130 realen Seins, das allgemeine Sein, vielleicht in unendlicher
131 Transzendenz, überhaupt zu erahnen? Aristoteles (Metaphysik 1
132 2) meint, die Erkenntnis des Allgemeinen sei für den Menschen
133 besonders schwierig, weil sie sich von den Wahrnehmungen am meisten
134 entferne. Das ist richtig und unrichtig zugleich. Denn das
135 Allgemeine, etwa das allgemeine Sein, liegt ja aller
136 Wirklichkeit zugrunde. Täte es das nicht, wäre es kein " Sein
137 als Sein ". Wie soll man es aber genau erkennen, da es so vage
138 und unbestimmt ist? Eine Flüssigkeit, die sich in Millionen
139 Sachen befände, ist auch schwer bestimmbar, weil sie zu sehr
140 allgemein erscheint. Wenn dies aber so ist, läßt sich auch der
141 Satz vertreten, daß sie als allgemeine (oder quasi-allgemeine)
142 Flüssigkeit leicht zu umschreiben und zu erkennen sei, mag es
143 auch wenig exakte Merkmale geben, mit denen man die Beschreibung
144 vornehmen könnte. Man darf vielleicht sagen, das allgemeine Sein
145 ist einer notwendigen Flüssigkeit vergleichbar, ohne die kein
146 Einzelsein bestehen kann. Damit sind wir schon zu einer
147 wesentlichen Erkenntnis vom allgemeinen Sein - im Gegensatz zum
148 Einzelsein - gelangt: das allgemeine Sein ist, weil es so
149 leicht und gleichzeitig so schwierig bestimmbar, ein großes
150 Rätsel für uns Menschen. Es umgreift uns aber nicht nur, es
151 erfüllt uns ja ganz, weil es uns nirgends frei läßt, es erfaßt
152 unser ganzes ohnehin so rätselhaftes Wesen. Sollte es da selber
153 unverborgene Wahrheit, klare unzweideutige Erkenntnis und nicht
154 eher ein geheimnisvolles Rätsel sein? Hier keine
155 Rätselhaftigkeit anzunehmen, dürfte unwahrscheinlich sein! Die
156 Schwierigkeiten bei der Forschung der Ontologen beweisen es: man
157 kommt nicht dazu, die Hintergründe des allgemeinen Seins so zu
158 erklären, daß sein Ursprung und sein Wesen jedem " Fachmann
159 " begreiflich mitgeteilt werden könnte. Es gibt viel Verborgenes,
160 viel Unerforschtes und sicherlich auch Unerforschbares. Zunächst
161 wollen wir jetzt das allgemeine Sein so schlicht beschreiben wie nur
162 möglich. Das läßt sich sicher sagen, daß es alles Einzelsein
163 erfüllt. Dieses mag noch so vielfach geschichtet sein, es
164 partizipiert, hat stets Anteil am allgemeinen Sein. Es ist so
165 total, daß es nicht teilbar ist. Es ist auch ungemischt, weil
166 seine Existenz überall in jedem Einzelsein in Fülle konkret
167 vorhanden ist. Das allgemeine Sein verträgt keine
168 Zwischenträger, Verbindungen, Relationen, Mischungen,
169 Schichtungen usw.. Dafür ist es zu gewaltig, zu umfassend,
170 zu erhaben, zu absolut. Das allgemeine Sein stellt seine absolute
171 Präsenz jedem Einzelsein zur Verfügung. Dadurch daß es seine
172 Einzelnatur in der jeweiligen Art und Beschaffenheit ermöglicht.
173 Dadurch, daß es den Seinsablauf des Einzeldaseins aus sich
174 entläßt, begleitet und vielleicht beendet. Das allgemeine Sein
175 ist dem endlich Seienden immanent und transzendent. Es steckt in
176 jedem Einzelsein und geht selbstverständlich darüber hinaus, weil
177 es grenzenlos, absolut ist. Seine Unbegrenztheit erscheint indes
178 als bloße Annahme und Hypothese. Darüber finden wir schon
179 manches bei den Alten zu lesen, was uns Heutige noch angeht. Wir
180 stoßen z. B. auf Parmenides aus Elea (einer frühen
181 Stadt im griechischen Unteritalien), der um 500 v. Chr.
182 lebte. Parmenides, der so oft von Heidegger und anderen Modernen
183 zitiert wird, hat nur Fragmente seiner Lehre hinterlassen. Er
184 sagt uns, daß IST ist, als Ganzes, Eines,
185 Zusammenhängendes, vgl. H. Diels, Fragmente der
186 Vorsokratiker 1957, 45. Dieses allgemeine Sein ist nicht teilbar,
187 weil es ganz gleichartig und vollkommen ist. Darum heißt es S.
188 46: " Aber da eine letzte Grenze vorhanden, so ist es
189 vollendet von und nach allen Seiten, einer wohlgerundeten Kugel
190 -Masse vergleichbar, von der Mitte her überall gleichgewichtig.
191 Es darf ja nicht da oder dort etwas größer oder etwas schwächer
192 sein (...) " Dieser Sprung zur Grenze des allgemeinen Seins findet
193 unvermittelt statt. Warum sollte aber gerade das allgemeine Sein
194 sich selber vorschnell ein Ende setzen? Dann wäre es nicht
195 Eines, ein Allgemeines. Das hatte Melissos aus Samos erkannt,
196 der zur Zeit des Aristoteles lehrte. Er faßte die Seinsart des
197 in Beständigkeit seienden Seins als Unbegrenztheit auf, und zwar
198 in dreifacher Beziehung, wie Diels S. 52 mitteilt. Einmal
199 schließt das allgemeine Sein den Anfang und das Ende aus. Wie
200 könnte es durch Einzelsein begrenzt sein? Weiter ist es ständig:
201 folglich muß es an Größe ständig d. h. unbegrenzt sein,
202 Fragment 3. Dazu teilt Diels eine Bemerkung des Philosophen
203 Simplikios mit, der das Fragment überliefert hat: " Er
204 (Melissos) meint mit " Größe " nicht die räumliche
205 Ausgedehntheit, denn er zeigt ja selbst das Sein als unzerlegbar:
206 als " Größe " wird die vollkommene Hoheit des allgemeinen
207 Seins angegeben. " Das Fragment 7 handelt von dem leidlosen
208 Erhabensein des Seins. Darüber haben viele gesprochen und oft
209 (mit Heidegger) betont, das Sein sei undefinierbar. Das ist im
210 strengen Sinn richtig, denn in jeder Definition kommt das Sein
211 (" ist ") vor. Diese alte Lehre weist darauf hin, es gäbe
212 nichts, das noch umfassender wäre als das Sein: es überschreite
213 alle Genera und sei aller Umgrenzung gegenüber " transzendent
214 ". Das Mittelalter sprach von den Transzendentien. Wir gebrauchen
215 dafür seit der Zeit von Kant den Ausdruck " Transzendentalien
216 ". H. Conrad-Martius (Das Sein 1957, 20) geht auch
217 davon aus, weil nicht alle Urteile Existenzialurteile seien,
218 wobei sie sich auf die Logik von A. Pfänder bezieht. Sie
219 gelangt sogar zu dem überraschenden Ergebnis, nur das
220 unerschaffene Sein sei wirkliches " Dasein ". Sie schreibt S.
221 11: " Bei Gott sind Wesen und " Existenz " eins, beim
222 Menschen nicht. Gott ist " Existenz ", der Mensch
223 nicht. " Mit anderen Worten: Gott ist unvergänglich, das
224 endliche Seiende, wozu auch der Mensch gehört, dagegen ist
225 vergänglich. Die Unbegrenztheit des Seins, die gewiß seine
226 hohe Erhabenheit ist, kann kein Anlaß werden, den Menschen mit
227 der relativen Fülle seines personalen Seins von seinshafter
228 Existenz auszuschließen. Auch das Einzeldasein des Menschen hat
229 Anteil am allgemeinen, alles umgreifenden Sein. Wäre es anders,
230 bliebe er nur ein vergänglich Seiendes. Natürlich teilt er
231 nicht die Vollkommenheit des absoluten und unendlichen Seins, die
232 unteilbar ist. Sie gehört dem unveränderlichen Beweger,
233 nämlich Gott.
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