Quelle Nummer 451

Rubrik 13 : GESCHICHTE   Unterrubrik 13.03 : TEILGEBIETE

WIRTSCHAFTSGESCHICHTE
RUTH ENDRESS
UNTERNEHMER, MANAGER - ODER STAATSFUNKTIONAER?
DIE BEDEUTUNG DER SCHUMPETERSCHEN ENTWICKLUNGSPROG-
NOSEN FUER DIE GEGENWART
VERLAG LUCHTERHAND, NEUWIED UND BERLIN, 1971, 145-


001  Kapitalismus und Sozialismus - Modellvorstellungen
002  oder praktikable Gesellschaftssysteme und
003  Wirtschaftssysteme?
004  systeme und Wirtschaftssysteme schien längere Zeit durch die
005  Analysen von Sombart und Eucken im wesentlichen gelöst zu sein.
006  Der Zweite Weltkrieg verhinderte zudem den geistigen Austausch
007  zwischen den verfeindeten Staaten, so daß es begreiflich erscheint,
008  daß ein so bedeutendes Werk wie Schumpeters " Kapitalismus,
009  Sozialismus und Demokratie ", das 1942 in New York erschien,
010  in Deutschland jahrelang zu wenig beachtet wurde. Erst mit Beginn
011  der sechziger Jahre wandte sich das wissenschaftliche Interesse
012  verstärkt seinen Theorien zu. Die Wirtschaftswissenschaften
013  führten zunächst eine Verfeinerung und Mathematisierung der
014  Theorie durch, wobei das Modelldenken in den Vordergrund gestellt
015  wurde. In der Nachkriegszeit galt es vordringlich, den Anschluß
016  an die internationalen Forschungsergebnisse wieder zu gewinnen.
017  Die Systemtheorien waren dabei von untergeordneter Bedeutung. Es
018  herrschte die Meinung vor, daß die entscheidenden Gegensatzpaare
019  der Wirtschaftsordnung und Gesellschaftsordnung im
020  wesentlichen erkannt und ausdiskutiert seien. Die
021  Nachkriegsentwicklung mit dem Ost-West-Konflikt zeigte
022  die in der Theorie festgelegten unvereinbaren Gegensätze auch in
023  der Wirklichkeit mit zunehmender Deutlichkeit. Der " Eiserne
024  Vorhang " mit " hie West - gleich Kapitalismus, hie Ost -
025  gleich Sozialismus " unterstützte diese stagnierende Haltung.
026  Zu Beginn der sechziger Jahre konnten jedoch in den westlichen und
027  östlichen Staaten verwandte Entwicklungstendenzen und
028  Wachstumstendenzen beobachtet werden. Die Industrieproduktion
029  wuchs in beiden Systemen mit fast dem gleichen Tempo, allerdings
030  abhängig von der verschiedenen Ausgangsbasis, der Höhe des
031  jeweiligen Sozialprodukts. Innerhalb der beiden gegensätzlichen
032  Systeme traten immer deutlicher kontrastierende Spielarten in
033  Erscheinung: China und die Sowjetunion begannen ihre
034  verschiedenen Auffassungen als Konflikte auszutragen, und kleinere
035  Ostblockstaaten wie Jugoslawien, Rumänien oder Polen gingen
036  daran, ihre nationalen Vorstellungen vom Sozialismus zu
037  verwirklichen. Auf der westlichen Seite zeitigten unterschiedliche
038  Eingriffe von seiten des Staates in die Wirtschaft zur Vermeidung
039  von Arbeitslosigkeit, Bekämpfung der Geldentwertung oder
040  Verhinderung von Rezessionen ebenfalls stark auseinandergehende
041  Ausprägungen des Kapitalismus. Die Entwicklungsländer,
042  allmählich selbständig geworden, standen vor der Wahl des für
043  sie günstigsten Wirtschaftssystems und entschieden sich je nach
044  ihrer politischen und wirtschaftlichen Lage für Mischformen.
045  Dabei zeigte sich, daß eine stärkere Differenzierung der
046  Systemeinheiten, so z. B. zwischen Sozialismus und
047  Kommunismus, oder zwischen sozialer Marktwirtschaft und
048  " Planification " vordringlich wurde. Die Systemdiskussion wurde
049  zusätzlich durch kritische Fragestellungen aus dem Bereich der
050  Soziologie bereichert. Veränderungen in den Lebensformen
051  und Verhaltensformen zeigten das Problem des
052  Auseinanderklaffens zwischen den verfestigten
053  Gesellschaftsordnungen, die traditionell und rechtlich abgesichert
054  sind, und deren realen gesellschaftlichen Inhalten. Unter dem
055  Stichwort " sozialer Wandel " wird diese Phänomen zur Zeit
056  einer besonderen Analyse unterzogen. In der Folge der
057  Entwicklung ist es notwendig geworden, die de facto und de jure
058  Ausprägung der Systeme neu zu durchdenken. Den
059  Entwicklungsprozeß theoretisch und praktisch gestalten zu können,
060  erfordert eine erneute Auseinandersetzung mit den Systemen. Dabei
061  stößt man notgedrungen auf die Schumpetersche Analyse, was durch
062  die Vielfalt der Auseinandersetzungen mit den Schumpeterschen
063  Gedanken in jüngster Zeit nachgewiesen werden kann. Als
064  gefestigte Bestandteile dieser Untersuchungen, die sich immer
065  wieder an den Gedanken Schumpeters orientieren, kann man,
066  abgesehen vom wirklichkeitsfremden heuristischen Modelldenken, drei
067  Hauptrichtungen unterscheiden: Die Richtung der
068  autonomen Systemtheorien. Ihre Vertreter argumentieren vom
069  Standpunkt der Selbständigkeit zweier in sich geschlossener
070  Wirtschaftssysteme und heben die strukturellen Gegensätzlichkeiten
071  hervor. Sie sind meist bemüht, die Veränderungen in ihrem
072  Selbstverständnis als kontinuierliche Entwicklung der
073  Grundstrukturen zu begreifen. Da, wie schon Eucken hervorgehoben
074  hat, eine Interdependenz zwischen Wirtschaft, Staat und
075  Gesellschaft und deren Ausprägungen der Ordnungen besteht, kann
076  kein einzelnes Ordnungselement verändert werden, ohne
077  Rückwirkung auf die anderen. Die Entwicklung vollzieht sich in
078  diesem Sinne gemeinsam innerhalb der Strukturen. Dabei können
079  die Mittel der Wirtschaftspolitik und deren Einsatz gemäß dem
080  technisch-ökonomischen Entwicklungsstand variiert werden, aber
081  nur im Hinblick auf die konstant bleibenden Ziele. Die
082  Unvereinbarkeit beider Systeme und die prinzipiellen Unterschiede
083  werden in diesen Theorien besonders deutlich dargestellt. Ihre
084  Vertreter können bei aller prinzipiellen Objektivität meist nicht
085  leugnen, daß sie de facto bemüht sind, die Entwicklungschancen
086  des Systems, dem sie verhaftet sind, in seiner Eigenständigkeit
087  zu verteidigen, oder zumindest zu beweisen, daß das andere System
088  keine Lebensfähigkeit besitzt. Ähnlichkeiten, die sich mit der
089  Zeit einstellen, werden als nebengeordnete Größen gedeutet.
090  Die Richtung der Konvergenztheorien. Hier
091  wird eine gegenseitige Annäherung der Gesellschaftsysteme
092  und Wirtschaftssysteme aus rationaltechnischen Notwendigkeiten
093  angenommen, als Industrialisierungseffekt oder als Konsumeffekt.
094  Die vergleichbare Gestaltung des Wirtschaftsprozesses wird als
095  Übereinstimmungsfaktor gewertet. Die ähnlichen
096  Motivationen, Bedürfnisse und Verhaltensreaktionen der
097  Bevölkerung in den kapitalistischen und sozialistischen Staaten
098  bei ähnlichem technischem Entwicklungsstand, ähnlichem Pro-
099  Kopf-Einkommen und Lebensstandard bilden den Hintergrund für
100  die behauptete Aufeinanderzu-Bewegung der de-facto-
101  Systeme. Wie sich an historischen Beispielen immer wieder
102  nachweisen läßt, können ohne Unterstützung von unten und
103  Adaption der von oben gesetzten Ordnung durch weite Teile der
104  Bevölkerung unerwünschte Organisationsstrukturen und
105  Wirtschaftsstrukturen nur unter Zwang aufrechterhalten werden.
106  Mit dem steigenden Wohlstand, den die Massengüterproduktion zur
107  Folge hat und von dem sie auslösende Impulse erhält, ist der
108  Zwang als Eingriff in die persönliche Sphäre nicht mehr
109  plausibel zu vertreten. Die Industrialisierung mit dem erhöhten
110  Kapitaleinsatz zwingt aber, auch in den kapitalistischen Staaten
111  zunehmend langfristiger auf dem unternehmerischen und staatlichen
112  Sektor zu planen. Parallel hierzu führen im Sozialismus die
113  Industrialisierung und in deren Wirkungszusammenhang die
114  kostengünstigeren Güter der Massenproduktion zu einer
115  Liberalisierung der Konsumsphäre. Damit wird die strenge
116  Planung des Verteilungssektors gelockert. Die Produktion
117  nichtlebensnotwendiger oder in großer Zahl kostengünstig
118  erstellbarer Güter muß sich, soll sie absatzfähig sein, an den
119  Konsumentenwünschen orientieren. Der Freiheitsspielraum erfährt
120  so aus technisch-ökonomischen Gründen eine Erweiterung.
121  Durch die Vergrößerung der Konsumauswahl dehnt er sich
122  allmählich auch in andere Lebensbereiche aus. Das
123  Verbraucherverhalten ändert sich und beeinflußt den Lebensstil.
124  Die Richtung der systemimmanenten Übergangstheorien
125  Die Übergangstheorien stellen den Entwicklungsprozeß als
126  zwangsläufige Phasen eines der beiden " kontradiktorischen "
127  Wirtschaftssysteme und Gesellschaftssysteme in das andere
128  dar. Sowohl Marx als auch Schumpeter gehören zu den Vertretern
129  dieser Richtung. Sie kommen nach einer Analyse der
130  Entwicklungsgesetze zu dem Schluß eines systemimmanenten
131  Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Zu derselben
132  Vertretergruppe mit umgekehrtem Vorzeichen zählen jene
133  Theoretiker, die die Lebensfähigkeit des Sozialismus oder
134  Kommunismus in Frage stellen und die Ansicht eines allmählichen
135  Übergangs dieser Systeme in eine kapitalistisch fundierte
136  Gesellschaft erwarten. Dabei änderten sich die
137  Erscheinungsformen des Sozialismus und Kapitalismus je nach dem
138  Stand der realen Verhältnisse, in dem für beide Systeme typisch
139  angenommenen Ländern USA und UdSSR. Eine nähere
140  Analyse der Grundgedanken in den drei Hauptrichtungen läßt
141  entscheidende Bauelemente dieser Theorien sichtbar werden. Die
142  unter Punkt 1 dargestellten autonomen Richtungen versuchen, die
143  Phänomene des Wandels unter die Begriffe Frühkapitalismus,
144  Hochkapitalismus und Spätkapitalismus zu
145  subsumieren, denen dann die Phasen des Frühsozialismus,
146  Hochsozialismus und Spätsozialismus mit einem Time
147  -lag gegenüberstehen. Wie sich allerdings die jeweilige
148  Spätphase weiter entwickeln wird, bleibt meist offen. Die
149  Prognosezeiträume liegen zwischen 20 und 40 Jahren und enden damit,
150  daß zu diesem vorhergesehenen Zeitpunkt die gegenwärtigen
151  Probleme gelöst seien und alles gut, schön, und vor allem
152  humanitär sein werde. Die beiden Systeme werden bei dieser
153  Analyse auf ihre Grundstrukturen reduziert, und die Entwicklung
154  in der Vergangenheit wird als Grundlage für eine Prognose über
155  die Entwicklung in der Zukunft übernommen. Als wesentliche
156  Punkte werden für den Kapitalismus die Freiheitsidee, die
157  Orientierung am Marktgeschehen, an Konkurrenzgedanken und die
158  freie Arbeitsplatzwahl herausgestellt. Je nach der
159  wirtschaftlichen und politischen Entwicklung trägt der
160  Kapitalismus schwächer oder stärker ausgeprägte soziale Züge.
161  Er verändert dadurch sein äußeres Bild, das auch durch
162  nationale Eigenheiten und wirtschaftliche Voraussetzungen
163  verschieden geformt ist. Die soziale Marktwirtschaft wird so
164  gesehen als ein kapitalistisches System definiert, ebenso wie die
165  französische Planification oder die kapitalistischen Ausprägungen
166  Schwedens, Amerikas und Englands. Wendet man sich den
167  Grundstrukturen im wirtschaftlichen Bereich zu, so zielt die
168  kapitalistische Wirtschaftsordnung auf eine Güterversorgung des
169  Marktes bei möglichst geringfügigen staatlichen Eingriffen in das
170  Marktgefüge und Preisgefüge der Wirtschaft.
171  Einzelwirtschaftlich bedeutet dies eine freie Planung aller
172  Marktpartner - Planung von unten. Im Zusammenwirken der
173  einzelnen Pläne ergibt sich ein ex post quantifizierbarer
174  wirtschaftlicher Gesamtplan. Der Staat greift in zunehmendem
175  Maße zur Befriedigung der Kollektivbedürfnisse ein, beteiligt
176  sich aber am Wirtschaftsprozeß nur als Marktpartner und verhält
177  sich auch in Situationen, in denen er eine Monopolstellung
178  einnimmt, marktfreundlich. Er ist gehalten, soziale Härten
179  auszugleichen. Die Planung kann auch aus der Mitte erfolgen, d.h.
180  freiwillige Wirtschaftsverbände und Vereinigungen
181  erstellen für ihre Mitglieder Pläne, die sich am Marktgeschehen
182  orientieren, die aber in ihren Auswirkungen auch marktverändernd
183  wirken. Die Planung aus der Mitte ist der Planung von unten
184  vergleichbar; sie widerspricht nicht dem kapitalistischen
185  Systemgedanken, denn die Konkurrenz auf den Märkten und das
186  freie Eigentum bleiben erhalten. Es tritt nur ein Wandel der auf
187  dem Markt erscheinenden Gestalten als Konkurrenten ein. Anders
188  ist es bei der zentralen Planung durch den Staat. Der Spielraum
189  für die Betätigung auf den Märkten von seiten der Anbieter und
190  Nachfrager ist in diesem Falle begrenzt auf die Plandaten. Im
191  idealtypischen Falle gibt es in diesem Modell keinen Markt mehr.
192  Die Verteilung kann als Zuteilung erfolgen, das Leistungsprinzip
193  ist kein Anreizmittel mehr, sondern eine Sollvorschrift
194  oder Mußvorschrift. Die daraus folgende Begrenzung des
195  Freiheitsspielraumes für das Individuum, sei es in Form der
196  Beschränkung der freien Arbeitsplatzwahl, der Mobilität und der
197  eigenen unternehmerischen Tätigkeitsentfaltung oder durch den
198  Ausbau des Kontrollwesens, der Verwaltung und der Ausübung von
199  Zwang, führen zu einer Schwerfälligkeit des Systems, die es
200  zwar nicht funktionsunfähig werden läßt, aber doch Erschwernisse
201  für alle beinhaltet. Neben der Planung fällt der
202  Planabsicherung durch Gesetz eine wichtige Aufgabe innerhalb der
203  sozialistischen Wirtschaftsordnung zu. Während man in den
204  kapitalistischen Systemen bemüht ist, die Wirtschaftsgesetze so
205  zu entwickeln, daß der Wettbewerb auf dem Markt gesichert ist,
206  muß in den zentralgeplanten Verwaltungswirtschaften des
207  Sozialismus die Wirtschaftsgesetzgebung als Folge des Planes alle
208  Detailpläne umfassen und z. B. bis in das Strafrecht
209  hinein wirtschaftliches Verhalten regeln und ordnen. Sind die
210  Reglementierungen im Kapitalismus vor allem auf die Vermeidung von
211  monopoloiden Formen auf den Markt gerichtet, so existieren im
212  Sozialismus nur Zwangskörperschaften oder Staatsmonopole.
213  Das Planungselement ist also in beiden Wirtschaftssystemen
214  vorhanden. Aber das Planungsausmaß und die Planträger können
215  sich unterscheiden, ebenso wie die Form der Planung und die
216  Fristigkeit. Da die Verteilung einen wichtigen Einfluß auf
217  die Einzelpläne oder Gesamtpläne besitzt und das
218  Eigentum an Produktionsmitteln sich zumindest in der Verfügung
219  oder dem Zugriff der jeweiligen Planträger befinden muß, um die
220  Durchführung der Planung zu gewährleisten, wird von vielen
221  Theoretikern der Kapitalismus mit dem Privateigentum an den
222  Produktionsmitteln und einer ungleichen Einkommensverteilung
223  gleichgesetzt. Die Angriffe gegen den Kapitalismus werden meist
224  von diesem Ausgangspunkt geführt, da der Markt und das Eigentum
225  über den Wettbewerb dem Starken die größeren Chancen und
226  Möglichkeiten einräumen. Es wird auch von einer Zementierung
227  der Eigentumsverhältnisse ausgegangen, die im Kapitalismus dazu
228  führen, daß die Reichen immer reicher und die Armen relativ
229  immer ärmer würden. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die
230  Verteilung in jedem Wirtschaftssystem, unabhängig davon, nach
231  welchen Maßstäben sie gehandhabt wird, Ungerechtigkeiten in sich
232  bergen kann. Die Verteilung nach Bedarf setzt die Endlichkeit
233  der Bedürfnisse oder zumindest das raschere Wachstum der
234  Güterproduktion als das Wachstum der Bedürfnisse voraus;
235  abgesehen von einer allgemeinen Bedürfnisgleichheit und der
236  Unerschöpflichkeit der Produktionsmittel und Ressourcen. Die
237  Verteilung nach Nutzenvorstellungen setzt ebenso einen
238  durchschnittlichen Schlüssel für die Nutzenvorstellungen der
239  einzelnen voraus, wobei die Nutzenvorstellungen der
240  Wirtschaftssubjekte mehr oder weniger von den Durchschnittsnormen
241  differieren. Damit kann keine Erfüllung der subjektiven
242  Bedürfnisse erreicht werden. Eine Verteilung nach dem
243  Leistungsprinzip ergibt die Verfestigung der starken und schwachen
244  Positionen, ohne Rücksicht auf die verschiedenen
245  Startbedingungen und damit eine Ungerechtigkeit gegenüber den im
246  Arbeitsprozeß stehenden Schwächeren. Bei dieser Argumentation
247  wird übersehen, daß die kapitalistische Ordnung an keiner Stelle
248  die Häufung des Eigentums in den Händen weniger zum Ziel hat
249  und daß durchaus marktkonforme Maßnahmen entwickelt werden können,
250  die eine breite Eigentumsstreuung zur Folge haben, ohne daß
251  dadurch das Marktgeschehen direkt beeinflußt wird. Ebenso kann im
252  Sozialismus ein Bedarfsdeckungsschlüssel entwickelt werden. Die
253  Möglichkeit der indirekten Beeinflussungsmaßnahmen ist seit
254  Keynes von den Wirtschaftspolitikern und
255  Sozialpolitikern so weit ausgebaut worden, daß es schwer
256  verständlich ist, warum dem Kapitalismus immer wieder vorgeworfen
257  wird, er sei nicht in der Lage, das Verteilungsproblem gerecht zu
258  lösen. Der Kapitalismus muß sogar mit steigendem Wohlstand
259  darauf bedacht sein, eine breite Einkommensstreuung und
260  Vermögensstreuung zu erzielen, will er seine Maxime des
261  Leistungsanreizes weiterhin beibehalten. Aus den Eigeninteressen
262  der Arbeitnehmer bildeten sich in allen kapitalistischen Ländern
263  Gewerkschaften, die auf Grund ihrer Machtposition in der Lage
264  sind, der Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Arbeitseinkommen
265  entgegenzutreten, ohne daß man deshalb von sozialistischen Staaten
266  sprechen könnte. Die indirekt gesteuerten Maßnahmen des Staates
267  zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand führen im selben Sinne
268  zu einer Veränderung der Vermögensverteilung. Ähnlich ist die
269  Folge des progressiven Besteuerung der Einkommen, des Vermögens
270  und nicht zuletzt die Umverteilungswirkung der Erbschaftssteuer.
271  Die Körperschaftssteuer zielt ebenso auf die stärkere steuerliche
272  Belastung jener großen Unternehmungen, die als juristische
273  Personen geführt werden und damit auf die Belastung von deren
274  Eigentümern. Der Angriff auf die kapitalistische
275  Wirtschaftsordnung in den entwickelten Industrienationen wird auch
276  mit dem Argument der Umkehrung der Marktverhältnisse geführt.
277  Die Güterschwemme auf den Märkten, gerade im Sektor der
278  Massengüterherstellung, führt immer wieder zu dem Hinweis, daß
279  dies kein Käufermarkt mehr sei, sondern ein reiner
280  Verkäufermarkt. Die Angebotsseite befriedige nicht nur die
281  Bedürfnisse nach ihrem Gutdünken und ihren Vorstellungen,
282  sondern rufe sie erst hervor. In extremen Fassungen führt dies zu
283  der These " der Markt ist tot ". Die einseitige
284  Marktbeherrschung wird überpointiert und dem Konsumenten oder
285  Nachfrager nur noch die Rolle eines Abnehmers ohne Urteil
286  zugeschrieben. Aus dieser These wird geschlossen, daß nicht mehr
287  für vorhandene Bedürfnisse produziert werde, sondern daß die
288  Bedürfnisse über die Werbung initiiert und in der Weise
289  beeinflußt würden, daß schon vorhandene, produzierte Güter
290  nachträglich als Bedarf abgenommen würden und, daß zukünftige
291  Bedürfnisse neu geschaffen würden, gemäß den Vorstellungen der
292  produzierenden Industrie. Der technische Fortschritt könne sich
293  überhaupt nur dann fortsetzen, wenn immer neue Güter in die
294  Bedürfnisskala übernommen würden, d. h. daß sich die
295  Bedürfnisse von den alten Gütern weg, den neuen zuwenden
296  müßten und zusätzliche Bedürfnisse, die bisher gar nicht
297  bekannt waren, entstünden. Nur dann könne die
298  Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren unter den Bedingungen
299  des technologischen Fortschritts zugesichert werden.

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