Quelle Nummer 448

Rubrik 13 : GESCHICHTE   Unterrubrik 13.03 : TEILGEBIETE

ARBEITERBEWEGUNG
WILHELM MATULL
OSTPREUSSENS ARBEITERBEWEGUNG
GESCHICHTE UND LEISTUNG IM UEBERBLICK
OSTDEUTSCHE BEITRAEGE AUS DEM GOETTINGER ARBEITSKREIS
BAND XLIX, HOLZNER VERLAG WUERZBURG, 1970, 67-


001  Vom Weltkrieg zu Revolution, Kapp-Putsch und
002  Volksabstimmung 1914-1920. Es fällt heute schwer genug -
003  und erweist sich bei einer Enkelgeneration als nahezu unmöglich -,
004  Stimmung und Denkweise der Augusttage von 1914 nahezubringen.
005  Aus der zeitlichen Distanz von mehr als fünf Jahrzehnten, aus
006  inzwischen gesammelten leidvollen Erfahrungen werden kritische
007  Beurteilungen in eine Zeit zurückprojiziert, die unter solchen
008  Aspekten nicht gelebt hat. Staatliches Machtdenken in mitunter
009  nationalistischer Überspitzung, wirtschaftliches Expansivstreben,
010  naive Gläubigkeit an den Fortschritt, Überwältigung durch
011  Glanz und Gloria, auch ein etwas leichtsinniges Hineinleben in
012  den Tag, hatten die Risse und Zwiespalte überdeckt, die unter
013  der strahlenden Oberfläche vorhanden gewesen waren. Das Deutsche
014  Reich war weitgehend bürgerlich geworden, aber die politische
015  Struktur des Volkskörpers entsprach diesem gesellschaftlichen
016  Anpassungsprozeß keineswegs. Die Arbeiterschaft hatte sich zwar
017  bereits erheblich assimiliert, aber mit den Inhalten von Nation
018  und Vaterland nicht ernsthaft auseinandergesetzt. Als am 28.
019  Juni 1914 auf dem Balkan jene Schüsse gefallen waren, die
020  infolge der Unfähigkeit von Politikern und Diplomaten, des
021  Prestigedenkens und Allianzdenkens, den 1.Weltkrieg
022  auslösten, faßten die meisten Mitlebenden den Ernst der Stunde
023  nicht. Im patriotischen Jubel, in echter Begeisterung - und
024  zwar in allen beteiligten Ländern und nahezu bei sämtlichen
025  politischen Überzeugungen - glaubte jeder an seine gerechte
026  Sache und betete zu seinem Gott für sein Vaterland. Nur so ist
027  es zu erklären, daß auch die Sozialisten aller Länder in diese
028  Front einschwenkten und viele ihrer Anhänger sich sogar
029  kriegsfreiwillig meldeten - vom M. d. R. Ludwig
030  Frank bis zu Kurt Schumacher. Trotz alledem behält Werner
031  Näf Recht, wenn er subsummiert: " Der große Krieg von 1914
032  ist aufzufassen als Krisis eines ganzen Zeitalters mit allem, dem
033  Materiellen und dem Ideellen, das dieses Zeitalter in sich
034  schloß. An seinem Ausbruch war Stimmungsmäßiges stark
035  beteiligt: Machtbedürfnis und Prestigebedürfnis der
036  Staaten und der Wirtschaftskörper, die nervöse Reizbarkeit der
037  Einzelnen, der Zeitungen, der Massen. Und unentrinnbar zwang
038  die Mechanik der politisch-militärischen Maschinerie (...) die
039  Staaten in einen verhängnisvollen Zirkel. Der Krieg war 1914
040  nur zum kleinen Teile aus kaltblütigem Kriegswillen hervorgegangen;
041  er war vielmehr ultima ratio einer Politik (...) die ihn
042  schließlich nicht mehr vermeiden konnte. " Arbeiterbewegung
043  und Krieg. Am 26.Juli 1914 war Hugo Haase in das
044  Preußische Ministerium des Inneren gerufen worden und hatte dort
045  den vollen Ernst der Lage erfahren. Während Hermann Müller
046  (1876-1931, 1919 Reichsaußenminister, 1928 Reichskanzler)
047  nach Paris jagte, eilte Hugo Haase am 28.Juli nach Brüssel.
048  Als aber am 31.Juli in Paris der französische
049  Sozialistenführer JaurŠs ermordet wurde, hatte der Frieden
050  seine letzte Chance verloren. Aller Augen richteten sich bei den
051  deutschen Sozialdemokraten nun auf Hugo Haase. Er war mit dem
052  Ansehen des Parteivorsitzenden ausgestattet, er genoß als
053  Vorsitzender der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion große
054  Achtung, er hatte sich im Kampf gegen Imperialismus und Krieg
055  1907 in Stuttgart, 1913 in Bern und 1914 in Brüssel bewährt.
056  Ernest Hamburger kennzeichnet seine Besonderheit mit den Worten:
057  " Stark tritt in Haases Reden der pazifistische Gedanke
058  hervor, der weder in Marx' noch in Bebels Ideenwelt einen Platz
059  hatte. Er polemisiert gegen die Glorifizierung des Krieges, hebt
060  die Friedenssehnsucht der Völker hervor und sucht die
061  Begeisterung der Jugend auf kulturschöpferische Taten hinzulenken. "
062  Dieser Hugo Haase gab nun am 4.August 1914 im deutschen
063  Reichstag jene historisch gewordene Erklärung namens der
064  Sozialdemokraten ab: " Wir lassen in der Stunde der Gefahr das
065  eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im
066  Einklang mit der Internationale, die das Recht jeden Volkes auf
067  nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit
068  anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden
069  Eroberungskrieg verurteilen. Wir fordern, daß dem Kriege,
070  sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist und die Gegner zum
071  Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird, der die
072  Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht. " Eine Welle
073  der Zustimmung, ja Begeisterung lief nach dieser Erklärung Hugo
074  Haases durch Deutschland. Was die Öffentlichkeit damals nicht
075  wußte, war, daß Hugo Haase in der vorangegangenen
076  Fraktionssitzung vom 3.August zu den 14 Gegenstimmen gezählt
077  hatte, welche der Bewilligung der Kriegskredite nicht zustimmen
078  wollten, doch hatte er sich dem gegen 24 Stimmen beschlossenen
079  Fraktionszwang gefügt. Ernest Hamburger stellt dazu fest:
080  " Tiefe Tragik liegt über dem Leben Hugo Haases seit Ausbruch
081  des Krieges. Der Humanist haßte den Krieg und jede rohe Gewalt
082  im Volksleben und Völkerleben und ersehnte die
083  Völkerverbrüderung. Jetzt sah er die sozialdemokratischen
084  Arbeiter in nationaler Begeisterung und kriegerischer Stimmung ins
085  Feld rücken (...) " " Haase ist nie darüber hinweggekommen, daß
086  der sich zur Verlesung der Erklärung bestimmen ließ und sich
087  dadurch der Mißdeutung im Inland und Ausland ausgesetzt hat (...)
088  Die Ablehnung wäre eine Rebellion historischen Ausmaßes gewesen.
089  Zu einer solchen Revolte aber vermochte sich Haase nicht
090  durchzuringen. Er war sich der unabsehbaren Folgen einer
091  Sonderaktion für die Existenz der Gesamtpartei bewußt und
092  schreckte davor unter der Bürde seiner Verantwortung zurück. "
093  Differenzen und Abspaltungen. In Ostpreußen war die
094  Arbeiterbewegung dem allgemeinen Trend gefolgt. Der Ernst der
095  militärischen Lage für die Provinz ließ die Hochstimmung
096  oftmals moderierter erscheinen. Auch hatte Hugo Haase gerade in
097  Königsberg viele überzeugte Anhänger, die seine Haltung
098  nüchtern einzuschätzen wußten. Die Einberufungen zum
099  Wehrdienst legten das Organisationsgefüge für eine Weile lahm,
100  das eben erst eingeweihte Gewerkschaftshaus nahm als Lazarett die
101  ersten Opfer des Krieges auf. Nachdem die ersten Kriegsmonate
102  mit dem im Stellungskrieg erstarrten militärischen Siegeslauf in
103  Frankreich und der erfolgreichen Abwehr des Russeneinfalls in
104  Ostpreußen vorübergegangen waren, trat die Politik wieder in
105  ihre Rechte. Dabei wurde - wenn zunächst auch vorsichtig -
106  sichtbar, daß Risse in der am 4.August bekundeten
107  Einheitsfront vorhanden waren. Am 28.September 1914 hatte in
108  Berlin eine Konferenz von Redakteuren der sozialdemokratischen
109  Presse - auch Ostpreußen war vertreten - Leitsätze
110  künftiger Zeitungsgestaltung erarbeitet. Hiernach sollte in
111  stärkerem Maße eine sozialere Gestaltung der Wirtschaftspolitik
112  gefordert werden, dann aber auch eine schärfere Stellungnahme
113  " gegen Hurrapatriotismus, chauvinistische Treibereien und extreme
114  Annexionsgelüste " erfolgen. Bei der zweiten Bewilligung der
115  Kriegskredite gab es in der SPD-Reichstagsfraktion am 2.
116  Dezember 1914 bereits 17, am 18.März 1915 sogar 30 Gegner;
117  ihre Zahl sollte noch anwachsen. Über die Frage, ob die
118  Fraktionsminderheit auch im Reichstagsplenum offen dagegen stimmen
119  und ihre ablehnende Haltung gesondert begründen könne, kam es zu
120  wachsenden Auseinandersetzungen und immer tiefgehenderen
121  Differenzen. Darüber geben die Protokolle der Sitzungen von
122  Parteivorstand und Vorstand der Reichstagsfraktion hinreichende
123  Auskunft. Auch Abgeordnete und Funktionäre aus Ostpreußen
124  beteiligten sich an den erregter werdenden Debatten; jahrelange
125  Kampfgemeinschaften erkalteten und aus persönlichen Freunden
126  wurden sich heftig befehdende Gegner. Wie die Präsenzliste
127  ausweist, war Ostpreußen durch Hermann Linde, später durch
128  Friedrich Seemann, Westpreußen durch Julius Gehl vertreten.
129  In den Fraktionssitzungen mit dem Parteiausschuß der Jahre 1915
130  und 1916 haben auf der einen Seite Gustav Bauer, Otto Braun,
131  Carl Legien, Gustav Noske und Ludwig Quessel, auf der anderen
132  Seite Julian Borchardt und Hugo Haase gestanden. Bei einer
133  Tagung der preußischen Landeskommission der SPD am 14.und
134  15.Januar 1916 hat auch Adolf Hofer im Sinne der Opposition
135  Stellung genommen. Zum offenen Ausbruch des Konfliktes kam es am
136  20.Dezember 1915 und am 25.März 1916, als Hugo Haase
137  nacheinander den Fraktionsvorsitz und schließlich den
138  Parteivorsitz niederlegte. Im Protokoll der Fraktionssitzungen
139  vom 20.und 21.Dezember 1915 steht als gravierende
140  Äußerung von Hugo Haase vermerkt, " daß ein Teil der
141  Fraktionsmitglieder, zu denen er auch selbst gehöre, den inneren
142  Zwang fühle, diesmal nicht nur, wie bereits geschehen, in der
143  Fraktion gegen die Kredite zu stimmen, sondern auch im Plenum,
144  und daß sie ferner diesen ihren Standpunkt in einer kurzen
145  Erklärung zu präzisieren gedächten. " Damit war das Tischtuch
146  zerschnitten. Auch heute noch, nach mehr als einem halben
147  Jahrhundert, liest man die leidenschaftlichen Beschwörungen, die
148  gegenseitigen Vorwürfe und die Äußerungen zunehmender
149  Entfremdung mit Bewegung. Da heißt es z. B.: " Wer
150  an der Spitze der Partei steht, hat die Partei zusammen zu halten "
151  - wie es Bebel immer gefordert hatte -, da wird Haase
152  vorwurfsvoll gefragt: " Warum hat er das nicht alles früher
153  gesagt, warum hat er denn nicht schon früher die Konsequenzen
154  gezogen? " Nachdem sich bereits am 24.März 1916 eine
155  " Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft " im Reichstag
156  konstituiert hatte, kam es vom 6.bis 8.April 1917 in Gotha
157  zur Bildung einer zweiten sozialistischen Partei, der USPD.
158  Diese neue Parteigründung (Unabhängige Sozialdemokratische
159  Partei Deutschlands) erhielt aus manchen Bezirken starken Zulauf,
160  darunter auch aus Ostpreußen, wo Haases Persönlichkeit einen
161  starken Nimbus hatte. Wie in Berlin, Leipzig, Stuttgart und
162  andernorts kam es zu scharfen Auseinandersetzungen mit den
163  Zeitungsredaktionen. Auch in Königsberg schied die gesamte
164  Redaktion der " Königsberger Volkszeitung " mit Carl
165  Marchionini, Hans Marckwald und Hans Mittwoch aus. Die
166  Redaktionsgeschäfte übernahm 1916 Adolf Bartel aus Danzig.
167  Die Anhänger der USPD, die zunächst zur Darlegung ihres
168  Standpunktes auch in Ostpreußen Flugblätter und Broschüren
169  herausgebracht hatten, versuchten die Gründung eigener Zeitungen.
170  1917 wurde in Königsberg eine " Volksstimme ", in Elbing ein
171  Blatt gleichen Namens, in Danzig " Das freie Wort "
172  herausgebracht. Die Militärzensur ließ diese Organe nicht lange
173  bestehen; erst 1919 gelang es der USPD, die " Freiheit "
174  als " Organ der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei
175  Ostpreußens, Sozialdemokratische Zeitung für die Stadt
176  bevölkerung und Landbevölkerung Ostpreußens " dreimal
177  wöchentlich erscheinen zu lassen. Ihre Redakteure waren Hans
178  Mittwoch und Fritz Polenz. Als Verleger wird Otte Bröckel,
179  als Sitz von Schriftleitung und Expedition Hamannstraße 3 an der
180  Holzbrücke angegeben; gedruckt wurde die Zeitung in der
181  Bülowstraße 17. Der größte Teil der Parteimitgliedschaft in
182  Königsberg schloß sich der USPD an, darunter der Arzt
183  Alfred Gottschalk, der Gewerkschaftsvorsitzende Ferdinand
184  Mertins, die Parteisekretäre Franz Donalies, Marie Hartung,
185  Charlotte Melzer und ein beträchtlicher Teil der Intellektuellen,
186  aber auch der Industriearbeiterschaft. In den Jahren 1917/
187  18 versuchten die Militärbehörden viele ihrer Anhänger durch
188  Einberufungen zum Wehrdienst und Hilfsdienst aus der
189  politischen Betätigung zu entfernen. Das galt auch für
190  Anhänger der Deutschen Friedensgesellschaft und für Kreise,
191  die sich um den " Bund Neues Vaterland " gebildet hatten. Ein
192  Blick in die Protokolle der Parteitage der USPD März 1919 in
193  Berlin, November/Dezember 1919 in Leipzig und des zur
194  Spaltung führenden außerordentlichen Parteitages im Oktober 1920
195  in Halle, ferner in die 1922 entstandene " Geschichte der
196  USPD " von Eugen Prager zeigt, welche erhebliche Rolle aus
197  Ostpreußen stammende Vertreter wie Crispien und Haase, aber
198  auch Parteitagsdelegierte wie Gottschalk, Hofer, Linde,
199  zeitweise auch Ernst Meyer gespielt haben. Haases edle Gesinnung
200  und ehrliche Absichten haben die USPD nicht zur erhofften
201  politischen Bedeutung geführt. Nach seinem Tode blieb es das
202  Verdienst Crispiens, den kommunistischen Spalterversuchen, die
203  in Halle mit den sogenannten " 21 Bedingungen " durch Sinowjew
204  formuliert wurden, ein Nein entgegengesetzt zu haben. Nachdem
205  sich für die Unterwerfung unter die russischen Bedingungen 236
206  Delegierte ausgesprochen hatten, während 156 sie ablehnten, war
207  der USPD der Todesstoß versetzt worden. Ein großer Teil der
208  Mitgliedschaft füllte die Kader der KPD zur Massenpartei auf,
209  wohingegen zahlreiche Führungskräfte 1922 in die wiedervereinigte
210  SPD zurückkehrten. Aus den in der Bremer Staatsbibliothek
211  vorhandenen Exemplaren der Königsberger " Freiheit " von 1919
212  bis 1922 ist dieser Weg der USPD von berechtigter Kritik 1914
213  über unzutreffende Einschätzung der Lage 1918 bis zum
214  resignierenden Ende 1922 deutlich abzulesen. Der aus
215  Meinungsverschiedenheiten und Zwistigkeiten entstandene
216  Bruderkampf hat zu einer erheblichen Schwächung der
217  Arbeiterbewegung und damit zur Nichtwahrnehmung ihrer Chancen nach
218  1918 geführt. Die Abschiedsnummer der " Freiheit " vom 30.
219  September 1922 begrüßt zwar die hergestellte Einigung und
220  wünscht " einen Strich unter das Vergangene " zu machen,
221  bedauert auch die " unseligen Fehden " und den lange
222  " unheilbaren Bruderzwist ", nährt aber auch weiterhin
223  Vorstellungen von " Treue dem revolutionären Klassenkampfe, von
224  dem wir bei der Verschmelzung nichts aufgeben, den wir
225  hinübernehmen in die geeinte große sozialistische Partei des
226  klassenbewußten Proletariats ". Der Weg zur Mitarbeit in der
227  Weimarer Republik sollte jedoch ein evolutionärer und
228  reformistischer werden. Bei der Mehrheitssozialdemokratie in
229  Ostpreußen waren in den Städten und erst recht in den kleineren
230  Gemeinden viele jahrelang bewährte Kräfte verblieben. Aus ihrem
231  Kreis seien genannt: Borowski, Drey, Fürst, Jessner,
232  Kablau, Kriese, Krüger, Kunze, Legatis, Lübbring,
233  Michelis, Seemann, Schikorr, Schöndörffer, Stamer, Stern,
234  Werner und Will. An dem SPD-Parteitag vom 14.bis 20.
235  Oktober 1917 in Würzburg haben als Delegierte aus
236  Ostpreußen Friedrich Kriese, Joseph Lübbring, Friedrich
237  Schikorr und Friedrich Seemann teilgenommen. Inzwischen hatte
238  sich die Kriegslage und erst recht die Ernährungslage
239  Deutschlands verschlechtert. Bemühungen, in Preußen, wo noch
240  immer ein überständiges Klassenwahlrecht galt, ein gleiches
241  Wahlrecht einzuführen, scheiterten ungeachtet des rührigen
242  Einsatzes von Otto Braun. In der Bevölkerung der Städte,
243  erst recht in der Fabrikarbeiterschaft begann es zu gären. Die
244  " Königsberger Hartungsche Zeitung " der Jahrgänge 1917 und 1918
245  ist angefüllt mit Berichten über die Epidemie einer " spanischen
246  Krankheit " ((math.Op.) Grippe), mit Hungerkrawallen, Aufrufen zur
247  " Laub-Heusammlung " oder " Sammelt die Kirschkerne! "
248  Notizen über " fleischlose Wochen " oder " Zuteilungen von
249  nicht zuckerhaltigen Aufstrichmitteln " und Bekanntmachungen
250  " über Enteignung getragener Schuhwaren, Altleders und gebrauchter
251  Waren aus Leder ". In dieser bereits äußerst angespannten
252  Situation mußte es auch für gemäßigte Kreise wie eine
253  Provokation wirken, als sich am 2 VO September 1917 in
254  " Königsberg i. Pr., im Yorcksaal der ostpreußischen
255  Landschaft, am Tage von Sedan ", ein Kreis zur " Gründung
256  der Deutschen Vaterlandspartei " zusammenfand. 1.
257  Vorsitzender wurde Großadmiral von Tirpitz, 2.Vorsitzender
258  Generallandschaftsdirektor Kapp. In einem Aufruf lehnte man die
259  Friedensresolution " der gegenwärtigen Reichstagsmehrheit " ab,
260  beklagte die " Kämpfe um Verfassungsfragen " im Parlament, die
261  " eine Gefährdung des Vaterlandes und eine, wenn auch nicht
262  gewollte, Förderung unserer Feinde " darstellten. Noch am 25.
263  Juni 1918 verwahrte sich diese " Vaterlandspartei " gegen
264  Ausführungen des Staatssekretärs von Kühlmann im Reichstag,
265  " die darin ausgelegt werden müßten, daß an einer siegreichen
266  Durchführung des Krieges durch den Erfolg unserer Waffen
267  Zweifel möglich seien ".

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