Quelle Nummer 433
Rubrik 14 : VOLKSKUNDE Unterrubrik 14.00 : VOLKSKUNDE
FALKENSTEINER PROTOKOLLE
WOLFGANG BRUECKNER (HRSG.)
FALKENSTEINER PROTOKOLLE, HERAUSGEGEBEN UND BE-
BEITET VON WOLFGANG BRUECKNER
FRANKFURT AM MAIN 1971, S. 95-
001 Erkenntnisziele und Aufgaben einer Volkskunde als
002 Kulturanthropologie (Beitrag mit nur indirektem Bezug auf die
003 Papier-Auseinandersetzungen und nicht als Antwort darauf oder
004 parteilicher Positionsbezug gedacht, sondern als möglicher
005 Standort unserer Disziplin reflektiert). Vorspann:
006 Wissenschaft setzt ein Erkenntnisziel voraus, d.h.
007 ein zu erkennendes Objekt. Das Erkenntnisziel ergibt sich
008 für den Fachwissenschaftler aus (ungelösten) Problemen
009 und einem für die Lösung kompetenten Gegenstandsbereich.
010 Das Problem ist zunächst ein außerwissenschaftliches
011 Problem, dem das Erkenntnisinteresse gilt. Eine Lösung ist
012 dem Fachwissenschaftler nur innerhalb seiner (erweiterungsfähigen!)
013 Kompetenz möglich. Damit stellt sich ihm das
014 außerwissenschaftliche Problem als ein fachwissenschaftliches
015 Problem mit dem fachwissenschaftlichen Erkenntnisziel zur
016 Lösung. Das fachwissenschaftlich lösbare Problem ist somit
017 vom Gegenstandsbereich des Wissenschaftlers abhängig und setzt zur
018 Lösung theoretische Konzeptionen (Hypothesen über das
019 zu erkennende Objekt) und diese überprüfende
020 Forschungstechniken voraus. Sowohl die Theorien als auch
021 die Forschungstechniken innerhalb eines Faches ändern sich (oder
022 sollten sich ändern) durch den akkumulativen Prozeß der intra
023 disziplinären und interdisziplinären Erfahrungs
024 anreicherung. Sie sind als übertragbare und nicht als
025 fachspezifische zu betrachten. Das wissenschaftliche
026 Selbstverständnis eines Faches erfordert fachspezifische
027 Kompetenz in einem Gegenstandsbereich und ein fachspezifisches
028 Erkenntnisziel, das es zur Teilhabe an der interdisziplinären
029 Lösung von Problemen berechtigt. Jedes Fach bedarf der
030 ständigen kritischen Reflexion seiner Wissenschaftler, ob
031 es seiner Aufgabe gemäß zur wissenschaftlichen Lösung von
032 Problemen kompetent ist, d.h. ob sein Erkenntnisziel
033 überhaupt mit den erforschten Objekten seines Gegenstandsbereiches
034 kongruent ist, und ob in ihm die für sein zu erkennendes Objekt in
035 anderen Fachwissenschaften erkannten bestimmenden Faktoren kritisch
036 reflektiert, sowie neue Hypothesen und Forschungstechniken
037 überprüft werden. Die wissenschaftliche Verantwortung des
038 Wissenschaftlers fordert, daß er das pragmatische Ziel
039 (Lösung des außerwissenschaftlichen Problems) nur auf dem
040 wissenschaftlichen Weg der Erkenntnisfindung sucht; die
041 gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers fordert, daß
042 er seinen Beitrag zur praktischen Lösung des Problems durch
043 aufklärende Bewußtseinserhellung leistet, während ihm die
044 eigentliche praktische Durchführung, für die zumeist von
045 verschiedenen Fachbereichen die Möglichkeiten erkannt und bewußt
046 gemacht werden, im allgemeinen vorbehalten bleibt.
047 Wissenschaftlich und gesellschaftlich verantwortungslos handelt
048 jeder Wissenschaftler, der in der notwendig popularisierenden, d.h.
049 vereinfachenden Darstellung des von ihm untersuchten
050 Phänomens in der breitenwirksamen Aufklärungsarbeit dessen
051 Stellenwert im Gesamt des zu erkennenden Objekts nicht angibt und
052 damit manipulativ verfälscht. Wissenschaftliche und
053 gesellschaftliche Aufgaben sind eine interdependente Forderung,
054 solange Gesellschaft nicht systemimmanent gesehen wird. Da wir mit
055 unseren " Vorerfahrungen " aber immer systemimmanent geprägt sind,
056 müssen wir bereit sein, auch unsere - von der vorerfahrenen
057 Theorie einer " gelungenen " Gesellschaft (doch wohl als
058 Synthese satisfaktionierter, d.h. " glücklicher ",
059 " unbeschädigter " Menschen zu denken) ausgehende -
060 gesellschaftliche Aufgabe immer wieder anhand der wissenschaftlichen
061 Erfahrungsmöglichkeiten zu überprüfen. Das " Sehen " von
062 (außerwissenschaftlichen) Problemen, die gesellschaftliche
063 Relevanz haben und im jeweiligen Fachgebiet lösbar oder mit
064 lösbar sind, setzt zweierlei voraus: daß ein
065 Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers überhaupt vorhanden ist,
066 und daß er die für dessen Lösung nötige wissenschaftliche
067 Kompetenz hat oder sich aneignet. Versuch einer
068 fachspezifischen Erläuterung:. Das zu erkennende Objekt
069 unseres Faches bestimmt sich aus unserer Position in den
070 anthropologischen Wissenschaften mit dem Erkenntnisziel: der
071 Mensch. Weiterhin aus unserer Position in den
072 Gesellschaftswissenschaften mit dem Erkenntnisziel: der Mensch
073 als Gesellschaftswesen. Schließlich aus dem daraus spezifizierten
074 Erkenntnisziel: der Mensch als Kulturwesen. Wie sich
075 bei den übergreifenden Bereichen Anthropologie und
076 Gesellschaftswissenschaft das Erkenntnisziel im Namen dokumentiert,
077 müßte sich dies auch im Namen jeder Disziplin zu erkennen geben.
078 Hier stocke ich bereits bei der Vielzahl der Namensangebote und
079 dem bisherigen Namen. Hat unser Fach " Volkskunde " das im
080 Namen dokumentierte Erkenntnisziel wissenschaftlich zu erkennen
081 versucht? Nein! Erkenntnisziel und die untersuchten Objekte
082 seines Gegenstandsbereiches standen in keiner Kongruenz. Das
083 außerwissenschaftliche " Problem Volk " wurde zum
084 pseudowissenschaftlichen Erkenntnisziel, da die Lösungsangebote
085 der wissenschaftlichen Kompetenz entbehrten: d.h. es
086 wurden intradisziplinär weder Versuche unternommen, die
087 " Hypothese Volk " (als ethnos, demos oder laos) methodisch zu
088 überprüfen, noch überhaupt die für eine Analyse des Komplexes
089 Volk notwendigen Komponenten - nämlich die ein solches
090 konstituierenden Menschen - einzubeziehen. Die wissenschaftliche
091 Analyse umfaßte ausschließlich die Objektivationen des Menschen
092 als erga, aber als Erkenntnis wurde energeia (" Volk ")
093 verkündet: Volks-Kunde Das sich wissenschaftlich
094 ergebende " Problem Volk " wurde nicht gelöst: das
095 außerwissenschaftliche (systemimmanente) Problem und pragmatische
096 Ziel " Volk " - als eine politisch erstrebte, harmonierende
097 und sich als Einheit empfindende menschliche Gruppierung - wurde
098 nicht als zu überprüfende Hypothese genommen, sondern als zu
099 bestätigende Tatsache gesetzt, der die pseudowissenschaftliche
100 Bewußtseinsbildung galt. Daraus ergibt sich meine These:
101 Wir sind nicht mehr bereit, uns mit dem explizit in unserer
102 bisherigen Fachbezeichnung ausgedrückten Erkenntnisziel " Volk "
103 unserer Disziplin zu identifizieren. Diese These intendiert,
104 daß - nomen est omen - eine Fachbezeichnung den
105 Gegenstandsbereich und das Erkenntnisziel erkennen lassen muß und
106 damit ausdrückt, zur Lösung welcher Probleme es kompetent ist.
107 Aus diesem Grunde bin ich skeptisch, wenn wir bei einer
108 Umbenennung das deutsche Wort " Volk " durch ein Fremdwort wie
109 " ethnos " oder " populus " ersetzen. Zwar sind diese als
110 Begriffe semantisch besser umrissen, aber können und wollen wir
111 bereit sein - mit Hilfe unseres Gegenstandsbereichs - als
112 Erkenntnisobjekt menschliche Gruppierungen zu setzen, die sich in
113 ihrem Selbstverständnis als von gemeinsamer Abkunft, Herkunft
114 und Kultur (ethnos) bezeichnen oder als größere Menschenmenge
115 in einem (politisch) abgegrenzten Gebiet (populus) zu bezeichnen
116 sind oder einen massenhaften, als soziale Unterschicht zu
117 bezeichnenden, Ausschnitt aus populus (= Bevölkerung)
118 darstellen (populus in seiner semantischen Spezifizierung und
119 gleichzeitig Verwischung)? Sogar die Berechtigung der
120 ursprünglichen Völkerkunde, sich als Ethnologie zu bezeichnen
121 (aus der Untersuchung verhältnismäßig introvertierter
122 Gruppierungen), eliminiert sich immer stärker, was auch dort
123 vielfach zu einer Namensreflexion und Namens revision
124 führt. Sollen wir nun einen Namen übernehmen - Ethnologie -
125 der einerseits im Bereich der Wissenschaften besetzt und definiert
126 ist und der uns zum anderen von vornherein mit einer Aufgabe
127 konfrontiert, deren Lösung in unserem überwölbenden
128 Gegenstandsbereich - den europäischen
129 Zivilisationsgesellschaften - unmöglich ist. Wie ethnos ist
130 auch populus in seiner Bedeutung aufgrund der Durchlässigkeit
131 von populus in seiner Bedeutung nicht isoliert zu betrachten.
132 Und wenn wir populus als Bevölkerung definieren, dann erhebt sich
133 ja wohl die Frage nach unserem fachspezifischen Erkenntnisziel in
134 Hinblick auf diese Bevölkerung. These: Wenn wir
135 weiterhin als Disziplin existent bleiben wollen, müssen wir den
136 theoretischen und praktischen Beweis unserer Daseinsberechtigung
137 neu erbringen und pointiert verdeutlichen. Wir müssen unser
138 spezifisches Erkenntnisziel und den damit aus Kompetenzgründen
139 verbundenen Gegenstandsbereich erkennbar machen - und das bereits
140 in der Fachbezeichnung. Trotz aller " Verirrungen " waren der
141 Gegenstandsbereich unseres Faches immer kulturelle Systeme und
142 Erscheinungen in ihrer Bedeutung für den Menschen. Das - oft
143 wissenschaftlich übersehene - Problem liegt in dem
144 Begriff " Bedeutung ". Daß wir zum Bereich der
145 anthropologischen Wissenschaften gehören, wenn wir dem Menschen
146 das Primat vor seinen Schöpfungen geben, wird wohl nicht
147 bestritten werden. Wenn wir darüber hinaus als unseren
148 spezifischen Gegenstandsbereich den " Menschen und seine Kultur "
149 bezeichnen, ergibt sich als Abstraktum des Erkenntnisziels die
150 Bedeutungs-Interdependenz von Mensch und Kultur. Diesem
151 Erkenntnisziel geht zunächst eine Definition der Kultur
152 voraus, die wir als falsifizierbare Arbeitshypothese ansetzen
153 müssen. Wenn wir Kultur als ein vom Menschen bedingtes und ihn
154 bedingendes symbolisches System von dargestellter und
155 verhaltensfordernder Umweltbedeutsamkeit definieren, sagt dies
156 zunächst noch nichts über den Anteil des Kulturellen an der
157 menschlichen Daseinsführung gegenüber anderen anthropologischen
158 Komponenten aus. Diesen Anteil zu ermitteln betrachte ich eben
159 als unser spezifisches anthropologisches Erkenntnisziel und deshalb
160 als kultur-anthropologisches Erkenntnisziel. Da als
161 Voraussetzung der anthropologischen Erkenntnisfindung eine
162 interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig ist, setzt der kultur
163 -anthropologische Beitrag eine Kenntnisnahme der Hypothesen
164 anderer anthropologischer Disziplinen voraus. Danach kann der
165 Mensch als ein bio-physisch anlagebedingtes Wesen betrachtet
166 werden, dem ein soziales (zu sozialer Satisfaktion: soziale
167 Umwelt schaffendes) ein ökonomisches (zu wirtschaftlicher
168 Satisfaktion: wirtschaftliche Umwelt schaffendes) und ein
169 kulturelles (zu kultureller Satisfaktion: symbolisch gedeutete
170 Umweltschaffendes) Potential zugeschrieben werden muß.
171 Gesellschaft - als menschliche Gesellschaft - wird von diesen
172 menschlichen Potentialen bestimmt, wirkt aber gleichzeitig - als
173 objektiviertes System - auf den Menschen zurück. Folgendes
174 Schema charakterisiert den " Kreislauf " und markiert unseren
175 spezifischen Gegenstandsbereich (B = biolog.-physisches
176 Potential, M = Mensch, N = natürliche Umwelt, K =
177 kulturelle Setzungen, S = soziale Setzungen, W =
178 wirtschaftliche Setzungen) (Abb.) Dieses Schema geht von der
179 Konzeption eines bio-physischen Menschen mit der Anlage zu
180 kulturellem, sozialem und wirtschaftlichem Handeln aus. Die
181 Sphären K, S und W, N durchbrechend, greifen ineinander und
182 sind voneinander abhängig. Sie wirken auf B - bereits in ihrer
183 Verflechtung - rück, sodaß M in seiner Realität nur als
184 Kompositum aus B (math.Op.) (N durchbrechend) K (math.Op.) S (math.Op.) W
185 verstehbar wird. Wenn wir also den Abschnitt M-K untersuchen,
186 sind die übrigen Komponenten als Variablen einzubeziehen.
187 These: Diese Ausführungen intendieren die Bezeichnung
188 Kulturanthropologie, zunächst abgesehen von den bisherigen
189 " Besetzungen " des Namens, mit dem Erkenntnisziel der Grade
190 einer Interpenetration von Mensch und Kultur. Hier ist es
191 notwendig, sich mit den Gegenargumenten auseinanderzusetzen, wobei
192 ich zunächst nur die innerhalb unseres Faches vorgebrachten
193 Gegenargumente aufführe. Die Gegenpositionen, die aus einer
194 tatsächlichen kritischen Auseinandersetzung mit den bisher
195 gehandhabten Kulturanthropologien hervorgehen, behandele ich
196 später. Die hauptsächlichen Gegenargumente - meist
197 unverbindlich verbal vorgetragen - zielen auf den " zu umfassenden "
198 Anspruch des Namens. Einmal wird argumentiert, daß dann auch
199 " oberschichtliche " und " gesamtkulturelle " Erscheinungen
200 einbezogen werden müßten. Und ich frage sie: warum nicht?
201 Gerade in der künstlichen (unter normativen Einflüssen stehenden
202 und nicht von einer wissenschaftlichen Objektivität ausgehenden)
203 Trennung einer sog. " Volkskultur " von einer sog.
204 " oberschichtlichen " Kultur und einer als Normensystem eine
205 Gesamtbevölkerung erfassenden Kultur lag der größte Fehler der
206 Volkskunde. Der Fehler ist vor allem auf die
207 Objektivationsforschung zurückzuführen, die aber gleichzeitig
208 " Haltungs"erklärung sein sollte. Das für die untersuchten
209 Gegenstände vielleicht einwandfreie Lösungsergebnis wurde
210 kurzgeschlossen auf ein pragmatisches Ziel (" Volkshaltung ")
211 übertragen, dem kein wissenschaftliches Erkenntnisobjekt entsprach.
212 Dieser Kurzschluß, dem die ideologische Setzung einer
213 " Volksleistung " vorausging, ist Zeichen für die wissenschaftlich
214 unsaubere Reflexion des Erkenntnisziels. Die Folge war eine
215 systempolitisch erwünschte Aufklärung zur praktischen Lösung von
216 Problemen, aber deshalb eine - wissenschaftlich betrachtet -
217 falsche Aufklärung, die sich - außerwissenschaftlich, aber
218 gesamtgesellschaftspolitisch betrachtet - nicht nur als
219 Fehlleistung sondern als Katastrophe erwies. Hätte sich der
220 kulturelle Objektivationen untersuchende Volkskundler im Rahmen
221 seiner wissenschaftlichen Kompetenz bewegt, d.h. die
222 Erkenntnisobjekte (Märchen, Lieder, Kunstwerke, Bräuche
223 usw.) als Erkenntnisziele behalten (wie z.B.
224 Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Musikgeschichte usw.)
225 hätte er - vielleicht nicht so gesellschaftspolitisch relevant,
226 aber auch nicht so " falsch " - mehr zu einer Aufklärung
227 beitragen können - und hat es als " bescheidener " Volkskundler
228 auch getan. Der " gefährliche " Volkskundler war derjenige mit
229 pragmatischen Zielen: d.h. derjenige, der die
230 " Glückseligkeit " des Menschen zu seinem pragmatischen Ziel erhob,
231 aber das - außserwissenschaftliche - Problem des nicht
232 satisfaktionierten Menschen wissenschaftlich inkompetent löste.
233 Wenn wir nun allerdings davon ausgehen, daß unsere Wissenschaft
234 als Erkenntnisziel den Menschen in seiner kulturellen Bedingtheit
235 hat und uns dem pragmatischen politischen Ziel einer
236 " Humanisierung " der Bedingungen nicht verschließen wollen, muß
237 auch unser Gegenstandsbereich von den vom Menschen abstrahierten
238 kulturellen Objektivationen auf die zu diesen Objektivationen
239 führenden und von ihnen bestimmten " Haltungen " oder
240 " Einstellungen " erweitert werden. Wenn wir soweit sind,
241 entfällt die " Angst " vor sog. " hochkulturellen "
242 Objektivationen, da sie wie die sog. " volkskulturellen " nur
243 als Darstellungsfaktoren menschlichen Kulturverhaltens gesehen
244 werden und wir unser Erkenntnisziel nicht von vornherein durch die
245 Trennung des Erkenntnisobjektes in 2 Sorten von Menschen,
246 nämlich oberschichtliche und andersschichtliche (Volksschicht,
247 Unterschicht, Grundschicht usw.) mit hypothetisch jeweils
248 verschiedenen kulturellen Haltungen, verfälschen können. Selbst
249 wenn von anderen Disziplinen Oberschicht und Unterschicht als ein
250 z.B. sozial oder wirtschaftlich relevantes Faktum erkannt
251 wurde, können wir dieses nicht unüberprüft als kulturelles
252 Faktum konstatieren. Aus diesem Grunde wende ich mich auch
253 dagegen Volkskunde - in einer etwas umständlichen Namensgebung
254 - als " Soziologie des Alltags der unteren oder unterdrückten
255 Gesellschaftsschichten " (R. Narr) zu sehen. Das wäre -
256 auch schon längst wahrgenommene - Aufgabe der (richtig!)
257 Soziologie, die sich, von der Gesamtheit des Faches her
258 betrachtet, wohlweislich vor einer a priori gesetzten 2-
259 Schichten-Theorie (oder Klassen)-Theorie
260 hütet und (abgesehen von systempolitischen pragmatischen Zielen
261 unter Umgehung der Erarbeitung des wissenschaftlichen
262 Erkenntnisziels bei einzelnen Wissenschaftlern) auch die sozialen
263 Formen des Herrschens und Beherrschtwerdens zum
264 Untersuchungsgegenstand macht. Wollen wir nun einen Rückfall
265 in eine Zweischichten-Theorie erleiden, die zwar von anderen
266 weltanschaulichen Prämissen ausgeht, aber ebenso dogmatisch und
267 mit wissenschaftlichem Prüfungsverbbot im Raum steht und
268 aufgrund eines falschen wissenschaftsgeschichtlichen Bildes von
269 unserem Fach (denn es wurden weder die Wiederspiegelung des
270 Alltags untersucht noch unterdrückte Schichten - beides paßte
271 nicht in die nationale und ästhetisierende Harmoniekonzeption der
272 ehemaligen engagierten Volkskundler) uns endgültig einer eigenen
273 Disziplin begeben, indem wir das soziale Sich-Verhalten als
274 einziges Erkenntnisziel sehen und uns in diesem Bereich der
275 Soziologie einen angeblich unbesetzten bescheidenen Platz zu
276 erobern hoffen, der längst mit wesentlich mehr Kompetenzen besetzt
277 ist. Skeptisch bin ich auch gegenüber den Versuchen, Volkskunde
278 als Subkultur-Forschung (D. Kramer) zu deklarieren,
279 zumal wenn auch hier, da " der Begriff " Subkultur " (...) das
280 Vorhandensein einer größeren Einheit " Kultur " " impliziere
281 und letztere als " Kultur der Herrschenden (Fiktion) " im
282 Gegensatz zur " Subkultur der Beherrschten (Wirklichkeit) "
283 zu bezeichnen sei, mit einer ähnlichen Zwei-Schichtensetzung
284 Kultur gearbeitet wird. Dies übrigens nur eine der
285 Möglichkeiten Kramers, Subkultur zu definieren, die anderen
286 Konzeptionen (gewonnen an soziologischen und
287 gesellschaftskritischen Definitionsversuchen), halten sich -
288 ohne allerdings darauf zu reflektieren - enger an den von der
289 anthropologischen Philosophie und empirischen Kulturanthropologie
290 gegebenen Kulturbegriff als eines Konfigurationssystems, wenn es
291 heißt " Der Subkultur-Begriff zwingt geradezu, dem
292 Systemcharakter kultureller Gebilde nachzugehen und die
293 gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Faktoren zu
294 berücksichtigen ".
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