Quelle Nummer 433

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FALKENSTEINER PROTOKOLLE
WOLFGANG BRUECKNER (HRSG.)
FALKENSTEINER PROTOKOLLE, HERAUSGEGEBEN UND BE-
BEITET VON WOLFGANG BRUECKNER
FRANKFURT AM MAIN 1971, S. 95-


001  Erkenntnisziele und Aufgaben einer Volkskunde als
002  Kulturanthropologie (Beitrag mit nur indirektem Bezug auf die
003  Papier-Auseinandersetzungen und nicht als Antwort darauf oder
004  parteilicher Positionsbezug gedacht, sondern als möglicher
005  Standort unserer Disziplin reflektiert). Vorspann:
006  Wissenschaft setzt ein Erkenntnisziel voraus, d.h.
007  ein zu erkennendes Objekt. Das Erkenntnisziel ergibt sich
008  für den Fachwissenschaftler aus (ungelösten) Problemen
009  und einem für die Lösung kompetenten Gegenstandsbereich.
010  Das Problem ist zunächst ein außerwissenschaftliches
011  Problem, dem das Erkenntnisinteresse gilt. Eine Lösung ist
012  dem Fachwissenschaftler nur innerhalb seiner (erweiterungsfähigen!)
013  Kompetenz möglich. Damit stellt sich ihm das
014  außerwissenschaftliche Problem als ein fachwissenschaftliches
015  Problem mit dem fachwissenschaftlichen Erkenntnisziel zur
016  Lösung. Das fachwissenschaftlich lösbare Problem ist somit
017  vom Gegenstandsbereich des Wissenschaftlers abhängig und setzt zur
018  Lösung theoretische Konzeptionen (Hypothesen über das
019  zu erkennende Objekt) und diese überprüfende
020  Forschungstechniken voraus. Sowohl die Theorien als auch
021  die Forschungstechniken innerhalb eines Faches ändern sich (oder
022  sollten sich ändern) durch den akkumulativen Prozeß der intra
023  disziplinären und interdisziplinären Erfahrungs
024  anreicherung. Sie sind als übertragbare und nicht als
025  fachspezifische zu betrachten. Das wissenschaftliche
026  Selbstverständnis eines Faches erfordert fachspezifische
027  Kompetenz in einem Gegenstandsbereich und ein fachspezifisches
028  Erkenntnisziel, das es zur Teilhabe an der interdisziplinären
029  Lösung von Problemen berechtigt. Jedes Fach bedarf der
030  ständigen kritischen Reflexion seiner Wissenschaftler, ob
031  es seiner Aufgabe gemäß zur wissenschaftlichen Lösung von
032  Problemen kompetent ist, d.h. ob sein Erkenntnisziel
033  überhaupt mit den erforschten Objekten seines Gegenstandsbereiches
034  kongruent ist, und ob in ihm die für sein zu erkennendes Objekt in
035  anderen Fachwissenschaften erkannten bestimmenden Faktoren kritisch
036  reflektiert, sowie neue Hypothesen und Forschungstechniken
037  überprüft werden. Die wissenschaftliche Verantwortung des
038  Wissenschaftlers fordert, daß er das pragmatische Ziel
039  (Lösung des außerwissenschaftlichen Problems) nur auf dem
040  wissenschaftlichen Weg der Erkenntnisfindung sucht; die
041  gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers fordert, daß
042  er seinen Beitrag zur praktischen Lösung des Problems durch
043  aufklärende Bewußtseinserhellung leistet, während ihm die
044  eigentliche praktische Durchführung, für die zumeist von
045  verschiedenen Fachbereichen die Möglichkeiten erkannt und bewußt
046  gemacht werden, im allgemeinen vorbehalten bleibt.
047  Wissenschaftlich und gesellschaftlich verantwortungslos handelt
048  jeder Wissenschaftler, der in der notwendig popularisierenden, d.h.
049  vereinfachenden Darstellung des von ihm untersuchten
050  Phänomens in der breitenwirksamen Aufklärungsarbeit dessen
051  Stellenwert im Gesamt des zu erkennenden Objekts nicht angibt und
052  damit manipulativ verfälscht. Wissenschaftliche und
053  gesellschaftliche Aufgaben sind eine interdependente Forderung,
054  solange Gesellschaft nicht systemimmanent gesehen wird. Da wir mit
055  unseren " Vorerfahrungen " aber immer systemimmanent geprägt sind,
056  müssen wir bereit sein, auch unsere - von der vorerfahrenen
057  Theorie einer " gelungenen " Gesellschaft (doch wohl als
058  Synthese satisfaktionierter, d.h. " glücklicher ",
059  " unbeschädigter " Menschen zu denken) ausgehende -
060  gesellschaftliche Aufgabe immer wieder anhand der wissenschaftlichen
061  Erfahrungsmöglichkeiten zu überprüfen. Das " Sehen " von
062  (außerwissenschaftlichen) Problemen, die gesellschaftliche
063  Relevanz haben und im jeweiligen Fachgebiet lösbar oder mit
064  lösbar sind, setzt zweierlei voraus: daß ein
065  Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers überhaupt vorhanden ist,
066  und daß er die für dessen Lösung nötige wissenschaftliche
067  Kompetenz hat oder sich aneignet. Versuch einer
068  fachspezifischen Erläuterung:. Das zu erkennende Objekt
069  unseres Faches bestimmt sich aus unserer Position in den
070  anthropologischen Wissenschaften mit dem Erkenntnisziel: der
071  Mensch. Weiterhin aus unserer Position in den
072  Gesellschaftswissenschaften mit dem Erkenntnisziel: der Mensch
073  als Gesellschaftswesen. Schließlich aus dem daraus spezifizierten
074  Erkenntnisziel: der Mensch als Kulturwesen. Wie sich
075  bei den übergreifenden Bereichen Anthropologie und
076  Gesellschaftswissenschaft das Erkenntnisziel im Namen dokumentiert,
077  müßte sich dies auch im Namen jeder Disziplin zu erkennen geben.
078  Hier stocke ich bereits bei der Vielzahl der Namensangebote und
079  dem bisherigen Namen. Hat unser Fach " Volkskunde " das im
080  Namen dokumentierte Erkenntnisziel wissenschaftlich zu erkennen
081  versucht? Nein! Erkenntnisziel und die untersuchten Objekte
082  seines Gegenstandsbereiches standen in keiner Kongruenz. Das
083  außerwissenschaftliche " Problem Volk " wurde zum
084  pseudowissenschaftlichen Erkenntnisziel, da die Lösungsangebote
085  der wissenschaftlichen Kompetenz entbehrten: d.h. es
086  wurden intradisziplinär weder Versuche unternommen, die
087  " Hypothese Volk " (als ethnos, demos oder laos) methodisch zu
088  überprüfen, noch überhaupt die für eine Analyse des Komplexes
089  Volk notwendigen Komponenten - nämlich die ein solches
090  konstituierenden Menschen - einzubeziehen. Die wissenschaftliche
091  Analyse umfaßte ausschließlich die Objektivationen des Menschen
092  als erga, aber als Erkenntnis wurde energeia (" Volk ")
093  verkündet: Volks-Kunde Das sich wissenschaftlich
094  ergebende " Problem Volk " wurde nicht gelöst: das
095  außerwissenschaftliche (systemimmanente) Problem und pragmatische
096  Ziel " Volk " - als eine politisch erstrebte, harmonierende
097  und sich als Einheit empfindende menschliche Gruppierung - wurde
098  nicht als zu überprüfende Hypothese genommen, sondern als zu
099  bestätigende Tatsache gesetzt, der die pseudowissenschaftliche
100  Bewußtseinsbildung galt. Daraus ergibt sich meine These:
101  Wir sind nicht mehr bereit, uns mit dem explizit in unserer
102  bisherigen Fachbezeichnung ausgedrückten Erkenntnisziel " Volk "
103  unserer Disziplin zu identifizieren. Diese These intendiert,
104  daß - nomen est omen - eine Fachbezeichnung den
105  Gegenstandsbereich und das Erkenntnisziel erkennen lassen muß und
106  damit ausdrückt, zur Lösung welcher Probleme es kompetent ist.
107  Aus diesem Grunde bin ich skeptisch, wenn wir bei einer
108  Umbenennung das deutsche Wort " Volk " durch ein Fremdwort wie
109  " ethnos " oder " populus " ersetzen. Zwar sind diese als
110  Begriffe semantisch besser umrissen, aber können und wollen wir
111  bereit sein - mit Hilfe unseres Gegenstandsbereichs - als
112  Erkenntnisobjekt menschliche Gruppierungen zu setzen, die sich in
113  ihrem Selbstverständnis als von gemeinsamer Abkunft, Herkunft
114  und Kultur (ethnos) bezeichnen oder als größere Menschenmenge
115  in einem (politisch) abgegrenzten Gebiet (populus) zu bezeichnen
116  sind oder einen massenhaften, als soziale Unterschicht zu
117  bezeichnenden, Ausschnitt aus populus (= Bevölkerung)
118  darstellen (populus in seiner semantischen Spezifizierung und
119  gleichzeitig Verwischung)? Sogar die Berechtigung der
120  ursprünglichen Völkerkunde, sich als Ethnologie zu bezeichnen
121  (aus der Untersuchung verhältnismäßig introvertierter
122  Gruppierungen), eliminiert sich immer stärker, was auch dort
123  vielfach zu einer Namensreflexion und Namens revision
124  führt. Sollen wir nun einen Namen übernehmen - Ethnologie -
125  der einerseits im Bereich der Wissenschaften besetzt und definiert
126  ist und der uns zum anderen von vornherein mit einer Aufgabe
127  konfrontiert, deren Lösung in unserem überwölbenden
128  Gegenstandsbereich - den europäischen
129  Zivilisationsgesellschaften - unmöglich ist. Wie ethnos ist
130  auch populus in seiner Bedeutung aufgrund der Durchlässigkeit
131  von populus in seiner Bedeutung nicht isoliert zu betrachten.
132  Und wenn wir populus als Bevölkerung definieren, dann erhebt sich
133  ja wohl die Frage nach unserem fachspezifischen Erkenntnisziel in
134  Hinblick auf diese Bevölkerung. These: Wenn wir
135  weiterhin als Disziplin existent bleiben wollen, müssen wir den
136  theoretischen und praktischen Beweis unserer Daseinsberechtigung
137  neu erbringen und pointiert verdeutlichen. Wir müssen unser
138  spezifisches Erkenntnisziel und den damit aus Kompetenzgründen
139  verbundenen Gegenstandsbereich erkennbar machen - und das bereits
140  in der Fachbezeichnung. Trotz aller " Verirrungen " waren der
141  Gegenstandsbereich unseres Faches immer kulturelle Systeme und
142  Erscheinungen in ihrer Bedeutung für den Menschen. Das - oft
143  wissenschaftlich übersehene - Problem liegt in dem
144  Begriff " Bedeutung ". Daß wir zum Bereich der
145  anthropologischen Wissenschaften gehören, wenn wir dem Menschen
146  das Primat vor seinen Schöpfungen geben, wird wohl nicht
147  bestritten werden. Wenn wir darüber hinaus als unseren
148  spezifischen Gegenstandsbereich den " Menschen und seine Kultur "
149  bezeichnen, ergibt sich als Abstraktum des Erkenntnisziels die
150  Bedeutungs-Interdependenz von Mensch und Kultur. Diesem
151  Erkenntnisziel geht zunächst eine Definition der Kultur
152  voraus, die wir als falsifizierbare Arbeitshypothese ansetzen
153  müssen. Wenn wir Kultur als ein vom Menschen bedingtes und ihn
154  bedingendes symbolisches System von dargestellter und
155  verhaltensfordernder Umweltbedeutsamkeit definieren, sagt dies
156  zunächst noch nichts über den Anteil des Kulturellen an der
157  menschlichen Daseinsführung gegenüber anderen anthropologischen
158  Komponenten aus. Diesen Anteil zu ermitteln betrachte ich eben
159  als unser spezifisches anthropologisches Erkenntnisziel und deshalb
160  als kultur-anthropologisches Erkenntnisziel. Da als
161  Voraussetzung der anthropologischen Erkenntnisfindung eine
162  interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig ist, setzt der kultur
163  -anthropologische Beitrag eine Kenntnisnahme der Hypothesen
164  anderer anthropologischer Disziplinen voraus. Danach kann der
165  Mensch als ein bio-physisch anlagebedingtes Wesen betrachtet
166  werden, dem ein soziales (zu sozialer Satisfaktion: soziale
167  Umwelt schaffendes) ein ökonomisches (zu wirtschaftlicher
168  Satisfaktion: wirtschaftliche Umwelt schaffendes) und ein
169  kulturelles (zu kultureller Satisfaktion: symbolisch gedeutete
170  Umweltschaffendes) Potential zugeschrieben werden muß.
171  Gesellschaft - als menschliche Gesellschaft - wird von diesen
172  menschlichen Potentialen bestimmt, wirkt aber gleichzeitig - als
173  objektiviertes System - auf den Menschen zurück. Folgendes
174  Schema charakterisiert den " Kreislauf " und markiert unseren
175  spezifischen Gegenstandsbereich (B = biolog.-physisches
176  Potential, M = Mensch, N = natürliche Umwelt, K =
177  kulturelle Setzungen, S = soziale Setzungen, W =
178  wirtschaftliche Setzungen) (Abb.) Dieses Schema geht von der
179  Konzeption eines bio-physischen Menschen mit der Anlage zu
180  kulturellem, sozialem und wirtschaftlichem Handeln aus. Die
181  Sphären K, S und W, N durchbrechend, greifen ineinander und
182  sind voneinander abhängig. Sie wirken auf B - bereits in ihrer
183  Verflechtung - rück, sodaß M in seiner Realität nur als
184  Kompositum aus B (math.Op.) (N durchbrechend) K (math.Op.) S (math.Op.) W
185  verstehbar wird. Wenn wir also den Abschnitt M-K untersuchen,
186  sind die übrigen Komponenten als Variablen einzubeziehen.
187  These: Diese Ausführungen intendieren die Bezeichnung
188  Kulturanthropologie, zunächst abgesehen von den bisherigen
189  " Besetzungen " des Namens, mit dem Erkenntnisziel der Grade
190  einer Interpenetration von Mensch und Kultur. Hier ist es
191  notwendig, sich mit den Gegenargumenten auseinanderzusetzen, wobei
192  ich zunächst nur die innerhalb unseres Faches vorgebrachten
193  Gegenargumente aufführe. Die Gegenpositionen, die aus einer
194  tatsächlichen kritischen Auseinandersetzung mit den bisher
195  gehandhabten Kulturanthropologien hervorgehen, behandele ich
196  später. Die hauptsächlichen Gegenargumente - meist
197  unverbindlich verbal vorgetragen - zielen auf den " zu umfassenden "
198  Anspruch des Namens. Einmal wird argumentiert, daß dann auch
199  " oberschichtliche " und " gesamtkulturelle " Erscheinungen
200  einbezogen werden müßten. Und ich frage sie: warum nicht?
201  Gerade in der künstlichen (unter normativen Einflüssen stehenden
202  und nicht von einer wissenschaftlichen Objektivität ausgehenden)
203  Trennung einer sog. " Volkskultur " von einer sog.
204  " oberschichtlichen " Kultur und einer als Normensystem eine
205  Gesamtbevölkerung erfassenden Kultur lag der größte Fehler der
206  Volkskunde. Der Fehler ist vor allem auf die
207  Objektivationsforschung zurückzuführen, die aber gleichzeitig
208  " Haltungs"erklärung sein sollte. Das für die untersuchten
209  Gegenstände vielleicht einwandfreie Lösungsergebnis wurde
210  kurzgeschlossen auf ein pragmatisches Ziel (" Volkshaltung ")
211  übertragen, dem kein wissenschaftliches Erkenntnisobjekt entsprach.
212  Dieser Kurzschluß, dem die ideologische Setzung einer
213  " Volksleistung " vorausging, ist Zeichen für die wissenschaftlich
214  unsaubere Reflexion des Erkenntnisziels. Die Folge war eine
215  systempolitisch erwünschte Aufklärung zur praktischen Lösung von
216  Problemen, aber deshalb eine - wissenschaftlich betrachtet -
217  falsche Aufklärung, die sich - außerwissenschaftlich, aber
218  gesamtgesellschaftspolitisch betrachtet - nicht nur als
219  Fehlleistung sondern als Katastrophe erwies. Hätte sich der
220  kulturelle Objektivationen untersuchende Volkskundler im Rahmen
221  seiner wissenschaftlichen Kompetenz bewegt, d.h. die
222  Erkenntnisobjekte (Märchen, Lieder, Kunstwerke, Bräuche
223  usw.) als Erkenntnisziele behalten (wie z.B.
224  Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Musikgeschichte usw.)
225  hätte er - vielleicht nicht so gesellschaftspolitisch relevant,
226  aber auch nicht so " falsch " - mehr zu einer Aufklärung
227  beitragen können - und hat es als " bescheidener " Volkskundler
228  auch getan. Der " gefährliche " Volkskundler war derjenige mit
229  pragmatischen Zielen: d.h. derjenige, der die
230  " Glückseligkeit " des Menschen zu seinem pragmatischen Ziel erhob,
231  aber das - außserwissenschaftliche - Problem des nicht
232  satisfaktionierten Menschen wissenschaftlich inkompetent löste.
233  Wenn wir nun allerdings davon ausgehen, daß unsere Wissenschaft
234  als Erkenntnisziel den Menschen in seiner kulturellen Bedingtheit
235  hat und uns dem pragmatischen politischen Ziel einer
236  " Humanisierung " der Bedingungen nicht verschließen wollen, muß
237  auch unser Gegenstandsbereich von den vom Menschen abstrahierten
238  kulturellen Objektivationen auf die zu diesen Objektivationen
239  führenden und von ihnen bestimmten " Haltungen " oder
240  " Einstellungen " erweitert werden. Wenn wir soweit sind,
241  entfällt die " Angst " vor sog. " hochkulturellen "
242  Objektivationen, da sie wie die sog. " volkskulturellen " nur
243  als Darstellungsfaktoren menschlichen Kulturverhaltens gesehen
244  werden und wir unser Erkenntnisziel nicht von vornherein durch die
245  Trennung des Erkenntnisobjektes in 2 Sorten von Menschen,
246  nämlich oberschichtliche und andersschichtliche (Volksschicht,
247  Unterschicht, Grundschicht usw.) mit hypothetisch jeweils
248  verschiedenen kulturellen Haltungen, verfälschen können. Selbst
249  wenn von anderen Disziplinen Oberschicht und Unterschicht als ein
250  z.B. sozial oder wirtschaftlich relevantes Faktum erkannt
251  wurde, können wir dieses nicht unüberprüft als kulturelles
252  Faktum konstatieren. Aus diesem Grunde wende ich mich auch
253  dagegen Volkskunde - in einer etwas umständlichen Namensgebung
254  - als " Soziologie des Alltags der unteren oder unterdrückten
255  Gesellschaftsschichten " (R. Narr) zu sehen. Das wäre -
256  auch schon längst wahrgenommene - Aufgabe der (richtig!)
257  Soziologie, die sich, von der Gesamtheit des Faches her
258  betrachtet, wohlweislich vor einer a priori gesetzten 2-
259  Schichten-Theorie (oder Klassen)-Theorie
260  hütet und (abgesehen von systempolitischen pragmatischen Zielen
261  unter Umgehung der Erarbeitung des wissenschaftlichen
262  Erkenntnisziels bei einzelnen Wissenschaftlern) auch die sozialen
263  Formen des Herrschens und Beherrschtwerdens zum
264  Untersuchungsgegenstand macht. Wollen wir nun einen Rückfall
265  in eine Zweischichten-Theorie erleiden, die zwar von anderen
266  weltanschaulichen Prämissen ausgeht, aber ebenso dogmatisch und
267  mit wissenschaftlichem Prüfungsverbbot im Raum steht und
268  aufgrund eines falschen wissenschaftsgeschichtlichen Bildes von
269  unserem Fach (denn es wurden weder die Wiederspiegelung des
270  Alltags untersucht noch unterdrückte Schichten - beides paßte
271  nicht in die nationale und ästhetisierende Harmoniekonzeption der
272  ehemaligen engagierten Volkskundler) uns endgültig einer eigenen
273  Disziplin begeben, indem wir das soziale Sich-Verhalten als
274  einziges Erkenntnisziel sehen und uns in diesem Bereich der
275  Soziologie einen angeblich unbesetzten bescheidenen Platz zu
276  erobern hoffen, der längst mit wesentlich mehr Kompetenzen besetzt
277  ist. Skeptisch bin ich auch gegenüber den Versuchen, Volkskunde
278  als Subkultur-Forschung (D. Kramer) zu deklarieren,
279  zumal wenn auch hier, da " der Begriff " Subkultur " (...) das
280  Vorhandensein einer größeren Einheit " Kultur " " impliziere
281  und letztere als " Kultur der Herrschenden (Fiktion) " im
282  Gegensatz zur " Subkultur der Beherrschten (Wirklichkeit) "
283  zu bezeichnen sei, mit einer ähnlichen Zwei-Schichtensetzung
284  Kultur gearbeitet wird. Dies übrigens nur eine der
285  Möglichkeiten Kramers, Subkultur zu definieren, die anderen
286  Konzeptionen (gewonnen an soziologischen und
287  gesellschaftskritischen Definitionsversuchen), halten sich -
288  ohne allerdings darauf zu reflektieren - enger an den von der
289  anthropologischen Philosophie und empirischen Kulturanthropologie
290  gegebenen Kulturbegriff als eines Konfigurationssystems, wenn es
291  heißt " Der Subkultur-Begriff zwingt geradezu, dem
292  Systemcharakter kultureller Gebilde nachzugehen und die
293  gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Faktoren zu
294  berücksichtigen ".

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