Quelle Nummer 415
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.03 : HISTORISCHE
FRANK ANDERMANN
DAS GROSSE GESICHT
EHRENWIRTH VERLAG MUENCHEN 1970
S. 110
001 Als ich Kornmark hieß, suchte ich nicht mehr nach einer
002 Wahrheit, die zwei Jahrtausende zurücklag. Leidend und handelnd,
003 wurde ich mit der Nase darauf gestoßen, und da ich das Leben
004 und den Tod anders sah als früher, sah ich auch Sein Leben und
005 Seinen Tod anders. Folter und Erschießungen waren an der
006 Tagesordnung wie ehedem Marter und Kreuz, und diese unangenehme
007 Dinge hörten auf, erzählenswerte Ereignisse zu sein. Man
008 sollte nicht soviel Aufhebens davon machen, man sollte über dem
009 Kreuz, an dem der Eine hing, nicht die Kreuze der vielen
010 vergessen, die vor ihm und nach ihm dasselbe Ende fanden. Vor ihm
011 und nach ihm kämpften Juden jahrzehntelang mit beispiellosem Mut
012 gegen die römische Übermacht und fielen, ohne daß man einem von
013 ihnen ein Denkmal gesetzt hätte. Es war auch kein Denkmal nötig.
014 Daß sie sich nicht beugten, war der Luxus ihres Lebens, und
015 sie zahlten den angemessenen Preis dafür, den höchsten, weil der
016 Gewalt zu trotzen der größte Luxus ist, den einer sich leisten
017 kann. Was für miserable kleine Seelen mußten es gewesen sein,
018 die den Opfertod des Einen zu einem Schauspiel aufbauschten und
019 ihm dabei ihre eigene Angst vor dem Tod andichteten, so daß er
020 vor der Gefangennahme zitterte und im letzten Augenblick noch in
021 Klagen ausbrach! Erst nach dem Krieg erfuhr ich - schon nicht
022 mehr Kornmark -, wie Lou gestorben war, dem nie ein Denkmal
023 gesetzt wurde. Sie hielten ihn für den Leiter unserer Gruppe,
024 und um mich und die Gruppe zu schützen, tat er, was er nur tun
025 konnte, um sie in diesem Glauben zu lassen. Als zwei Beamte ihn
026 - ihn? er soll nur noch ein Wrack gewesen sein - die Treppe
027 hoch zur Vernehmung führten - würde er nicht doch schwach werden
028 und das Geheimnis loslassen? -, machte er sich mit einem Ruck
029 von seinen Wärtern frei, kletterte über die Brüstung und sprang.
030 Er sprang in den Lichthof hinab und war sofort tot.
031 Größere Liebe hat niemand als die, daß einer sein Leben
032 hingibt für seine Freunde. So steht es bei Johannes, 15,
033 13, und so ist es. Größere Liebe gibt es nicht, und wer für
034 alle stirbt, stirbt für niemand. Lou endete wie vor knapp
035 zweitausend Jahren der Nazarener, der die Schuld auf sich geladen
036 hatte, um seine Freunde zu decken. Ich bin es. Immer,
037 wenn und überall, wo Menschen im Kampf vor dem Tod bestehen,
038 erneuert sich, was in den alten Büchern von Göttern und Helden
039 gesagt wird. Die Aufregungen der letzten Tage waren zuviel. Ich
040 mußte die Arbeit ruhen lassen, und ich muß mich jetzt zu ihr
041 zwingen. Die Sorge um Ruth läßt mich nicht los. Eine böse
042 Ahnung, für die ich keine Worte habe, trübt meine Gedanken,
043 treibt mich aber auch zur Eile an, damit gesagt sei, was gesagt
044 werden muß, bevor es zu spät ist. Die Gewißheit, meine
045 Tochter endgültig verloren zu haben, gab mir in den ersten Tagen
046 nach dem unseligen Besuch eine gewisse Ruhe, keine behagliche,
047 eine eisige, in der ich mir denkend und schreibend viel Bewegung
048 machte, als müßte ich die erstarrten Glieder rühren, um nicht
049 zu erfrieren. Ich sagte mir, wohl etwas sentimental, daß ich
050 niemand mehr auf der Welt hätte. Ich sagte mir, nicht ganz ohne
051 Pathos, daß ich im Interesse der Sache auch noch das Letzte
052 geopfert hätte, was mir verblieben war. Ruths Verlust,
053 jahrelang vorausgesehen und befürchtet, war eine vollendete
054 Tatsache geworden, mit der ich mich abfinden mußte. Es gab keine
055 Ruth mehr. Was hatte ich mit der Pfarrersfrau, mit einer
056 gewissen Frau Willebrod zu schaffen? So dachte ich an Ruth,
057 wenn ich überhaupt an sie dachte, nannte sie Frau Willebrod und
058 grinste vor mich hin. Was mich dann zu beunruhigen begann, war ein
059 Erinnerungszwang, wie er mir in dieser Stärke noch nie
060 vorgekommen war, obwohl es in meiner Kindheit ein Ereignis gegeben
061 hatte, das mich unausgesetzt verfolgte, nicht zu vergessen, nicht
062 zu bewältigen, immer wieder, heute noch Angst erregend und
063 unvermindert gegenwärtig. Ich war vier oder fünf Jahre alt.
064 Die Mutter hatte mich unter der Obhut eines Mädchens gelassen,
065 das im Hinterhaus wohnte und regelmäßig kam, um mit mir zu
066 spielen und auf mich aufzupassen. Es war zweifellos selber noch ein
067 Kind, wie das gefährliche Spiel beweist, das die Blonde - ich
068 weiß von ihr nur noch, daß sie blond war - an diesem Tag mit
069 mir spielte. Wir stiegen auf das breite Fenstergesims der
070 Bodenkammer, öffneten die Fenster und schauten, uns am
071 Fensterkreuz festhaltend, vom vierten Stock in den Hof hinab.
072 Obwohl die Menschen da unten wie Insekten schienen, erkannte die
073 Blonde doch einige Freundinnen und rief sie laut beim Namen.
074 Bevor sie aufschauen konnten, hatte sie sich schon umgedreht, den
075 Rock hochgehoben und das Gesäß hinausgestreckt. Ich hörte das
076 Lachen im Hof, fand das Spiel der Blonden begeisternd und
077 versuchte es ihr nachzutun. " Mensch, du fällst mir ja runter! "
078 schrie sie und riß mich im letzten Augenblick zurück. Das
079 Ereignis, das im Moment des Geschehens nicht die geringste Angst
080 erzeugt hatte, kam mir erst viele Jahre später wieder in den Sinn,
081 nun aber von dem Bewußtsein begleitet, wie nahe ich dem Tod
082 gewesen war, und rollte seitdem vor mir ab wie ein Film, der das
083 Wunder der Errettung im letzten Augenblick als unglaubwürdig
084 rückgängig machte, so daß die Blonde - " Mensch, du fällst
085 mir ja runter! " - ins Leere griff. Ich stürzte in den Hof,
086 kam aber nie unten an, und das war das Schlimme, ist auch jetzt
087 noch das Schlimme an der Erinnerung, die mich erst loslassen wird,
088 wenn ich unten angekommen sein werde. Da der Sturz vorstellbar
089 ist, aber nicht das Ende, stürze ich endlos, unentwegt. Eine
090 Angst ganz anderer Art erregte die Erinnerung an den letzten
091 Abend mit Ruth, wenn es mich auch auf ähnliche Weise quälte,
092 immer wieder sehen zu müssen, was ich nicht mehr sehen wollte.
093 Das leider Gottes Geschehene schien noch nicht geschehen: es
094 geschah aufs neue. Ruth brachte mir den Theologen ins Haus, und
095 ich hielt ihm die Rede, die ich ihm gehalten hatte, so als hielte
096 ich sie zum erstenmal. Ich agierte wie ein Schauspieler, der eine
097 auswendig gelernte Rolle nicht gedankenlos hersagt, sondern Wort
098 für Wort, statt aus dem Gedächtnis, aus dem eigenen Innern
099 herausholt und sich dabei die Freiheit des Improvisierens erlaubt.
100 Neben dem, was gesagt worden war, fiel mir ein, was ich zu sagen
101 versäumt hatte, und ich sagte es nun, während Karel Willebrod
102 dabei saß und zuhören mußte. Da saß aber auch Ruth, das Kinn
103 in die Hand gestützt, das Gesicht hinter den tief herabhängenden
104 Haaren fast ganz versteckt, und das Beängstigende ging von ihr
105 aus, von der reglosen Gestalt, die an dem Auftritt unbeteiligt
106 schien. Jedes Wort, das ich sprach, war an den jungen Mann
107 gerichtet, und wenn es außer ihm und mir noch eine dritte Person
108 gab, die als beteiligt in Betracht kam, dann war es eine abwesende
109 und doch sehr gegenwärtige - eben derjenige, für den ich sprach,
110 zu dessen Verteidigung ich meine Rede hielt. Je häufiger sich
111 die Szene aber wiederholte - eigentlich erneuerte -, um so
112 schärfer wurde mir bewußt, daß Karel Willebrod - was hatte
113 ich mit ihm zu schaffen und was hatte Er mit ihm zu schaffen? -
114 nur die Funktion eines Requisits innehatte, nicht bedeutender als
115 der Sessel, in dem ich saß, oder das Taburett, auf dem Ruth
116 saß, während ich sprach. Das Gebärdenspiel, mit dem er meine
117 Rede begleitete, war eine Folge von mechanischen Abwehrreaktionen,
118 und er mimte mit ihnen die an der Tragödie des Nazareners
119 völlig unbeteiligte Welt. Als wollte ich es nicht wahrhaben,
120 richtete ich mich beim Sprechen immer nachdrücklicher an ihn und
121 sah buchstäblich meine Worte von ihm abprallen. Und immer
122 ängstlicher vermied ich den Blick zu Ruth. Sie war meine
123 Tochter. Wie konnte ich mich nur immer fragen, ob ich sie
124 verloren oder gewonnen hätte, Trauer empfinden, wenn ich sie
125 verloren glaubte, und Angst, wenn mir wie jetzt das Vermuten kam,
126 ich könnte sie mir durch das Bravourstück meiner Rede - so
127 muß ich es ausdrücken - erobert haben. Dafür sprach
128 vieles: wie sie danach meine Nähe suchte und auf meinem Schoß
129 saß, wie sie beim Abschied Willebrod abfertigte: Komm, du
130 Idiot! Ich konnte mir vorstellen, daß sie inzwischen mit ihm
131 gebrochen hatte, und noch eine andere Vorstellung wollte sich nicht
132 abweisen lassen: daß sie ihn mir nur ins Haus gebracht hatte, um
133 mich auf ihre reizende Art ein wenig zu quälen. Sie hatte mit mir
134 und mit ihm gespielt; es wollte mir nicht in den Kopf, sie
135 könnte es mit dem braven Jungen ernst gemeint haben. Sie hatte
136 Komödie gespielt, daran zweifelte ich kaum noch - und ich?
137 Was wußte ich von mir, von meiner hemmungslosen, herrischen,
138 eifersüchtigen Liebe? War meine Rede, an Willebrod gerichtet,
139 für Ruth bestimmt, nicht auch ein Schauspiel gewesen? Ich
140 hatte kein Wort gesagt, das ich nicht ehrlich meinte, aber alle
141 meine Worte wurden von einer Leidenschaft diktiert, die ich nie
142 zuvor aufgebracht hatte - nicht für Ihn, nicht einmal für Ihn!
143 Ich schäme mich nicht, Ruth so zu lieben, wie ich sie liebe.
144 Die Umstände brachten es mit sich, daß ich um sie kämpfen
145 mußte, und als ich schließlich siegte, wenn von Sieg die Rede
146 sein konnte, war es der schwerste Kampf meines Lebens gewesen,
147 ein Kampf gegen die Wahrheit und gegen das Glück, ihr meine
148 Gefühle zu verheimlichen. An diesem Abend aber, als sie mir
149 wieder verlorenzugehen drohte, in eine mir fremde und verhaßte
150 Welt hinübergezogen, - aus Wut, aus Verzweiflung griff ich
151 zur Gewalt und redete. Es war nicht unmöglich, daß ich Ruth
152 noch fester an mich gekettet hatte, statt sie freizugeben, wie es
153 meine Pflicht gewesen wäre. Das schreibt sich so leicht hin:
154 " wie es meine Pflicht gewesen wäre. " War es meine Pflicht?
155 Wäre mir mein Sohn erhalten geblieben, so hätte ich nicht
156 gezögert, ihn an mich zu binden und vor schwere Entscheidungen zu
157 stellen. Ich hätte ihn so früh wie möglich mit meinen Gedanken
158 vertraut gemacht und wäre glücklich gewesen, an ihm einen
159 Schüler zu haben. Das Kind, das mir erhalten blieb, war
160 weiblichen Geschlechts - na und? Niemand hatte sich ein
161 Gewissen daraus gemacht, Ruth den Glauben einzutrichtern, der
162 sie von mir trennte. Ich aber konnte mich nie entschließen, sie
163 zu mir herüberzureißen und dabei die Gewalt anzuwenden, die das
164 einzige Mittel gegen den Terror der Frömmigkeit ist. Die Rede
165 ist ein Gewaltmittel, da sie die Vernunft als Waffe hantiert.
166 Ich hatte Ruth nie eine Rede gehalten und hätte es in hundert
167 Jahren nicht getan, da ich, so ähnlich wie die echte Mutter beim
168 salomonischen Urteil, befürchtet hätte, dem Kind das Ärmchen
169 auszureißen, an dem ich es auf meine Seite zu ziehen versuchte.
170 Welch zarte Schonung! Kam es mir nie zu Bewußtsein, wie
171 beleidigend es für einen Menschen ist, seines Geschlechts wegen
172 wie minderwertiger Stoff behandelt zu werden, der nicht der
173 geringsten Zerreißprobe standhält? Und wie ein schwachsinniges
174 Geschöpf, das kein Hirn zum Mitdenken, kein Gefühl zum
175 Mitempfinden hat? Als ich in ihrer Gegenwart sprach, fiel mir
176 keinen Augenblick ein, meine Worte könnten sie treffen - nicht
177 Karel Willebrod, sondern sie! Sobald ich aber zu ahnen begann,
178 gerade sie könnte mich gehört und verstanden haben, war schon
179 wieder die Angst da: wie wird sie auskommen mit den gefährlichen
180 Gedanken, die ich ihr eingeimpft habe? Als wäre für sie Gift,
181 was mir das Leben ist. In der Zeit, in der ich Kornmark hieß,
182 waren alle, Männer und Frauen, auf die Probe gestellt worden,
183 und ein Unterschied zwischen den Geschlechtern wurde höchstens
184 bei der Verteilung der Aufgaben gemacht. Wenn es ans Töten ging,
185 fiel die traurige Ehre meistens den Männern zu. Kam es aber
186 aufs Sterben an, so war von einer männlichen Überlegenheit
187 nichts zu verspüren. Die dem Nazarener folgten, waren Jünger
188 und Jüngerinnen, er nannte sie seine Brüder und seine
189 Schwestern und mutete ihnen ohne Unterschied des Geschlechts das
190 Opfer aller Opfer zu: Wer das Leben verliert, wird es
191 finden. In dem Kampf, den wir führten, war die
192 Sorglosigkeit um dieses eine Leben, mit dem nicht viel verloren
193 war, wenn wir es verloren, die Waffe, die alle anderen stumpf
194 machte, war das Sterbenkönnen die hohe Kunst, die den Tod
195 meisterte und das Leben, das die Mühe lohnte, vom Einzelfall
196 der Existenz ablöste. Wir waren gläubig, ob wir an einen Gott
197 glaubten oder nicht. In der klaren Erkenntnis unserer Ohnmacht
198 bauten wir auf unsere Sache und auf unseren Sieg. Wir mochten
199 noch so kluge Gespräche führen und unsere Chancen kritisch
200 abwägen, der Widerstand, den wir leisteten, wurzelte im
201 Irrationalen und verbot die Frage nach dem Nutzen. Darin war
202 auch das Entsetzen begründet, das wir bei den meisten hervorriefen
203 - bei jenen meisten, die sich mäuschenstill verhielten, um zu
204 überleben, und dabei vernünftig handelten, da der Sinn des
205 Widerstandes gar nicht einzusehen war. Sie erblickten in uns
206 Abenteurer oder Wahnsinnige, und mehr als eine Mutter versuchte
207 ihren Sohn aus unseren Reihen herauszuholen, und sprach es dabei
208 Jesu Mutter nach: Er ist von Sinnen.
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