Quelle Nummer 414

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.02 : HEIMAT

HANNA DEMETZ
EIN HAUS IN BOEHMEN
VERLAG ULLSTEIN GMBH BERLIN FRANKFURT WIEN 1970
S. 74-


001  Langsam ging ich in das alte Haus zurück. Ich wollte auch
002  nicht in den Park gehen. Meine Mutter und meine Großmutter
003  waren gerade beim Einkochen; eine Reihe Gläser mit freundlich
004  -runden Pfirsichhälften wartete auf den großen Einwecktopf.
005  Die alte Emma saß auf ihrem Fensterplatz und schälte Pfirsiche;
006  ihre Beine wollten in jenem Sommer nicht mehr recht mit, und
007  sie saß viel auf ihrem Fensterplatz. Ich faßte meine Mutter um
008  die Hüften und küßte sie. Ihre Hände und ihre Schürze und
009  ihr Gesicht dufteten nach Pfirsichen, und sie beugte sich herab,
010  küßte micht wieder und lachte, denn sie sah, daß ich nicht mehr
011  Buffalo Bill und nicht mehr Weiße Wolke war, sondern ihre
012  Helenka. Großmutter strich mir mit ihren Pfirsichhänden über
013  den Kopf und lächelte mit ernsten Augen, und ich sagte: " Wer
014  will denn schon in den dummen Park gehen, wir sicher nicht! "
015  Am Morgen der Abfahrt nahm mich meine Mutter an der Hand, und
016  wir gingen zusammen durchs ganze Haus. In den Keller stiegen wir
017  zuerst, wo die glänzenden Kohlenberge lagen und die Holzpyramiden
018  und im kleinen Nebenkeller auf Holzregalen Großmutters
019  Einweckgläser und Großvaters Rotwein. In der Halle klangen
020  unsere Schritte besonders laut und verlassen, denn wir hatten schon
021  unsere Reiseschuhe an. Wir öffneten jede Zimmertür und gingen
022  in jedes der Zimmer hinein, nur Herrn Karaseks Schlafzimmer im
023  ersten Stock ließen wir aus, denn das gehörte nicht mehr dazu.
024  Meine Mutter strich still über das schwere Ehebett der
025  Urgroßeltern, und sie berührte die blaugeblümte Schüssel und
026  den Seifentopf auf dem Waschtisch, der Urgroßvater gehört hatte.
027  Dann stiegen wir zusammen über die Eisentreppe zum Oberstock
028  hinauf und meine Mutter spähte in jede der Dienstmädchenkammern,
029  und zuletzt öffneten wir die Eisentür zum Dachboden. Dort
030  setzten wir uns für eine Weile auf eine der Aussteuer-Truhen
031  unter der Schrägwand und atmeten die trocken-heiße, vom Holz
032  gewürzte Dachbodenluft. Meine Mutter sagte nichts. Ich wußte
033  es damals nicht, aber später wußte ich es dann. Sie hatte
034  Abschied vom alten Haus genommen. Dann war wieder Krieg, alle
035  Zeitungen schrieben vom Krieg, nur standen in den dicken roten
036  Überschriften nicht Barcelona und und Madrid wie früher,
037  sondern Warschau und Amsterdam und Brüssel. Manchmal in der
038  Nacht, klirrten die Fensterscheiben, wenn Wagenkolonnen die
039  breite Ostrauer Straße herunterfuhren. Im Winter bekam mein
040  Vater einen dicken Brief vom Oberlandratsamt in Brünn, er
041  mußte dort vorsprechen, und der Herr Oberlandrat teilte ihm
042  persönlich mit, daß er sich entweder scheiden oder pensionieren
043  lassen müsse. Das Oberlandratsamt duldete keine jüdisch
044  versippten Staatsbeamten mehr. Mein Vater dankte dem Herrn
045  Oberlandrat und ging. Er holte nur noch seine Pfeife im Büro,
046  und dann betrat er es nicht mehr. Seine Sekretärin brachte ihm
047  später, weinend, die juristischen Bücher und sein Bürohandtuch,
048  und einen Abschiedsbrief seiner Kollegen. Dann saß mein Vater
049  tagelang allein am Speisezimmertisch und spielte Schach; von
050  früh bis spät spielte er eine Partie, über Nacht ließ er die
051  schwarzen und die weißen Figuren stehen, wo sie standen, und fuhr
052  am nächsten Morgen gleich wieder zu spielen fort. Die Partie war
053  endlos, und als mein Vater doch zu spielen aufhörte, da merkte
054  ich, daß er eine neue Falte über seinen Augenbrauen bekommen
055  hatte. Ein paar Wochen später fuhr er nach Prag, um eine neue
056  Stelle zu suchen: die Pension reichte nicht aus. Als er
057  zurückkam, sagte mir meine Mutter, daß wir bald alle nach Prag
058  übersiedeln würden. Ich weinte und wollte nicht nach Prag
059  übersiedeln. Prag war zu groß, es gab dort keinen Rattenbach
060  und keine Wäschebleiche, und was sollte die schmuddelige
061  Ernestine ohne mich anfangen? Wer sollte ihr die Welt zeigen,
062  wer Befehle erteilen, wem würde sie gehorchen? Meine Mutter
063  strich mir über den Kopf und sagte: " Ich weiß, es ist sehr
064  schwer. Aber vielleicht kann dich Ernestine einmal besuchen kommen?
065  Ihr Vater ist doch bei der Bahn, die Reise wird sie nichts
066  kosten. Und stell dir nur vor, was du ihr dann alles zeigen kannst! "
067  Das beruhigte mich, langsam gewöhnte ich mich an den
068  Gedanken und begann mich sogar zu freuen. Tante Ella hatte den
069  Auftrag bekommen, uns eine Wohnung zu suchen. Sie fand sie auch
070  bald in einem fünfstöckigen Neubau: drei Zimmer mit Küche in
071  der Vorstadt, das Haus war eben fertiggeworden, Schrebergärten
072  waren davor und eine Wiese dahinter, und die Straßenbahn Nummer
073  Vier fuhr daran vorbei. Die Waldes-Fabrik, in der mein
074  Vater als juristischer Berater arbeiten würde, war nicht weit
075  entfernt. Meine Eltern fuhren nach Prag und kamen erfreut zurück.
076  Die Wohnung hatte ihnen gefallen. Dann bestellte meine Mutter
077  Kisten und packte tagelang; die alte Wohnung in der Schulgasse
078  begann trostlos auszusehen. Ernestine kauerte auf ihrer Schulbank,
079  den Kopf auf den Armen, und schluchzte, und zwei Tränenbäche
080  rannen über die vielgeritzte grüne Platte ihres Pults hinunter.
081  Im Februar übersiedelten wir. Die Fräulein Paskud standen im
082  Gang und weinten, das Weinen färbte ihre Nasen rot, sie
083  schenkten mir einen gelben Strohhut zum Abschied, mit glänzenden
084  roten Kirschen darauf. Die kleine ostmährische Stadt blieb
085  zurück, der Herr Stationsvorsteher hob sein Schild und winkte
086  mit der anderen Hand. Die blauen Augen meines Vaters blickten
087  lange aus dem Fenster und erschraken bei jeder Telegraphenstange.
088  Dann richtete sich mein Vater auf, klopfte meiner Mutter auf die
089  Hand, und sagte: " So, das hätten wir also hinter uns. "
090  Die neue Wohnung lag im zweiten Stock einer Reihe weißer
091  Häuser. Die neuen Mieter hatten es mit dem Einziehen alle sehr
092  eilig gehabt, man erlaubte den Neubauten nicht einmal das
093  Überwintern, sondern versuchte, es sich rasch bequem zu machen;
094  die Zeiten waren zu unsicher, sagte meine Mutter, da machte ein
095  feuchter Fleck an der Wand nicht viel aus. Die Handwerker gingen
096  noch aus und ein, eine Tür klemmte, die Badezimmertür wollte
097  nicht ganz schließen, das Treppengeländer war noch nicht da, der
098  Aufzug war noch nicht installiert. Hinter den Häusern, wo (so
099  sagte der Hausmeister) einmal rasenbedeckte Höfe sein sollten,
100  lagen noch Halden von Schutt. Ich weinte jeden Abend heimlich im
101  Bett, denn ich sehnte mich nach meinem hübschen Zimmer in der
102  Schulgasse. Hier hatte mein Zimmer noch keine Vorhänge, und
103  meine Sachen sahen mich aus dem fremden Zimmer fremd an. Das
104  Rattern der nächtlichen Straßenbahn Nummer Vier brachte mir
105  Angstträume mit, und das Knirschen des Sandes unter meinen
106  Füßen, das nicht aufhören wollte, so oft wir auch auskehrten,
107  tat mir in den Ohren weh. Ich war todunglücklich und durfte es
108  meinen Eltern nicht eingestehen, denn wir drei mußten
109  zusammenhalten, hatte mein Vater gesagt, und jetzt zu klagen wäre
110  Verrat gewesen. Ich zog meine Decke über den Kopf und meine
111  Tränen flossen das Kissen hinab. Meine Mutter mußte aber doch
112  etwas bemerkt haben, obwohl ich mein Unglück als allertiefstes
113  Geheimnis mit mir herumtrug. Eines Tages sagte sie: " Tante
114  Annl möchte, daß du für ein paar Tage zu ihr kommst. Sie hat
115  jetzt ein Zimmer frei ", und ich schrie fast auf vor Freude,
116  denn bei Tante Annl zu wohnen, hatte ich mir immer schon
117  gewünscht. Tante Annl war eigentlich meine Großtante. Sie war
118  die Lieblingstante meines Vaters und außerdem die einzige
119  Verwandte meines Vaters, die ich kannte: die Einzige, die sich
120  nicht von ihm abgewandt hatte, als er heiratete, und die meine
121  Mutter liebevoll bei sich aufnahm. Mein Vater hatte als junger
122  Student bei ihr gewohnt und später auch als Konzipient, denn
123  Tante Annl hatte eine große Wohnung gleich hinter dem
124  Nationalmuseum und sie vermietete Zimmer, möbliert, mit
125  Frühstück. Sie selbst wohnte nur in der Küche, wo sie sich
126  zwischen Herd und Kredenz und Tisch und Bett und Lehnstuhl auf
127  schmalen Pfaden bewegen konnte. Jedes erdenkliche Plätzchen in
128  ihrer Küche war mit Dingen ausgefüllt, mit
129  Lebensmittelpäckchen und alten Zeitungen und Fotoalben und
130  Geschirr und Schachteln aller Größen, denn Tante Annl hatte
131  in ihrem Leben noch nie eine Zeitung oder eine Schachtel
132  fortgeworfen, sie hatte alles aufbewahrt, denn es konnte je
133  geschehen, daß man einmal etwas davon gebrauchen könnte, und sie
134  wußte über den Verbleib jeder kleinsten Zwirnspule ganz genau
135  Bescheid. Ihre Küche war voller Geheimnisse, wie der
136  Dachboden im alten Haus meiner Großeltern. Tante Annl hatte
137  nie geheiratet, und mein Vater neckte sie oft und sagte: " Das
138  ist ja kein Wunder, Tantl, welcher Mann wollte denn in so einer
139  Küche wohnen? " Tante Annl klopfte ihm dann gewöhnlich auf
140  die Hand und sagte: " Laß nur sein, frecher Junge, es
141  hätten sich einige gefunden! " und dann lachte sie auch und wurde
142  ganz rot dabei. Sie war als junges Mädchen eine Schönheit
143  gewesen, sagte mein Vater, und die lustige Stupsnase und die
144  samtweichen Wangen und den dicken braunen Haarknoten hatte sie
145  immer noch, wenn auch die Füße in den schwarzen
146  Schnürstiefelchen manchmal schon müde waren und die Hände
147  zitterten. Zu Tante Annl also durfte ich für ein paar Tage
148  ziehen, denn das Erkerzimmer mit den Biedermeiermöbeln stand leer;
149  ein Fräulein war nach zehn Jahren ausgezogen, um zu heiraten,
150  und der neue Mieter sollte erst im nächsten Monat kommen. Tante
151  Annl empfing mich mit offenen Armen, sie kochte mit gleich eine
152  Tasse heiße Schokolade, im Herd glühte es noch warm. Wir
153  machten es uns auf dem schwarzen Wachsleinwandstuhl bequem; zuerst
154  mußte ich erzählen, und Tante Annl sagte: " Das wundert mich
155  ja gar nicht, diese modernen Wohnungen kann ich auch nicht
156  ausstehen! " und ich nickte und fühlte mich gleich wohler.
157  Tante Annl mein Unglück einzugestehen, war kein Verrat, denn
158  sie liebte meine Eltern auch. Dann begann Tante Annl zu
159  erzählen und ihre blauen Augen wurden ganz jung dabei, denn sie
160  erzählte immer nur vom Theater und von der Operette, der ihre
161  ganze Zuneigung galt. Tante Annl war eine Operettenfanatikerin,
162  sie kannte alle Straußoperetten und alle Leh 
163  roperetten auswendig, bis zur letzten Note, und ich lauschte
164  gespannt auf die Geschichten vom Grafen von Luxemburg und vom
165  Zigeunerbaron und von Friederike. Ich trank meine heiße
166  Schokolade und nickte verständnisvoll, wenn Tante Annl seufzte
167  und sagte: " Ja, in den Walzern ist halt meine ganze Jugend
168  drin, Kindl. " Später gesellten sich noch die beiden anderen
169  Untermietfräulein dazu, Tante Annl legte im Herde zu und machte
170  noch etwas heiße Schokolade, im Herd prasselte es, und die zwei
171  Fräulein saßen auf Tante Annls Bett, denn anderswo war kein
172  Platz, und sie sagten: " Ja, wenn wir unser Fräulein Annl
173  nicht hätten und ihre Walzer! " Ein paar Tage später fuhr ich
174  wieder heim, die Wohnung sah nicht mehr so kahl und fremd aus,
175  mein Zimmer hatte Vorhänge bekommen, die wohlbekannten Vorhänge
176  aus der Schulgasse, und ich war zufrieden und weinte am Abend
177  nicht mehr. Dann begann die neue Schule, sie war im Weinberg-
178  Viertel und ich mußte mit der Straßenbahn hinfahren. Deshalb
179  bekam ich eine Schülerlegitimation in einer blaugerahmten
180  Zelluloidhülle und war sehr stolz auf mich selbst; was würde
181  wohl die schmuddelige Ernestine dazu sagen? In der Schule saßen
182  Jungen und Mädchen in einer Klasse beisammen und daran mußte ich
183  mich erst gewöhnen. Gleich am ersten Tag stellte mir einer der
184  Blaha-Zwillinge ein Bein und ich fiel hin, als ich zur Tafel
185  ging. Er wurde ins Klassenbuch eingetragen, aber mir half das
186  nicht viel. Das Mädchen, das mit mir die letzte Schulbank
187  teilen sollte, denn wir waren die zwei Größten, hatte kein
188  Verständnis für meinen Zorn. Sie saß, Puterrot, wie
189  festgeschnallt auf ihrer Bank und antwortete nicht auf meine Fragen.
190  Erst gegen Mittag, als sie sah, daß sie bald aufstehen müsse,
191  flüsterte sie mir zu, was ihr geschehen war. Sie zeigte mir
192  ihren Rock, er war hellblau und hatte hinten einen Blutfleck.
193  Ich erschrank fürchterlich und half ihr in den Mantel, damit
194  niemand ihre Schande entdeckte. Dann brachte ich sie zur
195  Straßenbahn und versuchte, sie zu stützen, denn ich hatte Angst,
196  sie würde ohnmächtig umfallen. Aber sie war wieder ganz
197  fröhlich, und wir beschlossen, Freundinnen zu werden. Sie hatte
198  viel mehr Busen als ich und hieß Irene Dworak. Ich beneidete
199  sie sehr. Dann erst wartete ich auf meine eigene Straßenbahn.
200  Der Lautsprecher über mir rasselte eine Weile, und dann meldete
201  eine triumphierende Stimme, daß ein Unterseeboot in der Nacht
202  dreizehntausend Bruttoregistertonnen versenkt hatte. Dann spielten
203  sie " Denn wir fahren gegen Engelland ", mit Trommeln und mit
204  Pfeifen, aber davon hörte ich nicht mehr viel, denn meine
205  Straßenbahn kam und ratterte mit mir den Weinberger Hügel
206  hinunter. Der Schaffner war jung und er kniff ein Auge zu, als
207  ich ihm meine Schülerlegitimation zeigte. Ich sah schnell aus dem
208  Fenster, denn ich wußte nicht genau, ob er lachte, weil ich ein
209  fast dreizehnjähriges Mädchen war, oder weil er sich über die
210  Lautsprechernachricht hinwegtrösten wollte. Auf jeden Fall
211  gehörte es sich nicht, zurückzulachen. Allmählich gewöhnte ich
212  mich an das Leben in Prag, ich schreckte nicht mehr vor jedem
213  Auto zurück und lernte sogar, wie man von fahrenden
214  Straßenbahnen abspringt, ohne zu stürzen. Das Geheimnis war,
215  sich beim Absprung möglichst weit nach rückwärts zu beugen.
216  Überhaupt waren die Straßenbahnen eine ganz besondere Freude
217  für mich in jener ersten Prager Zeit. Ich verbrachte ganze
218  Nachmittage damit, von einer Endstation zur anderen zu fahren,
219  ging dann in ganz unbekannten Gegenden spazieren, und erst nachdem
220  ich mich wirklich einsam zu fühlen begann, eilte ich nach Hause,
221  wo ich meiner Mutter atemlos von meinem Abenteuer erzählte.

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