Quelle Nummer 412
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.04 : BIOGRAPHISCHES
LYNCHJUSTIZ
WLADIMIR LINDENBERG
BOBIK IM FEUEROFEN
EINE JUGEND IN DER RUSSISCHEN REVOLUTION
ERNST REINHARDT VERLAG MUENCHEN/BASEL O.J.
(LAUT KATALOG 1970)S. 193-
001 LYNCHJUSTIZ. Der General bat Bobik, ob er
002 nicht zu PafnŁtij reiten wolle und ihn bitten, ein gutes
003 Herzmittel aus Kräutern zu bereiten. Bobik freute sich auf die
004 Gelegenheit, den Alten, den er verehrte, wieder zu sehen.
005 JadwĄga wollte beim Schwiegervater bleiben. Mitja wurde
006 Bobik beigeordnet. Gerne wäre er allein geritten, aber der
007 Großvater verbot es ihm. Es war ein heißer Sommertag. Die
008 Pferde waren matt und hatten keine Lust im Trab zu laufen.
009 Bobiks Pferd schüttelte die Mähne, um sich der lästigen
010 Fliegen zu erwehren. Mitja erzählte aus seiner Jugend. Seine
011 Eltern waren schon im Dienste der Krasnosselski gestanden;
012 solange er denken konnte, bewohnten sie das sonnige Häuschen neben
013 den Remisen. Mitja war kein Bauer mehr, obwohl seine Verwandten
014 in den Dörfern der Umgebung lebten. Ehe er durch den Tod seines
015 Bruders Kolka Hauptkutscher wurde, hatte er mit den Pferden
016 gespielt, sie gepflegt, sie in die Koppel getrieben und sie
017 zugeritten. Er war ein großer Pferdekenner. Stundenlang konnte
018 er von ihnen erzählen, er nannte sei beim Namen, und ein
019 Unbeteiligter würde geglaubt haben, daß er von lieben Freunden
020 spreche. Sie waren nahe an das Dorf herangeritten, sie konnten
021 schon die goldene Kuppel der Kirche sehen, die die Hütten
022 überragte, da hörten sie laute Schreie und sahen einen Haufen
023 erregter Menschen. " Wir sollten vielleicht lieber heimreiten,
024 Herrchen. Da geschieht etwas Ungutes. Sicherlich werden die
025 Bauern Diebe und Deserteure fertig machen ". " Was heißt
026 fertig machen, sie werden sie doch nicht töten? ", schrie
027 Bobik entsetzt. " Was glaubst du, du denkst wohl, sie sagen
028 denen Dankeschön für alle Räuberei. Nein, hier herrscht jetzt
029 das Gesetz der Vergeltung ". " Du sagst es so kalt, als ob du
030 vom Essen oder Baden sprächest. " " Nun ja. " Sie ritten
031 dennoch weiter, bis sie nahe an die erregte Menge herankamen. An
032 die dreißig Bauern, Frauen und Kinder standen in einem Haufen
033 dicht beisammen, gestikulierten wild und schrien erregt. Bobik
034 konnte vom Rücken des Pferdes sehen: mitten in die Straße war
035 eine große Grube gegraben worden, in ihr lagen gefesselt, noch
036 lebend, aber schrecklich abgerissen und zerschunden, drei Soldaten.
037 Sie versuchten etwas zu sagen, offenbar flehten sie um Gnade,
038 aber jedes ihrer Worte wurde mit einem wütenden Geschrei der
039 erhitzten Menge beantwortet. Eine magere ältliche Frau mit
040 verzerrtem Gesicht und unordentlichem Haar keifte laut: " Lügt
041 nicht, ihr Banditen, ihr Gottlosen, ihr wart es und keine
042 anderen, ich habe euch schon seit Tagen hier herumziehen sehen! "
043 " Seid doch einmal ruhig, was macht ihr denn hier! ",
044 brüllte Bobik, so laut er konnte. Ein Bauer sah ihn scharf an.
045 " Troll dich, du Herrensohn, misch dich nicht in unsere
046 Angelegenheiten. Warte nur, bis du an die Reihe kommst. Die
047 haben der Kuh auf der Weide das Euter abgeschnitten, das Tier
048 brüllt, daß es einem das Herz im Leibe umdreht, es verblutet.
049 Verstehst du das, Bartschuk (Herrensohn). Und nun mach, daß
050 du verschwindest. " " Ihr könnt aber doch nicht die drei
051 Menschen einfach umbringen, sie hier lebendig begraben? Das ist
052 doch unchristlich, wo habt ihr denn euren Gott?! " " Bah,
053 Gott ist weit und das Väterchen Zar hat abgewirtschaftet, nun
054 müssen wir sehen, wie wir uns unserer Haut wehren. Los Kinder,
055 los! an die Arbeit! " Die Bauern bückten sich und warfen
056 Klumpen von Erde und Steine auf die gefesselten Soldaten. Sie
057 schrien und flehten, aber nach wenigen Minuten wurden sie still,
058 man hörte nur das Aufprallen der Klumpen und die Schimpfereien
059 und Flüche der Bauern. Mitja faßte kurzer Hand die Zügel von
060 Bobiks Pferd und wendete, dann gab er seinem Pferd die Sporen.
061 Beide trabten dem Schloß zu. Bobik war tief erschüttert.
062 " Warum hast du die Pferde gewendet, glaubst du, wir hätten nichts
063 ausrichten können? Wir mußten sie doch retten, auch wenn es
064 Räuber waren, dafür gibt es doch Gerichte. So kann man es doch
065 nicht machen, einfach lebendig begraben, das ist doch furchtbar!
066 Es sind doch Menschen, sie haben doch auch irgendwo eine Mutter,
067 eine Frau und Kinder! " " Reg dich nicht auf, Herrchen. Du
068 wirst noch viel erleben. Einen Rat gebe ich dir; sag nichts
069 davon dem General, der hat es schwer genug, und helfen kann er
070 auch nicht, er regt sich nur auf. " Bobik behielt das furchtbare
071 Erlebnis für sich. Er sagte auch JadwĄga kein Wort davon.
072 Er entschuldigte sich, daß er die Medizin nicht gebracht habe,
073 sein Pferd habe ein loses Hufeisen gehabt. Mitja würde gegen
074 abend nochmal dorthin reiten. Am Sonntag standen JadwĄga
075 und Bobik in der Kirche mitten unter den Bauern. Sie schauten
076 die Herrschaften neugierig an. Die meisten grüßten sie. Bobik
077 sah unter ihnen die Teilnehmer an der Strafexpedition. Die magere
078 Frau hatte ein Tuch auf dem Kopf, sie verneigte sich tief beim
079 Gottesdienst und bekreuzigte sich. Alle waren ehrbare und
080 gottesfürchtige Bauern. Dann fiel Bobik ein, daß die Menschen
081 früher zu Hinrichtungen wie zu Volksfesten gingen, bei allen
082 Hexenverbrennungen gafften, und daß die Guillotine in der
083 französischen Revolution immer ihr Publikum hatte. Sie kamen aus
084 der Messe und gingen zur Hinrichtung. " Was sind das für
085 Menschen ", dachte Bobik. Der rote Hahn. Es hatte den
086 ganzen Juli nicht geregnet und war sehr heiß. Das Laub der
087 Bäume und das Gras waren verstaubt und vor der Zeit gelb geworden.
088 In der Luft war brandiger Geruch von den vielen Waldbränden
089 und von sich häufenden Bränden von Gutshäusern und Bauernhöfen.
090 Niemand hatte Lust zum Löschen, es gab auch nicht genug
091 Wasser dazu. Das Vieh brüllte auf den Weiden vor Durst, weil
092 die Brunnen vielerorts versiegten. Die Horden von herumlungernden
093 desertierten Soldaten wurden immer größer und gefährlicher. Sie
094 lagerten im Park, zertrampelten den Rasen, bespuckten ihn mit
095 Schalen von Sonnenblumenkernen, sie schlugen den Marmorfiguren
096 die Nasen oder die Köpfe und Arme ab oder warfen sie um. Sie
097 kamen ins Schloß und forderten frech Lebensmittel oder Wodka.
098 Auf dem anderen Ufer des Sees sah man ihre Lager, nachts
099 loderten Feuer, man hörte ihre lauten zügellosen Gesänge. Man
100 war völlig machtlos gegen sie. JadwĄga und Bobik wagten
101 sich kaum in den Park hinaus. Wenn sie Soldaten begegneten,
102 versuchten sie, sie anzusprechen; aber es gelang ihnen nicht,
103 jene spuckten mit Verachtung vor ihnen aus und oft fiel ein neues
104 Schimpfwort: " Blutsauger " und BurschŁi ". Im
105 eigenen Haus und Park begegnete man unerbittlichen Feinden, die
106 einen nicht eines Grußes oder eines freundlichen Wortes würdigten. "
107 Was haben wir nur verbrochen, Mami, daß sie uns so hassen
108 und verachten? ", fragte Bobik bedrückt und verschüchtert. "
109 Wir gehören zu einer Kaste, Bobik, die jahrhundertelang
110 geherrscht hat, die ihre Vorrechte in vollen Zügen genoß und oft
111 die Würde des Bauern mißachtete. Irgendwann rächt sich das.
112 Jetzt steht das Volk auf, sicherlich nicht immer die Besten aus
113 dem Volk; in ihrem Wunsch zu herrschen und gleiches Recht zu
114 erhalten, vernichten sie blindlings Menschen und Kulturgüter,
115 die ihnen als Verkörperung des Herrentums erscheinen. An uns
116 wird das biblische Wort von der Strafe bis ins so und so vielte
117 Glied wahr. Du büßt jetzt für deine Ahnfrau Tamara Tarltzkaja,
118 die, wie man erzählt, ihre Leibeigenen zu Tode
119 prügelte, und für alle die, die leichtsinnig ihr Gut in einer
120 Nacht verspielten oder verzechten, und für jene, die die
121 Familien ihrer Leibeigenen auseinandergerissen und sie nach
122 Sibirien aussiedelten, aus reiner Habgier, weil man ihnen dort
123 billiges Land gab, immer noch mehr Land! Sie konnten ja schon
124 mit dem unermeßlichen Land, das sie besaßen, nicht recht
125 wirtschaften. All das furchtbare Unrecht schreit zum Himmel,
126 Bobik. " " Aber wir, Mami, haben wir denn auch Schuld auf
127 uns geladen? Haben wir nicht als Christen gelebt und eigentlich
128 nur das Gute gewollt? " " Bobik, wir haben nicht als Christen
129 gelebt. Das ist einfach nicht wahr! Wir waren reich und wir
130 haben gelegentlich einige Krümel von unserem Tisch an den armen
131 Lazarus weitergegeben. Wir blieben aber immer reich, wir lebten
132 in Üppigkeit und Überfluß. Christus aber hat uns ein Leben in
133 Askese und Besitzlosigkeit vorgezeichnet. Und wir waren
134 hochmütig. Schüttle nicht den Kopf, gerade du und Sascha, ihr
135 seid von Hochmut besessen, Hochmut über das Alter und die
136 Vornehmheit eures Geschlechts. Was ist das schon! Gewiß
137 unsere Ahnen waren Generale, Senatoren, Botschafter,
138 Kammerherren und ähnliche Würdenträger, aber glaubt ihr denn,
139 daß die Familien der Bauern weniger alt sind? Sie sitzen doch
140 auch seit Urzeiten auf ihrer Scholle, und sie sind stolz, daß
141 sie Bauern sind und Jahrhundert auf Jahrhundert den Boden
142 bearbeitet haben, damit er Frucht trägt und uns alle ernährt.
143 Ich habe oft Angst, Bobik. Wenn ich manchmal nachts wach liege,
144 denke ich, wie stehe ich einmal vor dem Thron Gottes, wenn der
145 Erzengel Michael die Sünden und die Unterlassungen auf die eine,
146 und die guten Taten auf die andere Waagschale legt. Und dann
147 schaut er mich an und fragt mich: Wie hast du mit dem Pfund, das
148 dir gegeben wurde, gewuchert? " Und ich stehe da mit leeren
149 Händen, und ich weiß, daß ich im Leichtsinn fast alles vertan
150 habe, Gut und Geld, gute Vorsätze und die Zeit, oh, die
151 Zeit, denn auch sie ist ein Geschenk Gottes! " " Mami, wie
152 kannst du so etwas sagen! ", schrie Bobik erregt. " Wenn es
153 einen guten und edlen Menschen gibt, der immer nur an andere denkt
154 und anderen hilft, dann bist du es! " " Zu wenig, Bobik, zu
155 wenig! " JadwĄga seufzte. Eines Nachts wachte Bobik auf,
156 er glaubte seltsame Geräusche gehört zu haben. Irgendwo
157 knistert es und es klang, als ob eine Menge von Vögeln
158 zwitscherten. Die Fenster waren mit weißen Tüllgardingen
159 verhangen. Der Himmel war rot und hell. Es konnte doch noch
160 nicht der Sonnenaufgang sein! Bobik schaute auf die Uhr, es war
161 ein Uhr. Plötzlich durchzuckte ihn der Gedanke: " Es brennt.
162 Das Schloß brennt! " Er sprang aus dem Bett, rannte zum
163 Fenster. Der ganze Himmel war rot. Weit und breit gab es keine
164 andere Behausung. Der Wald stand schwarz und drohend am anderen
165 Ufer. Also konnte es nur das Schloß oder die
166 Wirtschaftsgebäude sein. Er zog sich schnell an und lief zur
167 Mutter. Er weckte sie. Sie liefen durch die Bildergalerie der
168 großen Halle im Haupttrakt zu. Das Portrait des Zaren Dimitri
169 1 Joannowitsch, den man den " Falschen Demetrius " nannte,
170 war hell erleuchtet. Er trug einen eisernen Brustpanzer. Das
171 Feuer spielte auf seinem breiten, gutmütigen Gesicht, er schien
172 zu lächeln. Bobik und JadwĄga blieben unwillkürlich einige
173 Sekunden vor dem Bild stehen, so fasziniert waren sie von der
174 geheimnisvollen Persönlichkeit. Dann faßte Bobik seine Mutter
175 an der Hand und zog sie weiter. Sie rissen die Tür auf. Die
176 Halle stand lichterloh in Flammen. Rauch und Feuer schlugen
177 ihnen entgegen. Sie rannten zurück. Bobik ergriff eine schwere
178 bronzene Vase und schlug ein langes, bis zum Boden reichendes
179 Fenster ein. Er sprang ins Freie und half JadwĄga heraus.
180 Sie zwängten sich durch die dichten Sträucher und standen vor dem
181 Schloß. Der ganze Mitteltrakt und der östliche
182 Kavaliersflügel brannten. Rauch und Flammen quollen aus den
183 gesprungenen Fenstern. Funken flogen hoch zum Himmel empor. Ein
184 dröhnendes Rauschen und Knistern war in der Luft. JadwĄga
185 und Bobik sahen sich an. Ihre Gesichter waren rot vom
186 Widerschein des Feuers. Sie hielten sich fest an den Händen.
187 Immer wenn es früher in der Nähe brannte und die Feuerglocken
188 Alarm läuteten, ließen sie anspannen und fuhren dorthin. Sie
189 halfen den Obdachlosen, bargen ihr Gut und nahmen sie oder ihre
190 Kinder auf. Aber neben der Pflicht zur Hilfe war es auch die
191 ungeheure Faszination, die von der vernichtenden Macht des Feuers
192 ausging, die sie dazu trieb. Es war wie der Ausbruch eines
193 Vulkans. Wie klein und schwach war der Mensch angesichts der
194 entfesselten Gewalten der Natur! - Nun war es ihr Eigentum,
195 das vernichtet wurde. " Der Großvater! ", rief Bobik
196 entsetzt. " Er ist bestimmt in den Flammen! " Er riß sich
197 los und rannte zum Hauptportal, aber aus den Türen züngelten
198 Flammen, es war kein Durchkommen. Er lief um das lange Gebäude
199 herum zum See. Dort saß zusammengekauert der alte Kammerdiener
200 GawriĄl und weinte. Bobik berührte ihn an der Schulter,
201 er sah erschrocken und erwartungsvoll auf. " Du bist es Herr? ",
202 er nannte Bobik zum erstenmal " Herr ". " Was ist mit dem
203 Großvater, GawriĄl? Hat er sich gerettet? Ist er in
204 den Flammen umgekommen? Weißt du etwas? " GawriĄl
205 winkte ab mit der Hand. " Umgekommen ist unser Väterchen
206 Exzellenz! Ich habe das Rauschen gehört und stand eiligst auf,
207 da sah ich gleich, was los war. Ich rannte durch die Räume,
208 aber zum Mitteltrakt war kein Durchkommen mehr, alles ein
209 Flammenmeer. Da ist unser Herr sicherlich drinnen erstickt. Das
210 war sein Wille, er wollte nicht mehr leben, diese Welt war ihm
211 zuwider und fremd, er hatte nur eine Sehnsucht, nicht mehr zu
212 leben. " - Der junge und der alte Mann bekreuzigten sich.
213 Mittlerweile hatte sich JadwĄga zu ihnen gesellt.
Zum Anfang dieser Seite