Quelle Nummer 411
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.04 : BIOGRAPHISCHES
MARGOT BENARY-ISBERT
ICH REISE MIT MEINEN ENKELN
JOSEF KNECHT VERLAG FRANKFURT 1971, S. 46-
001 Am 22.Juli 1969 brachten die Eltern David und Norman zu
002 mir nach Santa Barbara. Auch der siebenjährige Alan war dabei,
003 deutlich etwas betrübt über den Abschied von den großen Brüdern,
004 die er nun zwei lange Monate nicht sehen würde. Norman, mit
005 dem er sich oft streitet, würde er allenfalls verschmerzen können.
006 David aber ist sein Ideal und Vorbild, und wenn man ihn fragt,
007 was er später einmal werden will, sagt er: so wie David. Die
008 Familie brachte uns auf den kleinen Flugplatz von Santa Barbara
009 und stand dann winkend auf dem festen Boden, während unser
010 Flugzeug immer höher in den blauen Himmel entschwand. Ich hatte
011 beschlossen, einen Nachmittagsflug nach Los Angeles zu nehmen und
012 mit den Buben in einem Hotel am Flugplatz zu übernachten. Am 23.
013 gegen Mittags sollte unser Lufthansa-Flug nach Frankfurt
014 starten; es wäre also Zeit gewesen, wenn wir erst am 23.
015 morgens von Santa Barbara abgeflogen wären. Aber der Juni ist
016 in Kalifornien ein Monat häufiger dichter Morgennebel. Ich
017 hatte es einmal erlebt, daß wir verspätet von Santa Barbara
018 abflogen und dann noch eine halbe Stunde über dem Pflugplatz von
019 Los Angeles kreisten, weil es auch dort neblig war. Es war ein
020 unbehagliches Gefühl, nicht zu wissen, ob der soviel stärkere
021 Übersee-Jet, der weniger vom Nebel abhängig war als unsere
022 kleine Küstenmaschine, auf uns warten würde. Er wartete zwar,
023 aber ich wollte diese Unsicherheit nicht noch einmal reskieren.
024 Meine Reiseagentin hatte uns im Hacienda Hotel Quartier bestellt,
025 und ich hatte Freunde zum Abendessen eingeladen. Wir wurden vom
026 Wagen des Hotels abgeholt, bekamen aber wegen der Überfüllung
027 der Reisezeit nicht zwei, sondern nur ein Zimmer. Da reichlich
028 Platz für ein drittes Bett war und ein Ankleidezimmer
029 und Badezimmer zu dem Appartement gehörten, machte das
030 Zusammenwohnen keine Schwierigkeiten. Als ich gebadet und mich
031 umgezogen hatte und in unser Zimmer zurückkam, fand ich den
032 Schreibtisch und den Teppich mit Drahtstücken, Papierschnitzeln
033 und bunten Federchen bedeckt und David in eine mir rätselhafte
034 Tätigkeit vertieft. " Was machst du denn da? " fragte ich.
035 Ich hatte mich schon über die Schwere seines Handkoffers
036 gewundert, als ich ihn auf einen anderen Platz gestellt hatte.
037 " Fliegen ", antwortete David, " zum Fischen. " Da hatte der
038 Junge also einen Holzkasten mit allem Material und den
039 Instrumenten einer Miniaturfliegenfabrik eingepackt. Kein Wunder,
040 daß sein Koffer so schwer war, als hätte er Goldbarren darin.
041 Hoffentlich mußte er bei der Gepäckaufgabe nicht alles auspacken,
042 weil ein gewissenhafter Beamter irgend etwas Verdächtiges
043 vermutete. Aber da bisher alle Highjacker mit ihren Pistolen und
044 Bomben immer unbehelligt durchgekommen sind, würde hoffentlich
045 auch Davids Fliegenfabrik kein Aufsehen erregen. " Ich mache
046 dir auch eine schöne bunte Fliege für deinen Hut ", versprach
047 er mir. " Tu das " sagte ich, " aber ich glaube nicht, daß du
048 zum Fischen Gelegenheit haben wirst. " Als auch die Buben
049 gebadet und ihre langen Stirnlocken mit Wasser glatt gestriegelt
050 hatten, gingen wir in den Patio hinunter und warteten unter üppig
051 blühenden tropischen Pflanzen auf die Freunde. Norman besorgte
052 uns eine Zeitung. Da wir bereits Gerüchte über einen möglichen
053 Streik der Beamten des Kontrollturms gehört hatten, von dem alle
054 ausfliegenden und einfliegenden Flugzeuge dirigiert werden.
055 Es stellte sich heraus, daß es sich nicht um einen Streik
056 handelte. Vielmehr wollten sich die Beamten krank melden, wenn
057 ihre Forderungen nach vermehrtem Personal und kürzerer
058 Arbeitszeit nicht erfüllt würden. " Da haben sie ganz recht ",
059 sagte Norman. " Der Flugverkehr ist mit jedem Jahr dichter
060 geworden. Stell dir nur mal vor, was das für eine Nervenmühle
061 für die Männer im Turm ist. Sie können einfach nicht mehr die
062 Verantwortung für die Sicherheit des Flugverkehrs tragen, wenn
063 ihre Bedingungen nicht anerkannt werden. " Und dann erklärten
064 mir die Brüder gemeinsam haargenau die technischen Zustände auf
065 so einem Kontrollturm. Ich verstand höchstens die Hälfte, denn
066 Technik war nie meine Stärke. Aber ich fing an zu ahnen, wie
067 gut meiner lückenhaften Bildung auf diesem und anderen Gebieten
068 die Reise mit den Enkeln bekommen werde, die so genau über vieles
069 orientiert waren, was mir ein Buch mit sieben Siegeln ist. Die
070 Freunde kamen, und wir sprachen gleich mit ihnen über unsere
071 Sorge, morgen in Los Angeles sitzen zu bleiben. Bob, leitender
072 Berichterstatter von den NBC-Abendnachrichten, hatte noch
073 nichts Entscheidendes gehört. Er hielt es für unwahrscheinlich,
074 daß es zu einem Erliegen des ganzen Flugverkehrs kommen werde.
075 Aus unserem gemeinsamen Abendessen konnte leider nichts werden,
076 weil Jean, Bobs Frau, vorhatte, am nächsten Morgen mit dem
077 Töchterchen nach Illinois zu reisen, um Verwandte zu besuchen.
078 Vorher war zu Hause noch viel zu tun, um alles für die
079 Abwesenheit der Hausfrau vorzubereiten. Sie wollten diesmal den
080 Kontinent mit der Eisenbahn überqueren, vermutlich auf Janes
081 Wunsch. Ich kann mir denken, daß für heutige amerikanische
082 Kinder, die von kleinauf an das Flugzeug gewöhnt sind, eine
083 Eisenbahnreise einen ähnlichen Reiz hat, wie in meiner Kindheit
084 eine Fahrt mit der Postkutsche. Ich erinnere mich noch deutlich
085 an eine solche Fahrt, und ich kann sogar mit Sicherheit sagen,
086 daß es im Jahre 1894 war, denn im Dezember dieses Jahres wurde
087 meine kleine Schwester geboren. Der Papa hatte die Mama und mich
088 für die Sommermonate auf einem Bauernhof in Arnoldshain im
089 Taunus einquartiert, wahrscheinlich um seine zarte Frau von allen
090 gesellschaftlichen Pflichten in der Stadt fernzuhalten. Er selbst
091 kam jeden Samstagnachmittag mit dem Fahrrad zu uns heraus, um den
092 Sonntag mit uns zu verbringen. Die Fahrt mit der gelben Kutsche,
093 der junge Postillon, der jedesmal, wenn wir durch ein Dorf
094 kamen, ein Lied auf seinem Waldhorn blies; der Hof mit dem
095 großen Fachwerkhaus, den Ställen und der Schmiede am Tor, vor
096 allem aber der Sohn des Bauern, sind mir so lebhaft gegenwärtig,
097 als wäre dieser Sommer nicht schon 76 Jahre in der Vergangenheit
098 versunken. Während ich jetzt so leicht Namen vergesse, erinnere
099 ich mich noch genau, daß dieser Sohn Emil hieß. Er muß etwa
100 zwölf Jahre alt gewesen sein, fing Frösche für mich in dem
101 Bach, der durch die Wiese seines Vaters plätscherte, erklärte
102 mir alles im Stall und in der Sachschmiede und war für mich kleine
103 Vierjährige ein strahlender, respektvoll verehrter junger Held.
104 Da die Freunde nicht soviel Zeit hatten, wie ich gehofft hatte,
105 gingen wir nur zu einem Abschiedstrunk ins International Hotel,
106 wo es um diese Stunde noch ziemlich leer war und wir behaglich um
107 einen runden Tisch zusammensitzen konnten. Dabei unterhielten wir
108 uns so gut, daß wir in derselben Zeit auch miteinander hätten zu
109 Abend essen können. Aber das merkten wir erst, als die Freunde
110 aufbrechen mußten. Jane, etwas jünger als Norman, saß
111 zwischen den beiden Buben, die zunächst ziemlich stumm waren.
112 Auch interessierten sie sich viel mehr für den bekannten TV-
113 Reporter und Schriftsteller als für das reizende kleine Mädchen.
114 Bob, dessen Stärke Interviews sind, brachte die beiden
115 allmählich dazu, auch etwas zur Unterhaltung beizutragen. Sie
116 hatten sein Buch gelesen, hörten täglich seine Abendnachrichten
117 im Fernsehen und waren sichtlich fasziniert von seiner
118 Persönlichkeit. Das Buch ist bei meinem New Yorker Verlag
119 erschienen, und wir hatten uns durch unsere gemeinsame Verlegerin
120 vor einigen Jahren kennengelernt. Der Titel des Buches ist:
121 " Introduction to Tomorrow ". Es behandelt die außenpolitische
122 Situation der Vereinigten Staaten in den zwanzig Jahren nach dem
123 Zweiten Weltkrieg und auch die wissenschaftlichen Fortschritte
124 dieser Jahre. Das alles interessierte David und Norman brennend.
125 Geschichte und Politik, vor allem aber die Erkennmisse der
126 modernen Physik spielen für sie schon seit einigen Jahren eine
127 große Rolle. Nun müßte eigentlich der zweite Band dieses
128 wichtigen Buches geschrieben werden, der die innere Lage der
129 USA seit dem Friedensschluß behandeln sollte. Aber für den
130 Leiter einer Gruppe von Reportern, der von vormittags um 10 bis
131 abends um halb 8 im Studio oder irgendwo draußen tätig ist,
132 bleibt kaum Zeit zum Schreiben übrig. Allmählich gab es eine
133 allgemeine lebhafte Unterhaltung, die wir alle gern noch lange
134 fortgesetzt hätten. Die Jungen entdeckten allmählich auch, daß
135 Jane nicht nur ein reizendes, sondern auch ein intelligentes
136 Mädchen ist. Als ich sie später fragte, wie sie ihnen gefallen
137 habe, sagten sie: " She is allright. " Ein hohes Lob für
138 diese unsentimentalen Buben. Für mich ist dieses Mädchen genau
139 die Enkelin, die ich mir so sehr gewünscht und nie bekommen habe.
140 " Was soll ich euch von Europa mitbringen? " fragte ich die
141 Freunde beim Abschied. David und Norman sprachen eifrig auf
142 Jane ein. Janes Eltern sagten, ohne einen Augenblick zu zögern:
143 " Etwas für unser Weihnachtszimmer ". Ich hatte ihnen im
144 vorigen Jahr meine geliebten Nürnberger Singerlein geschenkt,
145 fünf handgeschnitzte Figürchen in blauen Westen und langen
146 schwarzen Umhängen; dazu im Hintergrund zwei Häuschen und eine
147 Kirche und rechts und links ein Baum. Für mich waren es keine
148 Nürnberger, sondern Erfurter Kurrendesänger, genau so
149 angezogen wie einst, als Martin Luther einer von ihnen war. Noch
150 zu meiner Zeit, vor Anbruch des Dritten Reiches, konnte man
151 sich diese jungen Sänger an Geburtstagen oder sonstigen
152 Feiertagen für eine Serenade bestellen. Die Freunde hatten sie
153 auf ihren Kaminsims aufgebaut und waren so entzückt davon, daß
154 sie sich jetzt etwas zur Gesellschaft für die Singerlein
155 wünschten. Ich hatte in meinem neuen Heim keinen Kamin mehr, um
156 meine Weichnachtssachen aufzustellen, und Eva hatte bereits die
157 Oberammergauer Krippenfiguren von mir bekommen. Nun hatte ich
158 einen guten Grund, wieder nach Weihnachtssachen zu suchen, was
159 ich immer getan hatte, wenn ich nach Deutschland kam. Im Sommer
160 war das allerdings etwas schwierig, denn da war ja keine Saison
161 für solche Sachen. Aber es würde mir sicher auch diesmal wieder
162 gelingen, nette Leute in Dürerhäusern und anderen guten
163 Kunstgwerbeläden zu überreden, ihre Weihnachtsengel und alles,
164 was dazu gehört, vom Boden herunterzuholen und auszupacken. Als
165 wir die Freunde weggewunken hatten, aßen wir im Hotel zu Abend
166 und gingen dann gleich in unser Zimmer hinauf. David wollte sofort
167 wieder seine Fliegenfabrik in Betrieb nehmen, aber das mußte ich
168 unterdrücken, so reizend ich die bunten Dingerchen auch fand, die
169 er da bastelte. Der nächste Tag würde anstrengend werden, und
170 erst recht die Nacht, denn meistens konnte man sich im Flugzeug
171 nicht ausstrecken, und sitzend ist der Schlaf nicht sehr
172 erfrischend. Von der Umstellung auf den Zeitunterschied ahnten
173 die Jungen noch gar nichts. Am nächsten Morgen wachte ich früh
174 auf, rief gleich die Lufthansa an und erfuhr, daß der
175 Flugverkehr weitergehen werde. Mit dieser guten Nachricht weckte
176 ich die Buben. Wir beschlossen, zeitig zur Lufthansa-Halle
177 zu fahren, dort alles zu erledigen und dann erst in einem der
178 Restaurants zu frühstücken. Ich bin immer gern früh am
179 Empfangspult, wenn noch nicht so viele Leute da sind. Meisten
180 kann man sich dann einen guten Platz reservieren lassen. Davids
181 schwerer Koffer erregte bei der Gepäckaufgabe keinen Verdacht,
182 da wir zusammen noch nicht die Gewichtsgrenze unseres Gepäcks
183 erreicht hatten. Nachdem wir gefrühstückt und die Buben sich
184 noch etwas in der großen Halle umgesehen hatten, bestiegen wir
185 unser Flugzeug, sobald das Tor geöffnet und alle Formalitäten
186 erledigt waren. Zu meiner Freude wurde das Flugzeug nicht voll
187 besetzt. Wir bekamen zu Dreien zwei ganze Reihen von Sitzen;
188 einer von uns würde sich also bequem zum Schlafen ausstrecken
189 können, und wir könnten uns dann abwechselnd schlafen legen. So
190 dachte ich. Aber es traf sich so, daß David der erste war, der
191 die ganze Sitzreihe für sich bekam, und als schließlich die
192 Schlafenszeit herankam, schlief er so fest ein, daß wir ihn nicht
193 wecken wollten. Norman und ich unterhielten uns noch eine Weile,
194 schliefen zwischendurch auch immer mal eine Stunde, vor allem aber
195 genossen wir das Phänomen der " Mitternachtssonne ". Auf dem
196 Flug nach Osten wird es ja die ganze Nacht nicht dunkel. Nur
197 für wenige Minuten sinkt das große Himmelslicht unter den
198 Horizont, um dann gleich wieder aufzusteigen. Morgen
199 dämmerung und Abenddämmerung gehen golden und rosenrot
200 ineinander über. Beim Frühstück im Flugzeug sprach ich mit den
201 Jungen über die Spielregeln, die auf unserer Reise gelten
202 sollten. Ich sagte: " Hört gut zu, boys, und wenn euch etwas
203 nicht einleuchtet, dann unterbrecht mich, denn wir wollen ja alles
204 ganz klarkriegen. " " Je klarer, je besser ", sagte David.
205 " Auf dieser Reise bin ich für euch verantwortlich ", fuhr ich
206 fort, " aber ihr seid auch verantwortlich für mich. Wir wollen
207 es schön zusammen haben, und dazu muß jeder von uns beitragen,
208 sonst wird es nichts. Ich will alles tun, damit ihr diese Reise
209 genießt und euch später gern daran erinnert. Denkt daran, daß
210 ich fünfmal so alt und darum nicht so leistungsfähig bin wie ihr.
211 Da wäre es gut, wenn ihr ein bißchen aufpaßtet, daß ich mich
212 nicht überanstrenge. Denn wenn ich krank würde oder mir die
213 Knochen bräche, dann müßte ich ins Krankenhaus, und ich
214 brauche euch nicht auszumalen, was das nicht nur für mich, sondern
215 auch für euch zu bedeuten hätte ". Sie hörten zu, ohne mich zu
216 unterbrechen, und als ich fertig war, meinten sie, sie hätten es
217 sich mit der gegenseitigen Verantwortung schon selber ungefähr so
218 gedacht.
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