Quelle Nummer 406

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.02 : HEIMAT

DIE ESEL VOM HOHENTWIEL
FRIEDERICH SCHNACK
PETRONELLA IM BAUERNGARTEN
ROSGARTEN VERLAG KONSTANZ FRIEDERICH UND CO KG 1970
S. 103-


001  Zweiter Teil. Die Esel vom Hohentwiel. Vor
002  dem Bodensee liegt der Vorsaal des Sees und seiner großen
003  Landschaft, der ausgebreitete Hegau, eine Gegend mit zahlreichen
004  Kuppen aus vulkanischer Zeit, den erstarrten Füllungen der von
005  Wind und Wetter abgetragenen Vulkanschlöte. Bei der Stadt
006  Singen erhebt sich der Hohentwiel, ein Basalthöcker mit einer
007  Burgruine auf seinem Scheitel. Blickt der Wanderer über die
008  Mauern, so hat er einen weiten Rundblick über das zu seinen
009  Füßen liegende Land, die Stadt Singen und die Kuppen, die
010  wie Einzelgänger in die Weite laufen. Alle sind irgendwie
011  geschichtlich umwittert, was aber für uns wenig bedeuten mag;
012  mehr gilt, daß sie Naturgedenksteine sind und der Bodensee in der
013  Ferne wie ein blauer Spiegel aufglänzt. Unzählige Wanderer und
014  Naturfreunde besteigen den Hohentwiel und seine Schwesterberge und
015  erfreuen sich am Anblick des weiten Landes. Was Wunder, daß in
016  den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als noch mehr
017  zu Fuß gegangen wurde als heutzutage, einige findige Köpfe aus
018  Singen zur Belebung des Fremdenverkehrs zum Hohentwiel ein
019  Unternehmen gründeten, das sie " Singener Eselsgesellschaft "
020  nannten. Sie schafften drei Esel an mit den passenden Sätteln
021  für Damen und Herren, denen sie auf Eselsrücken den Aufstieg
022  zum Gipfel erleichtern wollten. Die Neuerung gefiel, bequeme
023  Leute hatten es schon immer gerne bequem, sie waren auch damals
024  nicht selten: die bequeme Zeit machte es ihnen überdies leicht,
025  und so kamen die geduldigen Esel zurecht. Vor allem fand es die
026  Damenwelt genußreich, auf Eselsrücken zu thronen. Den Kindern
027  bereitete der Bergritt nicht weniger Vergnügen. Am Anfang des
028  Reitweges warteten die Esel auf die Reitlustigen. Hier hatte ein
029  Photograph sein Zelt aufgeschlagen: vor einem gemalten
030  Hohentwiel-Hintergrund hielt er im Bildnis Reiter und
031  Reiterinnen für die Unsterblichkeit fest - und wer wollte seinen
032  Angehörigen oder seinen Erben nicht einen so bedeutungsvollen
033  Augenblick im Bilde gönnen? Unzählige Male trabten die
034  geduldigen Grautiere bergauf und bergab und brachten durch ihrer
035  Beine Arbeit der Gesellschaft einen beachtlichen Nutzen. Sie
036  hatte auch Wiesen gepachtet, von denen die männlichen und
037  weiblichen Mitglieder der " Eselsgesellschaft " das Heu für
038  ihre Tiere ernteten. Alles soweit schön und gut. Eines Tages
039  aber erging aus Württemberg eine Klageschrift gegen die
040  " Singener Eselgesellschaft ". Man muß wissen, Singen ist eine
041  badische Stadt und der im badischen Land liegende Hohentwiel und
042  die zu ihm führende Straße waren damals noch württembergisch.
043  Die muntern Esel hatten sich aus diesem Unterschied jedoch nichts
044  gemacht und hatten nach kreatürlicher Art dann und wann einige
045  Erinnerungen auf der württembergischen Staatsstraße hinterlassen,
046  was keineswegs ein Zeichen ihrer Mißachtung des Nachbarlandes
047  war, sondern ein Merkmal ihrer geregelten Verdauung. Dieser
048  Tatbestand hatte jedoch einen eifrigen württembergischen
049  Staatsdiener verdrossen, und er erbrütete gegen die " Singener
050  Eselsgesellschaft " einen Staatsstreich in Form einer
051  Klageschrift, mit der er ihr die Verunreinigung der
052  württembergischen Staatsstraße zur Last legte. Die " Singener "
053  wurden vor die Schranken des Gerichts zitiert. Da sie sich von
054  dem gegen sie gerichteten Vorwurf nicht reinwaschen konnten, die
055  erfolgte amtliche Besichtigung an Ort und Stelle auch wider sie
056  zeugte, die würtembergischen Sachverständigen auf ihren Schein
057  beharrten und die Singener verträgliche Leute waren, stritten sie
058  nichts ab, stritten sich aber auch nicht lange mit dem
059  Württemberger herum: man könne, entgegneten sie, zwar dem
060  Ochsen, der da drischt, das Maul verbinden, nicht aber einem
061  Esel, der zu Berge zieht, den " hintern Spiegel ". Sie
062  machten kurzen Prozeß, indem sie ihr heiteres Unternehmen
063  auflösten. Der Photograph brach sein Zelt ab, die Damenwelt
064  ging fortan zu Fuß zur Wirtschaft auf dem Hohentwiel, die
065  Bequemen und die Dicken mußten sich allein weiterhelfen, und die
066  Kinder hatten das Nachsehen. Die Esel wurden verkauft. Der
067  Pächter auf dem Hohentwiel erwarb sie für seine Landwirtschaft
068  und seinen Milchwagen, der allmorgendlich vom Berg zur Stadt
069  Singen ratterte. Auf diese Weise waren die badischen Esel in den
070  württembergischen Stall gekommen. Und nun, da württembergisch
071  geworden, durften sie auf der Staatsstraße zum Hohentwiel, dem
072  Wahrzeichen Württembergs, ungehindert und unbeklagt tun, was
073  ihnen vorher als badischen Eseln sträflich verargt worden war.
074  Auf ihrem täglichen Milchweg gewannen sie zu den alten Freunden
075  rasch neue, und so kam es, daß die vor gericht aufgelöste
076  " Singener Eselsgesellschaft " ihre Wiedergeburt erlebte, wenn
077  auch in veränderter Form. Die Esel waren nach dem Rechtsstreit
078  zu großer Berühmtheit gelangt, und man sagte von ihnen, sie
079  hätten durch Württemberg gewonnen, was sie durch Württemberg
080  verloren hatten - das Recht auf die Straße. Der Uhrenmann
081  aus dem Schwarzwald. Der Junge, der am Brunnen Wasser in
082  einem Krug holte, brachte mich zu seinem Großvater, dem
083  Uhrenmann. Vor dem kleinen Schwarzwaldhaus waren Bretter
084  gestapelt für Uhrengehäuse und Uhren schilder, und als
085  der Junge die Tür aufklinkte, meinte ich Uhrenklänge zu hören.
086  Die Werkstatt war niedrig. Der Uhrenmeister hatte sich bei
087  meinem Eintritt erhoben, ein Mann mit würdigem Greisenhaupt.
088  Ich entschuldigte mich der Störung wegen und bat ihn, mir seine
089  Uhren und sein Handwerk zu zeigen. " Sie stören mich nicht ",
090  sagte er und fügte schalkhaft hinzu: " Oder stören Sie mich
091  nur, es ist mir recht - der Mensch ist kein Uhrwerk! In den
092  Uhren jedoch sind Störungen nicht statthaft. Ich habe auch Zeit
093  - bei einem Uhrmacher kommt es überdies nicht darauf an, er hat
094  genug Zeit. Er teilt die Zeit ein und teilt sie aus - jede Uhr
095  bekommt ihren gerechten Anteil (...) " Ein Uhrenphilosoph.
096  " Deshalb gehen wohl auch alle die Uhren verschieden ", versetzte
097  ich und blickte auf die Reihe der an der Wand hängenden
098  Schwarzwälder Uhren, die allesamt die verschiedensten Stunden
099  anzeigten. " Sie gehen verschieden, doch alle genau ", sagte er.
100  Die Pendel schwangen hin und her, ein leises, insektenhaftes
101  Ticken und Schwirren ging von ihnen aus. " Auf die Art ",
102  meinte der Alte, " hat jede Uhr ihre eigene Stunde, und es gibt
103  beständig Klingklang und Kuckuck. " In diesem Augenblick rief
104  eine Uhr " Kuckuck ". Ihr Zeiger wies auf die Zahl eins. Es
105  war aber nachmittags um drei. Zum Unterschied von den anderen
106  Uhren mit dem gemalten Zifferblatt und Schild hatte die
107  Kuckucksuhr eine geschnitzte Schauseite. Laub und Zweigwerk
108  umrahmten das Blatt, so wie es einer Walduhr zukam, ist doch der
109  Kuckuck ein Waldvogel. In seinem kleinen Giebelgelaß hauste er
110  hinter dem geschlossenen Türchen, das er alle Viertelstunden
111  aufstieß, um nickend herauszurufen. Bronzene Fichtenzapfen waren
112  die Gewichte des Uhrwerks. " Ein netter Einfall, den Kuckuck
113  zum Schicksalsvogel, zum Rufer der ablaufenden Zeit zu machen (...) ",
114  bemerkte ich, wiewohl ich die bemalten Bauernuhren mehr
115  bevorzugte als die geschnitzten mit dem Vogel. " Man hat noch
116  nicht herausbekommen, wem die Schwarzwälder Kuckucksuhr zu
117  verdanken ist. Die einen meinen, Uhrenhändler hätten sie in der
118  Fremde kennengelernt, andere sagen, der krähende Hahn auf der
119  Straßburger Münsteruhr sei ihr Vorbild. Hähne sind schwierig,
120  sie krähen verschiedentlich, der Kuckuck aber hält sich an zwei
121  bestimmte Töne, die große Terz. Zwei offene Pfeifen von
122  achtundzwanzig und fünfunddreißig Zentimenter Länge oder auch
123  zwei halb so lange, doch gedeckte, lassen den Ruf erschallen.
124  Das Uhrwerk setzt die Blasebälge in Gang, wodurch die Pfeifen
125  angeblasen werden. Franz Anton Ketterer war der erfindungsreiche
126  Mann, der die erste Schwarzwälder Kuckucksuhr erbaut hat. Er
127  stammte aus dem Ort Schönwald. Wenn die Bälge auf und nieder
128  gehen, schlägt der Vogel mit den Flügeln und bewegt den
129  Schnabel. Wer das Öffnen und Schließen des Türchens erfand,
130  wissen wir nicht so recht. " " Kuckuck! Kuckuck! " rief
131  eine andere Uhr und zeigte halbsechs. " Mein Vater ",
132  erzählte ich, " besaß eine gemalte Schwarzwälder Bauernuhr mit
133  Rosen auf dem Schild. Die stammte aus Rötenbach. " " In
134  Rötenbach blühte einst die Volkskunst. Die Männer schnitzten,
135  machten Uhren und bauten Geigen. " " Geigen? Es gab
136  Geigenholz? " " Feines Geigenholz, Tanne, Fichte, Ahorn.
137  In jedem Haus in Rötenbach arbeitete damals vor hundertfünfzig
138  und mehr Jahren ein Meister seines Faches. Die bemalten
139  Uhrenschilder einer Familie Winterhalter waren sehr geschätzt,
140  die Leute hatten ein gutes Einkommen. Einer der Söhne ging nach
141  Rußland und wurde Maler am Hof zu Petersburg. Ein anderer
142  Winterhalter malte ein Bild von Napoleon. Aber das ist alles
143  vergessen. Das Gedächtnis der Welt ist schwach. Mit der
144  Uhrenmacherei ist auch nicht mehr viel los. Die Leute mögen die
145  einfache Bauernuhr mit dem Schild nicht mehr, sie kaufen lieber
146  Fabrikware. Und doch ziert ein solches Schild die Wand. " Auf
147  einem weißen Uhrenschild wurde der Stundenkreis von zwei gemalten
148  Säulen mit gelben Sockeln und Kapitellchen gehalten. Ein
149  Rosenbukett flammte darüber. Ich wurde durch das Bild an die
150  Uhr meiner Bubenzeit erinnert - aus diesen Bauernrosen oder
151  Päonien schien ein fernes Leuchten hervorzuschimmern, wie aus
152  einem schon lange vergangenen Sommer. Ein anderes Uhrenschild
153  zeigte eine Szene: Neben dem Zifferblatt ging eine gemalte
154  Holzstiege zu einer Veranda empor, auf der Stiege verabschiedete
155  sich ein Wanderbursche von einem Mädchen, seiner Liebsten,
156  während unten bereits ein anderer auf den Scheidenden wartete.
157  Diese Uhr war eine Abschiedsuhr - so wie jede Stunde den
158  Abschied schlägt. Am hübschesten war die Uhr mit den sechs
159  Glasglocken, die in Paaren in einem kleinen Glockenstuhl
160  übereinander hingen. Kleine Hämmerchen würden an die gläsernen
161  Rundungen schlagen, und der seitlich stehende Eremit in der
162  braunen Mönchskutte würde die siebente Glocke auf der Spitze mit
163  dem Glockenstrang bewegen, sobald die Zeit erfüllet war. Und
164  schon war es soweit: die Glocken erklangen, der Einsiedler
165  läutete, und ein Musikwerk zirpte, die Melodie anstimmend:
166  " O Schwarzwald, o Heimat, wie bist du so schön! " Alles
167  klang und war volkstümlich: der Uhrenmann, seine Werkstube,
168  der Knabe im Hintergrund. Da verstummte das Geläute. " Was
169  Sie da hörten ", sagte der Meister, " war der Seelenklang
170  einer vergangenen Zeit. Diese Uhr ist ein Museumsstück, aber
171  ich geb " sie nicht weg. Doch sie ist schon keine richtige Uhr
172  mehr, sondern eine Vorläuferin der Musikuhren, der Musikwerke,
173  wie sie mit vielen Pfeifen und Registern einst im Schwarzwald
174  verfertigt und auf Messen und Jahrmärkten, in Gasthäusern und
175  Hotels aufgestellt wurden. Heute steht an ihrer Stelle das Radio,
176  die Fernsehtruhe. Der Lauf der Welt, das Neue verdrängt das
177  Alte. Eines Tages wird es auch mit meinen Uhren soweit sein.
178  Dann hat es zwölf geschlagen. " Er lachte ein wenig. " Es ist
179  erst elf (...) " Dann tat er einen Schluck aus dem Wasserkrug, den
180  ihm der Junge, sein Enkel, gebracht hatte. " Das
181  Schwarzwälder Uhrenlied - ist es Ihnen bekannt? " Er langte
182  eine glatte Holztafel von der Fensterwand über dem Werktisch. "
183  Es ist unser Schicksalslied. Kaum einer kennt es noch. Wozu
184  auch? Andre Zeiten, andre Lieder. Die jungen Leute singen
185  heutzutage ihre Schlager, darin geht es auch um Liebe, Leid und
186  Abschied, nur butteriger und schaumiger als in unserm
187  Uhrmacherlied. Der Lebenslauf ein Uhrenlauf? Der Volkspoet
188  hat die Stunden gezählt. " Er reichte mit die Tafel, auf der
189  mit schwarzer Schrift und roten Anfangsbuchstaben wie in einem
190  alten Meßbuch der Text geschrieben stand: " Die Uhr schlägt
191  eins./Ich war ein Kind,/Wie war die Zeit mir
192  wohlgesinnt/Und flog dahin in Wonnen./-Die Uhr
193  schlägt zwei./Es wächst der Knab ",/Feld, Wald und
194  Heid "/Sind seine Lab ",/Frisch fließt der
195  Lebensbronnen./-Die Uhr schlägt drei./Es wird
196  ungrad ",/Die Welt ist weit/Und rauh der Pfad,/
197  Doch Kraft ist in den Seelen./-Die Uhr schlägt vier.
198  /Es winkt das Glück,/Es kann dir gar nicht fehlen./
199  - Die Uhr schlägt fünf./Ich hatt " eine Braut,/
200  Die ward zum Weib mir angetraut./Wie war die Arbeit süße.
201  /-Die Uhr schlägt sechs./Das Haus ward voll,/
202  Der Kinder Lust im Ohr mir scholl,/Doch Sorg " hatte
203  schnelle Füße./-Die Uhr schlägt sieben./Krankheit
204  kam,/Mich bang und früh gefangen nahm,/Mein Weib ging
205  für mich schaffen./-Die Uhr schlägt acht./Ich sah
206  einen Schrein./Da legten sie ein Kind hinein,/Konnt
207  " kaum empor mich raffen./-Die Uhr schlägt neun./Ich
208  bin erwacht,/Ich hab " mein Weib zur Ruh " gebracht,/
209  Wohl unter grünem Rasen./-Die Uhr schlägt zehn./
210  Das Herz mir brach,/Die Kindlein folgten der Mutter nach,
211  /Haben mich alle verlassen./-Die Uhr schlägt elf./
212  Die Zeit ist stumm,/Wie einsam ist " s um mich herum,/
213  Nichts will zurück mir kehren./Genug! genug! Bald
214  schlägt es zwölf./Den letzten Schlag./Gott helf!
215  Gott helf!/Darf ich ihn endlich hören? " Er hängte die
216  Tafel wieder an die Wand. " Auch auf der Lebensuhr des
217  Schwarzwälder Uhrmachergewerbes war es einst Morgen und Mittag.
218  Und jetzt ist Abend. Ich bin einer der letzten und ältesten
219  Uhrenmänner. Meine Vorgänger im Uhrengewerbe und Uhren
220  handel waren tüchtige Männer. Im Jahre 1770 hatte sich der
221  Uhrenhandel bereits über Europa hinaus bis nach der Türkei und
222  Ägypten ausgedehnt. 1883 gab es in Dublin zweiundzwanzig und in
223  London hundertdreißig Uhrenhändler aus dem Schwarzwald. Damals
224  wurden über eine halbe Million Uhren ausgeführt. Im Amt
225  Triberg war der Hauptsitz der Uhrenfabrikation - man zählte
226  rund vierhundertdreißig Uhrenmacher (...).

Zum Anfang dieser Seite