Quelle Nummer 405
Rubrik 10 : SPRACHE Unterrubrik 10.01 : LEHRBUECHER
FRANZOESISCHE STILISTIK
RUDOLF HALLIG
SPRACHERLEBNIS UND SPRACHFORSCHUNG
AUFSAETZE ZUR ROMANTISCHEN PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON H.P. SCHWAKE
CARL WINTER UNIVERSIAETSVERLAG, HEIDELBERG 1970
S. 124-
001 Grundfragen und neuere Entwicklung der französischen
002 Stilistik. Keine philologische Diziplin stellt der Erörterung
003 ihrer Aufgaben und Methoden solche Schwierigkeiten entgegen wie
004 die Stilistik. Während man bei der Behandlung von grammatischen
005 und syntaktischen Fragen festen Grund unter den Füßen fühlt,
006 ist das bei der Stilistik nicht der Fall. Wohin man auch tritt,
007 der Boden gibt nach. Die Ursache für diesen Zustand der
008 Unsicherheit liegt, wie mir scheint in der manigfachen Art, in
009 der das Wort Stil verwandt werden kann und als deren Folge
010 nun, je nach dem Standpunkt des Forschers und der Bedeutung, die
011 er dem Worte Stil gibt, der Stilistik jeweils verschiedene
012 Aufgabe zugewiesen werden. Bei dieser allgemeinen Lage halte ich
013 es für unerläßlich, an den Eingang meiner Ausführungen eine
014 Begriffsuntersuchung zu stellen, die in unserem Falle am
015 zweckmäßigsten am vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch anknüpft,
016 um einmal zu prüfen, wie das Wort " Stil " im Alltag verwandt
017 wird und welche Vorstellungen mit der Verwendung dieses Wortes
018 verbunden werden. Wir sagen z. B.: ein guter Stil, ein
019 flüssiger Stil, ein gewandter Stil, ein eigenwilliger Stil,
020 aber auch ein schlechter, ein unbeholfener, ein überladener, ein
021 schwerfälliger. Wir sprechen von einem kaufmännischen Stil.
022 Der romantische Stil, der gotische Stil sind gängige Ausdrücke.
023 Wir sprechen vom Stil Voltaires, vom Stil der Renaissance und
024 - neuerdings freilich erst - vom Stil des " Werther " und des
025 " Götz von Berlichingen ". Wir kennen Meister des Stils.
026 Wir hören, daß eine Tagung großen Stils stattgefunden hat,
027 daß alle Fragen im großen Stile gelöst wurden, daß aber das
028 Auftreten mancher Teilnehmer keinen Stil hatte. Die
029 Verwendungsweisen des französischen Wortes " style " sind die
030 gleichen; wir lesen und hören von einem: style ‚l‚
031 gant, vigoureux, ferme naturel oder von einem style mauvais,
032 trivial, recherch‚,affect‚. Wendungen wie: le style
033 gothique, le style de Jules Renard, le style de la Renaissance,
034 le style Louis 14, le style Empire entsprechen den
035 Gepflogenheiten der deutschen Sprache, und man kennt etwa die
036 Wendung " avoir du style " und will damit sagen, die betreffene
037 Person verfüge über " une certaine noblesse ". Man verbindet
038 aber das Wort " style " - soweit ich sehe - nicht mit
039 dem bloßen Titel eines Werkes, man hat also kein französisches
040 Gegenstück zu der Ausdrucksweise " der Stil des
041 Werther ", sondern das Französische sagt in einem solchen
042 Falle " la langue de PhŠdre " - und meint damit
043 gleichzeitig etwas anderes, eine aufschlußreiche Tatsache, auf
044 die ich später noch einmal in anderem Zusammenhang zurückkommen
045 werde. Betrachten wir die angeführten Verwendungen in aller
046 Kürze etwas näher. Es fällt auf, daß das Wort " Stil " in
047 beiden Sprachen nicht ohne einen erklärenden Zusatz gebraucht
048 werden kann, sei es, daß ein Eigenschaftswort den Inhalt des
049 Begriffes näher bestimmt, sei es, daß ein Wort im Genetiv den
050 Bereich absteckt, für den das Wort " Stil " gelten soll. Nur
051 in dem Beispiel " avoir du style " bzw. " Manche Teilnehmer
052 hatten keinen Stil " fehlt ein Zusatz. Es handelt sich hier um
053 eine übertragene Bedeutung des Wortes, die etwa zu umschreiben
054 wäre mit: " die Art und Weise, sich zu geben ", die dann
055 häufig Rückschlüsse auf die innere Haltung und Verfassung
056 erlaubt, d. h. aber mit anderen Worten, daß der Ausdruck
057 von etwas Innerem, etwas Psychischem im Spiele ist, über dessen
058 Art und Weise wir ein Urteil fällen. " Ausdruck ", " Art
059 und Weise " - mit diesen beiden Merkmalen besitzen wir das
060 Rüstzeug, nun auch an die anderen Verwendungen des Wortes
061 " Stil " heranzutreten. Gotischer Stil, Stil Voltaires,
062 schwerfälliger Stil - wir sehen sofort, es handelt sich
063 tatsächlich in allen drei Fällen um Ausdruck, nur sind
064 die Materialien, in denen der Ausdruck sich manifestiert,
065 verschieden. Es ist das Material der bildenden Künste, wenn wir
066 vom gotischen Stile sprechen, es ist das Material der Sprache,
067 wenn wir vom Stil Voltaires sprechen oder von einem schwerfälligen
068 Stil. Und es handelt sich gleichzeitig auch stets um Art und
069 Weise - Art und Weise zu bauen und in Stein oder Holz zu
070 formen, die auf eine Einheit von Stilzügen hinweist, in dem
071 ersten, Art und Weise zu schreiben in dem anderen Falle. Nun
072 bleibt uns noch die Zergliederung der beiden Beispiele aus dem
073 sprachlichen Bereich. " Stil Voltaires " bedeutet: Art und
074 Weise sich auszudrücken (und einheitliches Gepräge dieser
075 Ausdrucksweise) der einen Persönlichkeit Voltaire in ihren
076 Schriften; " schwerfälliger Stil " will eine irgendwie
077 gefaßte sprachliche Äußerung auf ihre Angemessenheit hin
078 beurteilen und bewerten. Die rasche Prüfung des
079 vorwissenschaftlichen Sprachgebrauchs hat uns wichtige Hinweise
080 gegeben für die Bedeutung des Wortes Stil. Es bedeutet
081 zunächst Art und Weise, wie ein Individuum etwas sprachlich
082 faßt, wobei entweder beurteilt wird (" angemessener Stil ")
083 oder Stilzüge eines Individuums ohne Bewertung zusammengefaßt
084 werden (" der Stil Voltaires "). Es bedeutet in der bildenden
085 Kunst gleichfalls Art und Weise des Ausdrucks, aber in anderem
086 Material und in dem einheitlichen Gepräge und dem aufeinander
087 abgestimmten Zusammenspiel der bestimmenden Stilzüge. Der
088 Stilbegriff der bildenden Kunst ist somit umfassender: er weist
089 hin auf den inneren Einklang der Stilmerkmale, auf deren
090 gegenseitige Bedingtheit und hat damit mehr den Charakter des
091 Systematischen. Zur Geschichte des Wortes (dt. Stil, frz.
092 style) in knappen Strichen dies: In beiden Sprachen ist das
093 Wort Lehnwort und zwar aus dem Lateinischen. Lat. " stylus ",
094 das nichts mit dem griech. *sw zu tun hat, bedeutet:
095 " spitzer Pfahl, Stiel, Stengel, Griffel zum Schreiben ". Es
096 wird von der letzteren Bedeutung aus auch zur Bezeichnung des
097 Begriffes " Schreibart " verwendet (Walde-Hofmann, s.v.
098 STILUS). In dieser übertagenen Bedeutung wird es als
099 " style " im 16.Jahrhundert ins Französische aufgenommen.
100 AMYOT verwendet es zuerst und meint damit " maniŠre
101 d'exprimer sa pens‚e " (Bloch-Wartburg). Im 17.
102 Jahrhundert wird es auch auf die bildenden Künste angewandt.
103 Etwa 150 Jahre später vollzieht sich der gleiche
104 Entlehnungsvorgang im Deutschen: Stil als " Schreibweise "
105 wird um 1700 aufgenommen und bald danach auf die
106 " Kompositionsweise der bildenden Künste und der Musik übertragen "
107 (Paul-Euling). Die Verwendung des Wortes " Stil "
108 ist also zunächst auf das Gebiet der Sprache eingeschränkt. Das
109 lehrt die Untersuchung des Wortgebrauchs, das lehrt die Befragung
110 der historischen Zusammenhänge. Die Ergebnisse, die die
111 Betrachtung des vorwissenschaftlichen, auf der
112 allgemeinsprachlichen Verwendung des Wortes " Stil " beruhenden
113 Stilbegriffs erbracht haben, sind folgende. Stil hat es zu tun:
114 mit dem sprachlichen Ausdruck von etwas durch ein Individuum,
115 mit der Art und Weise dieses Ausdrucks und mit der
116 Beurteilung dieses Ausdrucks (meist durch andere). Dieser
117 Sachverhalt legt zwei Überlegungen nahe: Wenn die Art und
118 Weise sprachlichen Ausdrucks festgestellt werden soll, so setzt
119 das ganz offenbar voraus, daß es mehrere Möglichkeiten gibt, den
120 gleichen Sachverhalt sprachlich auszudrücken. Und wenn Stil
121 etwas mit Beurteilung zu tun hat, nach welchen Kriterien wird dann
122 diese Beurteilung vorgenommen? Wir verlassen damit die
123 Betrachtung des vorwissenschaftlichen, allgemeinsprachlichen
124 Stilbegriffs und gehen jetzt dazu über, im Lichte der bei diesen
125 Erörterungen gewonnenen Einsichten, den Stilbegriff zu
126 untersuchen, von dem die Wissenschaft geleitet wird, und zwar die
127 Sprachwissenschaft. Wir finden den Zugang zu dem
128 sprachwissenschaftlichen Stilbegriff am besten, wenn wir uns die
129 Frage vorlegen, ob wir vom " Stil einer Sprache " reden können,
130 wie es im Titel eines uns allen bekannten Buches geschieht. Die
131 Antwort auf diese Frage kann nur gegeben werden auf dem
132 Hintergrund des modernen Sprachbegriffs, wie er von W. v.
133 HUMBOLDT gesehen und durch die Humboldt-Renaissance in
134 der Sprachwissenschaft der Gegenwart uns Heutigen wieder vor
135 Augen gestellt worden ist, und zwar - um nur zwei Forscher zu
136 nennen - durch den Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de
137 Saussure (der zwar bereits 1913 verstorben ist, dessen
138 Gedanken sich jedoch erst seit etwa 20 Jahren durchsetzten) und
139 durch Leo Weisgerber, den Bonner Indogermanisten. Was
140 meinen wir also, wenn wir das Wort " Sprache " verwenden? Ich
141 gebe vier Redeweisen: Der Mensch unterscheidet sich vom
142 Tier durch die Sprache. Die französische Sprache nimmt in
143 der höheren Schule die zweite Stelle hinter der englischen ein.
144 Die Sprache von Georges Bernanos müßte einmal untersucht
145 werden. Was hast du angestellt? Heraus mit der Sprache!
146 An diesen vier Verwendungsarten des Wortes können wir die " vier
147 Tatbestände ablesen, die im Bereich des Sprachlichen notwendig
148 geschieden werden müssen " (Weisgerber 1, 8), denn wir meinen
149 immer Verschiedenes, wenn wir auch stets das gleiche Wort
150 " Sprache " verwenden. Im ersten Satze zielen wir auf das hin,
151 womit der Schöpfer den Menschen begabt hat und über dessen
152 Ursprung mit den Mitteln der " ratio " ganz offenbar nichts
153 ausgemacht werden kann: das menschliche Sprachvermögen.
154 Im zweiten Satz ist von den konkreten Verwirklichungen dieses
155 Sprachvermögens die Rede, wie die einzelnen Völker sie gefunden
156 haben; Verwirklichungen - die nach Lautung, Wortschatz,
157 Grammatik, Syntax genau beschrieben und in ihrem Werden verfolgt
158 werden können -, in die der einzelne Mensch als Glied eines
159 bestimmten Volkes hineinwächst und die ihn als seine Muttersprache
160 - der stärksten und in ihrer Unauflöslichkeit
161 schicksalsträchtigsten Bindung, die im menschlichen Bereich
162 überhaupt existiert - sein ganzes Leben hindurch, von der
163 Geburt bis zum letzten Atemzuge, begleiten: Die deutsche, die
164 englische, die französische Sprache also, die, jede für sich,
165 ihrem Wesen nach ein System von Zeichen bilden, in dem jedes
166 Glied das andere bedingt; ein Gefüge, das jeden Angehörigen
167 der Sprachgemeinschaft befähigt, sich mit Welt, Mensch und
168 Leben denkend auseinanderzusetzen, seine Gedanken darzustellen,
169 seine Eindrücke kundzutun, seine Gefühle zu äußern und
170 mitzuteilen und auf seinesgleichen in irgendeiner Weise einzuwirken.
171 Es handelt sich um die Sprache einer Gemeinschaft, eines
172 Volkes, einer Nation als objektiver Geist. Oder, um eine kurze
173 Formel zu gebrauchen: Sprache als Ausdruckssystem einer
174 Sprachgemeinschaft, die Einzelsprache als Muttersprache.
175 Auch im dritten Satz ist zwar von der Sprache als Muttersprache
176 die Rede, aber nicht mehr im Sinne von " Sprache als objektiver
177 Geist ", nicht mehr im Sinne des Ausdruckssystems als solchem,
178 sondern des Anteils, den das einzelne Glied der jeweiligen
179 Sprachgemeinschaft an dem System hat - eines Anteils, der von
180 Individuum zu Individuum nach Umfang, Tiefe, Bewußtheit
181 verschieden ist, der sich aber stets als dessen persönlicher
182 Besitz ausweist; es ist also gemeint der Sprachbesitz des
183 Einzelnen. Wiederum auf ein Individuum bezieht sich der
184 vierte psatz. Diemal ist aber nicht von dessen Sprachbesitz in
185 seiner Gesamtheit die Rede, sondern von der Nutzbarmachung, der
186 Aktualisierung dieses Sprachbesitzes im Sprechakt, sei es als
187 Darstellung, als Äußerung, als Mitteilung, sei es schriftlich
188 oder mündlich - einer Aktualisierung, die aber natürlich immer
189 nur einen Teil des individuellen Sprachbesitzes betreffen kann.
190 Es handelt sich um die zweckbedingte und zeitlich begenzte
191 Sprachverwendung. Es gilt also, im Bereich des Sprachlichen
192 folgende vier Tatbestände voneinander zu unterscheiden:
193 Sprachvermögen, Sprache als einzelsprachliches Zeichensystem,
194 induvidueller Sprachbesitz und aktualisierende
195 Sprachverwendung. Ich darf hier einflechten, daß das
196 Französische für diese vier Tatbestände drei Bezeichnungen zur
197 Verfügung hat, nämlich " langage " für das Sprachvermögen,
198 " langue " für die Einzelsprache und den induviduellen
199 Sprachbesitz, " parole " für die Sprachverwendung. Diese vier
200 Tatbestände unterscheiden sich nicht nur inhaltlich voneinander,
201 sondern auch in mancher anderen Hinsicht; einmal nach dem Träger:
202 Als solchen finden wir der Reihe nach die Menschheit, die
203 Sprachgemeinschaft, das Individuum; dann nach dem Umfang.
204 Diese Beziehung ist beim Sprachvermögen nicht aufzuweisen, bei
205 der Einzelsprache ist der volle Umfang erfaßt, beim Sprachbesitz
206 ein Teilgebiet, und bei der Sprachverwendung nur ein Ausschnitt
207 aus diesem Teilgebiet. Auch die Frage nach der Dauer ist beim
208 Sprachvermögen irrelevant, bei der Einzelsprache haben wir mit
209 vielen Jahrhunderten zu rechnen, beim Sprachbesitz mit der
210 Lebensdauer des Trägers, bei der Sprachverwendung mit ganz
211 kurzen Zeiträumen, die im Sprechakte Momentancharakter annehmen.
212 Diese Charakteristika erlauben uns jetzt, Gruppierungen
213 innerhalb der vier sprachlichen Tatbestände vorzunehmen und sich
214 nach ihrer Bedeutung für unser Vorhaben abzuwägen. Wir sehen
215 sofort, daß Sprache als Sprachvermögen aus unserer Betrachtung
216 ausscheidet. Von den verbleibenden drei Tatbeständen stellt sich
217 die Sprache als System gegen Sprachbesitz und Sprachverwendung.
218 Sprache als System ist allgemeinverbindlich und ist ein objektives
219 Gebilde, Sprachbesitz und Sprachverwendung sind dagegen
220 personengebunden und subjektiv. Nach diesen Erörterungen sind wir
221 in der Lage, die Frage, ob man vom Stil einer Sprache, etwa
222 der französischen, sprechen könne, zu beantworten. Da Stil,
223 wie uns der vorwissenschaftliche Stilbegriff gelehrt hat,
224 beinhaltet Ausdruck von etwas durch jemand, Art und Weise dieses
225 Ausdrucks und Beurteilung dieser Art und Weise, so leuchtet ohne
226 weiteres ein, daß der Stilbegriff auf die Sprache im Sinne eines
227 einzelsprachlichen Zeichensystems nicht angewandt werden kann.
228 Denn ein System hat keinen Stil; ein System hat einen Aufbau,
229 eine Struktur, die man erforschen, festlegen oder charakterisieren
230 kann. Und wenn man das Ergebnis " Stil " nennen will, so mag
231 man es tun; man muß sich aber darüber klar sein, daß man dann
232 die Übertragung des Begriffes auf einen anderen Tatbestand
233 vornimmt, ein Verfahren, in dem ein gut Teil der Unsicherheit
234 auf dem Gebiete alles dessen, was mit Stil zusammenhängt,
235 begründet ist. Von Stil, das sehen wir jetzt deutlich, kann
236 also nur gesprochen werden im Bereich des Induviduellen, und wir
237 dürfen sagen: Stil ist eine Erscheinungsform der
238 Sprachverwendung, durch die der einzelne seinen Sprachbesitz
239 aktualisiert.
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