Quelle Nummer 402

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.07 : HUMOR

OTTO GRUENMANDL
DAS MINISTERIUM FUER SPRICHWOERTER
S. FISCHER VERLAG, FRANKFURT 1970, S.113-


001  Dem Doktor rann das Wasser über das Gesicht. Er sagte
002  nichts und blieb unbeweglich stehen. Jahn saß hinter seinem Tisch,
003  beobachtete mich schweigend und verzog keine Miene. Meine
004  Lippen schwollen an, wurden prall und hart und wölbten sich spitz
005  nach vorne auf einen blaurot umrandeten, abgründig schwarzen Punkt
006  zu, aus dem sich die zusammengepreßte Atemluft meiner Lungen
007  gellend und fauchend entlud. Ich pfiff. Eine Kunstfertigkeit,
008  die mir bisher nicht geläufig war. Ich hatte immer darunter
009  gelitten, nicht pfeiffen zu können. Nun empfand ich es zum
010  erstenmal, wie das ist, wenn man die Lippen nicht zum Reden,
011  sondern zum Pfeifen benützt. Die Bilder verblassen, verlieren
012  die Konturen, lösen sich auf; verschwommene, wolkenartige
013  Gebilde, die sich langsam auf und ab, hin und her bewegen, und in
014  der müden, wie von gewalttätigen Händen ausgenommenen Brust
015  nichts als das dumpfe Gewissen, gefallen zu sein, unaufhaltsam
016  weiter zu fallen, und im Ohr den Widerhall dieses stupiden
017  Pfeifens, das nichts anzuzeigen vermag als eine gewisse Dauer.
018  Nichts sonst, nicht Angst, nicht Furcht, nicht Trauer. Nur
019  Gleichgültigkeit, Erstarrung und Kälte. Ich pfiff. So
020  gewaltig war der sich aus meinen Lippen lösende Luftstoß, daß
021  sich das vom Gesicht des Doktors noch immer abrinnende Wasser
022  davon kräuselte und zu kleinen Wellen aufwarf. Diese Beobachtung
023  erfüllte mich mit Stolz und verschaffte mir eine gewisse
024  Erleichterung, denn die Übelkeit, die mir der Anblick seiner
025  schwarzbleichen, verschrumpften Hand verursacht hatte, war immer
026  noch nicht von mir gewichen. Allmählich spürte ich, wie der
027  Luftdruck in meinem Inneren nachließ, meine Lippen wieder breit
028  wurden. Ich verstummte. Mit einer müden, fernen Stimme, mehr
029  zu sich selbst als zu Jahn oder mir sprechend, hörte ich den
030  Begossenen vor sich hinreden. Er sprach so leise, daß ich nicht
031  alles, was er sagte, wörtlich verstand. Immerhin war es genug,
032  um den Sinn seiner Worte zu erfassen: Wasser sei wohl nicht das
033  Richtige, um Schminke abzuwaschen. Und warum sollte er sich auch
034  abschminken? Sein Anblick würde dadurch bestimmt nicht
035  erträglicher. Da sei eben nichts mehr zu machen. Außerdem habe
036  er Angst, an der abgehenden Schminke können Teile seiner Haut
037  haftenbleiben. Farblos schimmernde Lappen von erschreckender
038  Größe. Vornehmlich seine Gesichtshaut sei schon seit seiner
039  Kindheit leicht vom Fleisch zu lösen. Er müsse, so unangenehm
040  ihm dies wäre, auch bekennen, daß sie sich sehr dehnen lasse.
041  Er habe eben immer auf Form gehalten, sein Vater wäre Diplomat
042  gewesen, seine Mutter Mathematikprofessorin, und so sei er
043  erzogen worden und verspüre nicht die geringste Lust, sich da lang
044  auf Experimente mit Abschminken, Stunde der Wahrheit et cetera
045  et cetera einzulassen. Wenn ich aber schon unbedingt wissen wolle,
046  wie er unter der Schminke aussehe, so möge ich doch konsequent
047  sein und gleich um einen Schritt weitergehen und mich dafür
048  interessieren, wie er unter der Haut aussehe. Er hielt mir die
049  Innenfläche seiner Rechten hin und forderte mich auf, die
050  aufgebrochenen Schrunden an den fetzigen Rändern der eingerissenen
051  Haut auseinanderzuziehen, bis ich auf den Grund der Knochen sehen
052  könne. Aber wahrscheinlich, er blickte mich an und machte eine
053  wegwerfende Handbewegung, als ich von dem grausigen Anblick,
054  unwillkürlich zurückschreckte, wahrscheinlich: sei ich, wie ihm
055  mein Zurückweichen zu beweisen scheine, einer von den ganz
056  Übereifrigen, einer von denen, die überall Schminke vermuten,
057  sogar noch an den Knochen, die da unten verrotten. Im übrigen
058  sei dieser Verdacht gar nicht so ohne weiteres von der Hand oder,
059  im konkreten Fall richtiger, aus der Hand zu weisen. Er selbst,
060  im Vertrauen gesagt, habe, da er sich ja schon von Kindheit an
061  schminke, längst jede Übersicht darüber verloren, was an ihm
062  echt sei und was nicht. Er könne sich aber ohne weiteres
063  vorstellen, daß er zu mehr als fünfzig Prozent aus Creme,
064  Puder und Prothesen bestehe, und insofern hätte ich gar nicht so
065  unrecht, ihn als Gespenst zu bezeichnen. Allerdings möchte er es
066  sich verbeten haben, ein blödes Gespenst genannt zu werden.
067  Außerdem möge ich mir ja nicht einbilden, daß mir der Zustand,
068  in dem er sich jetzt befinde, erspart bleiben würde. Genau das
069  sei es übrigens, was er mir vormachen wolle, wobei er mir
070  zu bedenken gebe, daß vormachen eine doppelte Bedeutung
071  habe. Einmal bedeute es, daß man jemandem etwa einen Handgriff
072  vormache, der nachzumachen sei, zum anderen gebrauche man
073  das Wort auch in dem Sinn, sich kein X für ein U vormachen
074  lassen zu wollen. Welche Art von vormachen er meine,
075  darauf werde ich früher oder später von selbst kommen. Jahn zum
076  Beispiel könne er weder die eine noch die andere Art von
077  Vormachen vormachen -, aber bei mir sei das völlig anders.
078  Mir werde das Pfeifen schon noch vergehen. Seine Augen glänzten
079  tückisch. Seine Stimme wurde etwas lauter und bekam einen
080  drohenden Ton: Ob ich mir denn nicht bewußt sei, was für
081  verderbliche Folgen es für mich haben könne, daß ich ihm, einem
082  höheren Beamten des GM, einen Krug Wasser über den Kopf
083  schütte. Ich möge mich auf allerlei gefaßt machen. Jetzt erst
084  begann sich auch Jahn wieder zu rühren. Auf eine widerlich
085  servile Art entschuldigte er sich bei dem Doktor für mein
086  Verhalten und gab ihm in allem, was dieser nun gegen mich
087  vorbrachte, seine uneingeschränkte Beistimmung. Sie redeten und
088  redeten. Ihre einander sich bestätigenden und sich gegenseitig
089  aufplusternden Drohungen gegen mich, ihre dreckig verschlagene Art,
090  die schwersten Beschuldigungen, die gemeinsten Angriffe wider
091  meine Ehre auf eine derart meuchelmörderische, hinterhältig
092  indirekte Weise zu formulieren, daß ich, ob ich dazu schwieg oder
093  redete, allein schon damit in jedem Fall eine Handhabe zur
094  Konstruktion meines Eingeständnisses bot -, ihre perfide Art,
095  mich während dieser schier endlosen Tiraden ununterbrochen mit
096  einem Gemisch aus plumper Vertraulichkeit und kalter
097  Feindseligkeit zu mustern und anzuschauen: dies alles bewirkte in
098  mir eine Steigerung meines Übelseins. Obwohl meine Oberlippe,
099  damals so wenig wie heute einer jener langhaarigen Schnurrbärte
100  zierte, wie sie lange Zeiträume zur Bartmode meiner Väter
101  gehörten, begann ich auf meinem glattrasierten Gesicht ein
102  prächtiges, tiefschwarzes Stück eines imaginären Schnauzers
103  aufzuzwirbeln und am Ende der auslaufenden Haare beginnend mit
104  jener virtuosen Fingerfertigkeit einzudrehen, die ich als Kind bei
105  meinem Vater so sehr bewundert hatte. Eine Tätigkeit, die
106  meinen Zustand rasch wieder besserte und mich nach und nach in eine
107  höchst vergnügliche Laune versetzte, was sowohl bei dem Doktor
108  als auch bei Jahn Hilflosigkeit und Verwirrung erzeugte und beide
109  zum Schweigen brachte. Wie auf ein Kommando hörten sie mitten im
110  Satz zu reden auf und starrten mich an. Jahn, das teigige
111  Melonengesicht mit den Nickelbrillen, das Möglichkeiten ohne
112  woher und wozu, Möglichkeiten an und für sich zu erörtern liebte,
113  und der aufgeschminkte Herr Doktor, der Angehörige der
114  höheren Bürokratie, der immer schon auf Form gehalten hatte.
115  " Na, endlich ", sagte ich und blickte sie gelangweilt an. " Was
116  endlich?! " erwiderte Jahn gereizt. " Endlich sind Sie
117  beide still. " " Mein lieber Herr ", der Doktor hatte
118  sichtlich Mühe, ruhig zu bleiben, " wenn es Sie stört, daß
119  ich mich mit dem Herrn Hauptreferenten über ein ernstes Thema
120  unterhalte, sind Sie hier wohl fehl am Platz. " " Kann schon
121  sein ", ich verlegte meine Tätigkeit von der rechten Bartspitze
122  auf die linke, " kann schon sein. Ich bin nur ein kleiner 44.
123  Hilfsarchivar und interessiere mich mehr für Sprichwörter als
124  für ernste Themen. " " Die formalistische Kanzlei, deren
125  Hauptreferent zu sein ich die Ehre habe, befaßt sich nicht mit
126  Sprichwörtern. Wir üben hier eine beratende Tätigkeit für
127  Beamte des GM aus, deren psychische Stabilität ein Opfer ihres
128  Berufes zu werden droht. Hat Sie Frau Qualendorf nicht
129  informiert? " " Doch, doch ", ich wechselte wieder zur
130  rechten Bartspitze, " ich habe es nur nicht ernst nehmen können,
131  daß Sie wirklich ganz ohne Sprichwörter arbeiten. Schließlich
132  gehört die formalistische Kanzlei doch auch zum GM. "
133  " Lieber, junger Freund ", der Doktor lächelte mitleidig,
134  " dieser Ihnen so unglaublich erscheinende Umstand beweist nur, daß
135  man selbst im Ministerium für Sprichwörter nicht ohne eine
136  Dienststelle ohne Sprichwörter auskommt. Aber das werden Sie
137  wohl nie begreifen. Subaltern, mein Lieber, subaltern, darum
138  handelt es sich in ihrem Fall. " Das hätte er besser nicht sagen
139  sollen. Denn nun begann ich meinen Bart mit beiden Händen
140  gleichzeitig von links und rechts her einzudrehen und aufzuzwirbeln
141  und wurde, was meine Laune nur noch steigerte, ziemlich grob.
142  " Sagen Sie statt Dienststelle lieber Pferdestall, das trifft das
143  Stroh besser, das hier gedroschen wird. " " Unerhört ",
144  zischte Jahn. " Subaltern ", hieb der Doktor noch einmal in
145  dieselbe Kerbe. " Meinethalben ", erwiderte ich ungerührt und
146  verließ die beiden. Ohne daß ich es wollte, glitt mir beim
147  Verlassen des Pferdestalls das schwere Tor aus der Hand und
148  schlug mit lautem Krach zu. Gleich darauf ertönte von innen ein
149  polterndes Getöse wie vom Umfallen schwerer Gegenstände.
150  Neugierig blickte ich durch das zunächstliegende Fenster in den
151  Stall hinein. Die durch das Zufallen des schweren Haupttores
152  ausgelöste Erschütterung hatte den ganzen Bretterverschlag der
153  formalistischen Kanzlei zum Einsturz gebracht. Der Platz, an
154  dem er gestanden hatte, glich einem leeren, verlassenen
155  Trümmerhaufen. Aber ich wußte es besser. Unter den
156  eingestürzten Bretterwänden, aus deren Ritzen kleine Wölkchen
157  feinen, grauweißen Staubes stiegen, arbeiteten sich jetzt Jahn
158  und der Doktor wieder aus dem alten Gerümpel hervor. Ich wollte
159  mich nicht leichtfertig ihren Rachegelüsten aussetzen und zog es
160  vor, zu verschwinden, ehe ihre Köpfe von unten herauf wieder zum
161  Vorschein kamen. Wer den wohlproportionierten, von einer Kuppel
162  überdachten Rundsaal betritt, bleibt, verwirrt von der Fülle
163  verschiedenster Eindrücke, entweder fassungslos stehen oder wendet
164  sich circulante pede wieder dem Ausgang zu. Diese zwei
165  Möglichkeiten, bleiben oder fliehen, beide in der gleichen
166  Verwirrung wurzelnd, bilden die Regel. Wie mir der Chef der
167  Alt-Neu-Abteilung (im hausinternen Schriftverkehr des
168  GM kurz ANA genannt) versicherte, konnte er sich nicht
169  erinnern, daß sich während seiner Amtszeit jemals ein
170  Neueintretender der Lage so gewachsen gezeigt hatte, wie das bei
171  mir der Fall gewesen ist. Auf den ersten Blick erkannte ich,
172  daß die mächtige in der Mitte des Raumes stehende Säule diesen
173  Platz nicht nur räumlich einnimmt, sondern auch im Mittelpunkt
174  all der Vorgänge steht, die hier stattfinden. Im Grunde
175  genommen: eine Selbstverständlichkeit, daß das, was in der
176  Mitte steht, eine zentrale Funktion hat. Eine im nachhinein
177  angestellte Überlegung, die mir nur bestätigte, was ich sofort
178  wahrgenommen hatte, als ich mich in dem von hektischem Betrieb
179  erfüllten Raum ein wenig umsah. Knapp über dem Boden laufen von
180  allen Seiten her etwas mehr als handbreite Papierstreifen auf
181  besagte Säule zu (im Betriebsjargon auch ANA-Säule oder
182  scherzhaft dicke Anna genannt), winden sich, von einem
183  unsichtbaren Mechanismus bewegt, um sie herum und spulen sich an
184  den in großer Anzahl von der Kuppel an durchscheinenden Fäden
185  tief herabhängenden Rollen auf. Die glasige Substanz dieser
186  Fäden bewirkt, daß sie kaum zu sehen sind und so der Eindruck
187  entsteht, als ob die gewichtigen, an mächtige Schwungräder
188  erinnernden Papierrollen frei in der Luft schwebten. Die in der
189  ANA beschäftigten Beamten sind alle behördlich konzessionierte
190  Leichtathleten, was sofort verständlich wird, wenn man bedenkt,
191  daß sie sich nur hüpfend fortbewegen können, da ja andernfalls
192  die über den Boden auf die Säule zulaufenden Papierstreifen
193  zerrissen werden würden. Bietet der Anblick der in einem wüsten
194  Durcheinander dahin und dorthin hüpfenden Beamten an sich schon
195  ein verwirrendes Bild, so wird dieser Eindruck noch dadurch
196  gesteigert, daß die Papierstreifen nicht nur verschiedene Farben
197  und Inschriften aufweisen, sondern sich darüber hinaus auch noch
198  mit verschiedenen Geschwindigkeiten fortbewegen. Die einheitlich
199  graue und äußerst korrekte Kleidung der hier tätigen Beamten
200  vermag dagegen keine Milderung zu schaffen. Im Gegenteil, sie
201  erschwert die Orientierung. Man weiß plötzlich nicht mehr, ist
202  der wie ein hürdenspringender Kellner auf der emporgehaltenen
203  Rechten ein Bündel Akten balancierende Amtsrat noch derselbe
204  oder ist er bereits jener Amtssekretär, der in mächtigen, drei,
205  vier Papierstreifen auf einmal nehmenden Sätzen zum Ausgang eilt.
206  Dazu kommt die aus gleichmäßig über das ganze Rund verteilten
207  Lautsprechern tönende, nur für das ungeübte Ohr sich wie Lärm
208  anhörende Musik aus verschiedenen Jahrhunderten und Kulturkreisen,
209  die sich als eine effektvolle Hilfe erwiesen hat, wenn es darum
210  geht, das Verständnis der Beamten auf ein altes Sprichwort
211  einzustimmen, dem eine moderne, zeitgemäße Fassung gegeben
212  werden soll. So kann ohne Übertreibung gesagt werden, daß das
213  alte römische Sprichwort " gutta cavat lapidem non vi sed saepe
214  cadendo " ohne die Wassermusik von Georg Friedrich Händel nie
215  die moderne Fassung von " Stete Werbung erhöht den Umsatz "
216  gefunden hätte. Die Projizierung historisch getreuer Sitten
217  bilder und Genrebilder auf die zu diesem Zweck in Sektoren
218  unterteilte Innenfläche der Kuppel erfüllt dieselbe Aufgabe wie
219  die Musik. Daraus erklärt sich übrigens auch, warum die Fäden,
220  an denen die zur Aufnahme der Papierstreifen bestimmten Rollen
221  hängen, von glasiger Substanz sind; würden sie doch anders
222  störende Schattenstriche auf diese Bilder werfen.

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