Quelle Nummer 401
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.02 : HEIMAT
HANS BREINLINGER
SPIELZEIT
STAACKMANN VERLAG MUENCHEN 1971, S.146-
001 Im Tal lag die Sonne eifrig auf den flimmernden Dächern von
002 Rothenfels. Kein Hauch trieb die Schwüle aus den Gassen.
003 Hell und heiß standen die Hauswände wie in einer Stadt am
004 Mittelmeer. Der Bankier suchte für seinen Mittagsweg die
005 schmalen Schatten und riskierte zwei Minuten Zeitverlust. Nur
006 der Bürgermeister ging unverdrossen durch die Straße der Hitze
007 zwischen Schloß und Dreikönig, um sich dann über die letzten
008 Bäume der Hofgartenallee zu freuen, die der städtische
009 Bebauungsplan übrig gelassen hatte. Das Verkehrsbüro brauchte
010 eine dritte Arbeitskraft, und die Gasthäuser suchten
011 Bedienungspersonal. Vor den Fenstern tauchten Geranien auf.
012 Das Parkcafe möblierte seinen Bürgersteig. Die
013 Kaisersbrauerei fuhr doppelte Touren. Colawagen schepperten über
014 das Marktplatzpflaster. Privatvermieter kauften Zahnputzgläser
015 und Kleiderbügel. Die Volksschüler bekamen Sonderunterricht in
016 Heimatkunde, damit sie den Fremden sagen konnten, warum die
017 Kirche einen Zwiebelturm hat und wer vor zweihundert Jahren im
018 alten Schloß residierte. Stadtgärtner mühten sich in den
019 Anlagen, und fast alle aufgeschnittenen Straßendecken wurden
020 zugenäht. Die Saison brach über Rothenfels herein. Damit die
021 ankommenden Fremden das Städtchen nicht für überbevölkert
022 hielten, fuhren die Einheimischen in jeder freien Stunde zu den
023 Alpseen hinaus. Die Fremden folgten. Ferienpaarung bahnte sich
024 an und wurde rasch gefestigt. Der Sommer ist kurz. In zwei
025 Monaten werden die ersten Blätter fallen. Dieser Breitengrad
026 erfordert schnelles Handeln. In seiner zum Glück kühlen
027 Turmstube verbrachte Herr Monn die heißen Tage. Ein
028 Gefangener seines Telefons. Es schien außer Betrieb. Immer
029 wieder hob er ab, um sich des Freizeichens zu vergewissern, des
030 Angeschlossenseins an alle Telefonzellen der Stadt, die ihn total
031 vergessen hatten. Hastig legte er sofort wieder auf, um nicht
032 selber daran schuld zu sein, daß Filippine ihn für belegt hielt.
033 Nahm zum zehntenmal die Heimatzeitung in die Hand, las
034 Marktberichte und Stellenangebote, sank zu Bild-Lektüre ab
035 und Kaugummi, weil er alle Zigaretten geraucht hatte und keine
036 neuen holen durfte, denn in diesen sieben Minuten konnte das
037 Schicksal läuten. Eine Woche kein Anruf. Er mußte morgen
038 zwölfuhrfünfzig vor der Post sein und nach den Gründen fragen.
039 Schon vor elf stand er auf, um gefrühstückt zu haben, wenn
040 vielleicht das Unheil über ihn hereinbrach. Wenn Filippine sagte:
041 es geht nicht so weiter, wir müssen uns trennen. Er kleidete
042 sich sorgfältig und zwang sich zu gutem Appetit. Als er den Tee
043 eingoß, ging der Türsummer. Jetzt um halbzwölf? Das fehlte
044 mir noch. Es kann sein, wer will. Ich kann niemanden gebrauchen.
045 Ganz ruhig bleiben. Nur läuten lassen. Das Geräusch wurde
046 ungeduldig. Summte im Takt: Ri-ri-riii-ri! Und
047 wieder dasselbe. Und nochmal. Das war ein Signal! Genau
048 hinhören. Ja. Das kann auch Fi-lip-piii-ne heißen.
049 Er öffnete die Zimmertür. Horchte durch den Flur. Kein
050 Läuten mehr. Aber Schritte, die sich entfernten.
051 Mädchenschritte. Er raste zum Eingang und öffnete. Filippine
052 drehte sich um, kam herbeigestürmt, flog in seine Arme. Die
053 Schulmappe lag am Boden. Er schloß die Tür, ging mit dem
054 Mädchen ins Zimmer, brauchte auf keine Erklärung zu drängen.
055 Es wird einen guten Grund gehabt haben. Ein zweites Gedeck.
056 Filippine ihm gegenüber, am Frühstückstisch in seiner Wohnung.
057 Ein herrlicher Sommertag heute! Sie war noch außer Atem.
058 " Ich bin die Treppen heraufgesaust wie eine Irre. Damit mich
059 niemand sieht. Wir haben hitzefrei. Seit zehnuhr. Ich bin einen
060 Zug früher gefahren. Jetzt haben wir eine Stunde Zeit und ich
061 kann dir alles sagen. Es ist furchtbar. " " Liebes, wenn du
062 hier bist und eine Stunde bleiben kannst, ist nichts mehr furchtbar.
063 Schlimm war nur die lange Woche. Was war los? " " Der
064 Vormund hat alles erfahren. " " Was? " " Alles mit uns. "
065 " Von wem? " " Eigentlich von niemand. Er hat es nach und
066 nach ausgekundschaftet. " " Über das damalige Wochenende? Da
067 wart ihr doch in der Schweiz, dachte ich. " " Waren wir auch.
068 Aber er wußte es schon vorher. " " Von der Tante? Hat die
069 es rausgekriegt? " " Nein. Er selber. Er ist schon am
070 Freitagabend gekommen. An dem Theaterabend. Hat vom Hotel aus
071 die Tante angerufen. Sie hat gesagt, ich sei im Theater. Er
072 hat im Hofgarten gewartet und uns gesehen. " " Dann wäre er
073 doch sicher hergekommen. An unseren Tisch, nach der Aufführung. "
074 " Das wollte er nicht. Warum, erklär ich dir nachher. Er
075 hat draußen gewartet, bis alle weg waren. Dann hat er gesehen,
076 wie ich zu dir in den Wagen gestiegen bin und weggefahren. "
077 " Und? " " Jetzt hat er alle noch offenen Cafes abgesucht. Ob
078 wir irgendwo sind. Hat uns nirgends gefunden. Dann hat er wieder
079 die Tante angerufen. Ob ich heimgekommen sei. Nein. Wo ist sie
080 dann? Die Tante wußte es nicht und war selber beunruhigt. Er
081 hat sie nach deiner Adresse gefragt. Sie wußte sie nicht. Dann
082 muß er sie woanders erfahren haben. Hat sich scheinbar genau deine
083 Wohnung beschreiben lassen. Fuhr hin, sah Licht und dachte sich
084 alles weitere. " " Was hat er gesagt zu dir? " " Kein Wort.
085 Ich wußte selber von allem nichts, bis vorgestern. Wir waren
086 am Wochenende in der Schweiz, und er hat sich nicht das geringste
087 anmerken lassen. " " Er hat nicht darüber gesprochen? Woher
088 weißt du es denn? Und vor allem: warum hast du die ganze Woche
089 nichts hören lassen? " " Die Tante hat mich nicht aus den
090 Augen gelassen. Sie ging mit zum Einkaufen. Sie brauche frische
091 Luft und so. Zweimal hat sie mich sogar mittags am Bahnhof
092 abgeholt. Sie sei gerade in der Nähe gewesen. Das war mir
093 allmählich zu dumm. Ich hab ihr klipp und klar gesagt, daß ich
094 kein Kind mehr bin und daß sie mich nicht ständig zu
095 beaufsichtigen braucht. Sie hat immer noch drumherum geredet. Da
096 hab ich sie gradeheraus gefragt, was sie gegen mich hat und warum
097 sie sich so komisch benimmt. Jetzt war es ihr richtig peinlich.
098 Sie hat gesagt, wenn es auf sie ankäme, sie würde mir jede
099 Freiheit lassen. Sie habe volles Vertrauen zu mir. Also warum
100 dann, hab ich gefragt. Und dann ist sie mit der ganzen Sache
101 herausgerückt. Und hat mir alles das vom Vormund erzählt. Ich
102 hab gesagt, das glaub ich nicht. Denn der Vormund war auf der
103 ganzen Fahrt in die Schweiz richtig nett zu mir. Er kann auf
104 keinen Fall böse gewesen sein, hab ich der Tante gesagt. Sie
105 soll mir keine Märchen erzählen, sie soll mir sagen, was sie
106 gegen mich hat. Dann hat sie mir die Geschichte genauer erzählt.
107 Er sei sogar wütend gewesen am Freitagabend, habe sie beschimpft,
108 sie versäume ihre Aufsichtspflicht, alles am Telefon. Und am
109 Samstagvormittag, als ich in der Schule war, hat er ihr
110 aufgetragen, so etwas auf keinen Fall weiter zu dulden. Es gehe
111 doch nicht an, daß ich mit Männern in deren Wohnung gehe,
112 mitten in der Nacht. Die Tante hat ihm gesagt, das solle er
113 alles mir selber erzählen. Er sagte, das werde er auf keinen
114 Fall tun. Die Verantwortung für mich liege zur Zeit bei ihr.
115 Er wollte nur kontrollieren, aber nicht befehlen oder bestrafen.
116 Und er hat ihr verboten, mir diese ganze Geschichte zu erzählen.
117 Drum hat sie so lange nichts davon gesagt. Erst als ich sie dazu
118 zwang. - Dann war sie am Ende froh, daß sie alles los war und
119 daß ich ihr sonderbares Getue endlich begreifen konnte. Sie habe
120 ihm versprechen müssen, daß sie streng auf mich aufpaßt, solang
121 ich noch hier bin. Wenn ich durch solche Dinge das Klassenziel
122 nochmal nicht erreiche, müsse er sie allein verantwortlich machen.
123 Und schließlich hat die Tante mir gesagt, sie habe natürlich
124 keinen Moment geglaubt, daß ich nachts in deiner Wohnung gewesen
125 sei. Aber sie habe es dem Vormund nicht ausreden können. Darauf
126 sagte ich ihr, ich sei wirklich bei dir gewesen zwischen zwölf und
127 eins. Da hat sie beinahe der Schlag getroffen. Daß ich sofort
128 dazu sagte, wir seien zu viert gewesen, hat sie gar nicht mehr
129 richtig mitgekriegt vor lauter Weinkrampf und Hysterie. Ich habs
130 nochmal gesagt: wir waren zu viert! Da sagt sie: das ist
131 wahrscheinlich noch viel schlimmer. Man hört und liest ja, was
132 die Künstler mit den Mädchen für Parties machen. Und dann
133 wars ganz aus. Jetzt ist die Sache so verfahren, daß ich
134 wirklich keine Sekunde mehr ohne Aufsicht bin. Beinahe hätte sie
135 dich angezeigt, wegen Verführung Minderjähriger. Ich hab sie
136 mit Mühe davon abhalten können. Und ich bin jetzt natürlich
137 auch ein bißchen durcheinander. " Amüsiert hatte Ferdinand dem
138 Anfang der Geschichte zugehört. Später vergaß er sein
139 Lächeln. Hier ging es ja gar nicht um Tante und Vormund, hier
140 ging es um etwas anderes. Wenn es sich nur um Aufsichtspflicht
141 handelte, brauchte der Herr keine Wochenendausflüge mit seinem
142 Mündel zu machen. " Sag mal, bist du während der Schweiztour
143 auf keinen anderen Gedanken gekommen als den, daß der Vormund
144 dich beschützen und sicher zum Klassenziel bringen will? "
145 " Ich versteh nicht. Was meinst du? " " Glaubst du immer noch,
146 es sei nur seine Erziehungsverantwortung, die ihn zu so
147 merkwürdigem Benehmen veranlaßt? " " Was soll es sonst sein?
148 Er hat es der Tante ja deutlich gesagt. Scheinbar mit solchem
149 Nachdruck, daß sie fast zum Gericht gelaufen wäre. Dazu sagst
150 du gar nichts? " " Dazu kann ich nur sagen: laß sie laufen.
151 Du bist doch nicht mehr minderjährig, was diese Dinge betrifft.
152 Über sechzehn bist du immerhin. " " Achso. Natürlich, du
153 hast recht. Ich hab mir einen solchen Schrecken einjagen lassen,
154 daß ich gar nicht mehr zum Denken gekommen bin. " " Die Tante
155 wird sich wieder beruhigen. Interessanter ist mir der Herr
156 Vormund. Sag mir bitte ehrlich: war er auf der Schweizfahrt nur
157 ein Vormund oder hat er sich eher wie ein Liebhaber benommen? "
158 " Jetzt kommst du auch damit. Das hat mich schon Ursula gefragt. "
159 " Deine Schwester? Aus welchem Grund? " " Sie hat
160 die fixe Idee, der Vormund sei in mich verliebt. Ich hab sie
161 gefragt, warum sie sowas vermute. Sie hat gesagt: das merkt man
162 einfach. Er sei zu mir ganz anders, als er zu ihr war. Bei ihr
163 hätte er sich um nichts gekümmert, als Vormund. Es sei ihm egal
164 gewesen, ob sie abends ausging oder bei Freunden war und so.
165 Geburtstag und Weihnachten ein Geschenk, sonst mal nach dem
166 Zeugnis gefragt und nichts weiter. Bei mir sei es genau umgekehrt.
167 Immer wolle er sie ausfragen. Er war es, der ihr geraten hat,
168 den Winterurlaub in Stillach zu nehmen. Er hat auch mitbezahlt.
169 Und ihr gesagt, sie soll sich um mich kümmern. " " Warum ist
170 er im Hofgarten nicht zu uns gekommen und hat sich bekanntgemacht.
171 Wenn ihm unsere Freundschaft nicht paßte, ist es doch das
172 Nächstliegende, daß er mit mir redet, nicht mit deiner Tante. "
173 " Ich weiß nicht. Es hat mich gewundert, daß er auf einmal
174 mit mir einen Ausflug machen wollte." " Hat er das noch nie
175 getan? " " Nein. - Der will mich jetzt nur von dir loseisen.
176 Auf die weiche Tour. " " Hat er in der Schweiz sowas
177 angedeutet? " " Nicht im geringsten. Sonst hätt ich doch
178 sofort was gemerkt. Er hat sich benommen, als ob er von allem
179 nichts wüßte. Nächstes Wochenende könne ich zu ihm nach
180 München kommen. Ins Theater gehen und was einkaufen, wenn ich
181 was bräuchte. " " Fährst du hin? " " Eigentlich wollt ich
182 schon. Aber wenn die Dinge so sind, wie du meinst, dann laß
183 ichs lieber. Am Ende kommt er noch mit einer Liebeserklärung
184 daher. " " Wie ist er mit dir verwandt? " " Er ist ein
185 Vetter meines Vaters. " " Heißt er auch Michaelis? "
186 " Er heißt Weingärtner. " " Wie alt? " " Um die vierzig,
187 denk ich. " Herr Nonn wurde immer unruhiger. Jünger als ich,
188 mußte er feststellen. " Sieht er einigermaßen so aus, daß er
189 sich bei dir Chancen ausrechnen kann? " " Du stellst komische
190 Fragen. Wie sieht er aus! Ich kanns nicht sagen. Er ist halt
191 ein Mann um die Vierzig. Ganz symphatisch. Sowas hängt beim
192 Mann nicht vom Aussehen ab. " " Du hattest den Eindruck, daß
193 er als Mann an dir intressiert sein könnte? " " Nein. Er war
194 immer nett und zuvorkommend. Nie streng. Ein ganz lieber Kerl
195 eigentlich. Aber nicht anderes. " " Wenn du nun nicht nach
196 München kommst, glaubst du, er wird bald wieder hier auftauchen? "
197 " Er kommt auf jeden Fall zu meinem Geburtstag, in zwei
198 Wochen. " " Du hast Geburtstag? Wann? " " Am sechsten
199 Juli, Dein Tee schmeckt prima mit dem vielen Rum. Krieg ich
200 noch einen? " Für plötzlichen Themawechsel gab es bei
201 Filippine manchmal auch Gründe. Wenn sie zu viele Fragen
202 beantworten mußte, zum Beispiel. Vielleicht lenkte sie jetzt
203 aber nur ab, um nicht am Geburtstag hängen zu bleiben. Das
204 könnte nach Geschenkerwartung aussehen. Oder wollte sie vom
205 Thema loskommen, damit er nicht den Wunsch äußerte, den Tag
206 mit ihr zu verbringen. War ihr der Vormund wichtiger.
Zum Anfang dieser Seite