Quelle Nummer 400

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.10 : BRIEFROMAN

CHRISTINE BRUECKNER
DAS GLEUCKLICHE BUCH DER A.P.
VERLAG ULLSTEIN GMBH BERLIN FRANKFURT WIEN 1970, S.
S. 84-


001  Aus welchen Armen (...). Meteore fallen aus der
002  Vergangenheit in die Gegenwart: Träume. In der letzten Nacht
003  träumte ich von dem, den du den Vorgänger nennst, seinen Namen
004  hast du dir nie gemerkt. Ich hatte ihn aus meinen Träumen
005  verbannt. Erst nach sieben Jahren beginnt man von einem Menschen
006  zu träumen, so steht es in den alten Traumbüchern. Es ist
007  sieben Jahre her. Er ist traumfähig geworden. Und unwirksam,
008  auch im Traum. Es ist lange her, daß ich das letzte Mal von ihm
009  träumte. Vor deiner Zeit. Ich erhielt, damals im Traum, von
010  einem Unbekannten in einem Zugabteil eine Zigarettenschachtel
011  gereicht. Ich nahm mir eine Zigarette, es war ein Wort in
012  großen Buchstaben darauf geschrieben. Ich erkannte die
013  Handschrift nicht gleich. Es stand LÄMMCHEN darauf. Als
014  ich es entziffert hatte, erschrak ich und erwachte. Eine heimliche
015  Botschaft, als wäre ich nur noch durch den Traum mit ihm
016  verbunden. " Lämmchen ", nie wieder hat mich jemand so genannt.
017  Nie ist mir ein Traum wie ein Alptraum erschienen, eher denke
018  ich, daß im Traum etwas aus uns hinaus will, dem wir am Tag den
019  Ausgang verwehren, worüber wir nicht reden, worüber wir nicht
020  einmal nachdenken wollen. Der Traum ist eine Möglichkeit der
021  Befreiung und der Erhellung. Meteore. Gestern hast du gefragt:
022  Aus welchen Armen? Weißt du, daß du das schon einmal
023  gefragt hast, aber damals sagtest du: aus welchen Händen. Die
024  Hände waren ähnlich. Die einzige Ähnlichkeit zwischen euch,
025  die Handform eckig, auch jeder einzelne Finger eckig, die Nägel
026  fast quadratisch. Du erwartet damals keine Antwort. Tust du es
027  heute? Ich werde ihn unter das Vergrößerungsglas nehmen, das
028  alles vergrößert und verzerrt. Ein Gedächtnis! Jahrelang war
029  ich eine Besessene, besessen von dieser Liebe, später besessen
030  von meinem Schmerz. Man kann eine Begegnung zum Schicksal
031  erheben. Das habe ich getan. Es war mein Schicksal, diesen
032  Mann zu lieben. Ich erklärte mich für unzurechnungsfähig. Ich
033  beanspruchte mildernde Umstände. Er machte mir später den
034  Vorwurf der Anmaßung. Er hatte recht, ich wollte glücklicher
035  sein und unglücklicher als andere, mehr lieben, mehr geliebt
036  werden, mehr sehen, mehr hören, mehr leben. Wie sollte ich
037  sonst Bücher schreiben. Er nannte mich Lämmchen. Agnus Dei,
038  Lamm Gottes, Agnes, die Keusche, Agnes, das Lämmchen, so
039  leitete er es ab. Er hieß Wolfgang, ließ sich aber Wolf nennen.
040  Der Wolf und das Lamm, die Wortverbindung lag nahe. Manchmal
041  gingen wir zusammen zur Messe. Wir blieben bis zum Agnus Dei.
042  " Lamm Gottes, Du nimmst hinweg die Sünden der Welt:
043  Erbarme dich unser. " Dreimal das Miserere nobis und zum
044  Schluß: Gib uns Frieden! Dona nobis pacem. Wir
045  beanspruchten ganze Teile der Messe für uns. Auch das war
046  anmaßend. Wir haben uns auf einem Turm kennengelernt. Er wollte
047  die Wendeltreppe hinunter, ich wollte sie hinuntersteigen, wir
048  wichen beide nach derselben Seite aus, blieben voreinander stehen.
049  Das wiederholte sich, bis er sagte: An Ihnen kommt man nicht
050  vorbei, kehrt machte, und, mir voraus, wieder nach oben stieg.
051  Er drehte sich um, fragte, wollen wir es auf die Spitze treiben,
052  er lachte; ich lachte. Auf der Plattform wurde mir schwindlig,
053  er faßte mich beim Arm, wir standen neben den großen Glocken auf
054  den äußeren Turmumgang. Es war Mittag, und die Glocken
055  schlugen, viermal die kleine, zwölfmal die große. Die Luft
056  erbebte: er faßte fester zu. Wir waren allein auf dem Turm,
057  unter uns lag die Stadt, die wir beide nicht kannten. Wir gaben
058  den Kanälen Namen, auch den Kirchen und Straßen, wir
059  beschlossen, einer dem anderen eine Straße zu schenken, dazu
060  brauchte er meinen Namen. Er war jung, er hatte die schönsten
061  Zähne. Wenn er lachte, sah man weit in seinen Mund hinein, er
062  hatte blasses Zahnfleisch. Ich nannte meinen Vornamen. Er sagte:
063  Agnus Dei! Lamm Gottes, ab morgen werde ich Sie Lämmchen
064  nennen. Wir fanden einen Agnes-Weg für mich und eine
065  Wolfsschlucht für ihn. Sie lagen nahe beieinander.
066  Anschließend haben wir im Ratskeller die Taufe unserer Straßen
067  gefeiert. So fing es an, so leicht. Wenn ich gewußt hätte,
068  wie es enden würde, wäre ich vom Turm gesprungen, ich habe
069  später gesagt: warum hast du mich nicht gleich vom Turm gestürzt.
070  Auch die Konfession stimmte nicht. Er war katholisch. Nichts
071  paßte, nichts stimmte, wir versicherten uns das immer wieder.
072  Voller Triumph, es machte uns nichts aus, eine Bestätigung
073  unserer Liebe. Der Familienstand paßte nicht. Verheiratet,
074  drei Kinder. Man sollte den Männern den Familienstand
075  einbrennen: verh. 1 Kind, verh. 2 Kinder. Zur Warnung,
076  wie es die Bettler tun, die Zinken an die Gartenzäune und
077  Haustüren machen. Als ich es erfuhr, war es zu spät. Wenn man
078  eine Ehe nach der Anzahl der Kinder beurteilt, war es eine gute
079  Ehe: 3 Kinder. Seine Frau war eine gläubige Katholikin, die
080  Erotik und Fortplanzungswillen gleichsetzte. Unsere Berufe
081  paßten nicht zueinander, unsere Interessen gingen auseinander;
082  die Jahrgänge paßten nicht, ich war die Ältere. Er stammte
083  aus dem Osten, war der Sohn eines Arbeiters, beides leugnete er,
084  seinen Dialekt unterdrückte er. Er wollte nicht unter die
085  Rubrik der Flüchtlinge fallen, verzichtete deshalb sogar auf alle
086  Vorteile, hatte Sprechunterricht bei einem Schauspieler genommen.
087  Was den Familienstand anging, da hatten wir uns arrangiert.
088  Jeder kalkulierte die anderen Beteiligten ein. Die Abwesenden
089  waren auf diese Weise immer anwesend. Das war alles sehr modern,
090  sehr klug, sehr human und ganz unmenschlich. Man kann etwas, das
091  im Grunde schlecht ist, nicht gut machen, indem man es geschickt
092  handhabt. Die Frauen hatten sich ausgesprochen, in aller
093  Offenheit, die Kinder waren unterrichtet, Vati hat eine
094  Freundin. Zu diesem Wochenende ist Vati bei Tante Agnes. Die
095  Sommerferien verbringt Vati bei uns. Das ging so weit, daß die
096  Jüngste auf meinen Schoß kletterte und sagte: Warum bist du
097  nicht unsere Mutter? Die Kinder spielten ihre Rolle als
098  Mitwisser und Komplicen ausgezeichnet. Der Älteste nicht, der
099  bockte, der rief manchmal abends bei mir an: Gehen Sie doch weg!
100  Lassen Sie uns doch in Ruhe! Der Vater sprach ein
101  vernünftiges Wort mit ihm. Er wurde ein besserer Gatte und
102  besserer Vater, aufmerksamer gegenüber der Familie, auch
103  großzügiger, er hatte oft etwas wiedergutzumachen. Er schickte,
104  auch mir, immer im richtigen Augenblick rote Rosen. Ich bin
105  schweigsam, das weißt du. Er war ein Mann des gesprochenen
106  Wortes. Ich hasse Briefe, sagte er, Briefe habe ich im Büro,
107  du kannst mir doch alles mündlich sagen, sechs Bogen lang!
108  Ich kann Handschriften so schwer lesen. Ich verstehe mich besser
109  aufs Zuhören. Vielleicht tat er das. Aber wenn wir zusammen
110  waren, redete nur er, öffnete Schleusen, überschwemmte mich mit
111  Worten. Ich nahm an seinem Leben teil, und das wollte ich ja
112  auch, über meines gab es nicht viel zu berichten, keine Ehe,
113  keine Kinder, keine Familie, über die man hätte reden müssen;
114  meine Freunde kannte er nicht. Wenn er einmal fragte, was er
115  manchmal wirklich tat: Was hast du in den drei Wochen unternommen?
116  Oder am Telefon: Was tust du gerade, dann antwortete ich:
117  ich liebe dich, ich liebte dich, ich werde dich lieben. Je nach
118  der Frage. Was wirst du morgen tun? Dich lieben! Eines
119  unserer Spiele, für die es viele Regeln gab. Man liebt nicht
120  zur gleichen Zeit gleich stark. Im Anfang war er der Liebende,
121  ich ließ mich lieben. Später war es umgekehrt. So ist es meist.
122  Wir diskutierten ohne Ende. Ich erinnere mich nicht an
123  Augenblicke des Einverständnisses. Wir setzten uns auseinander,
124  fast immer bezogen wir entgegengesetzte Positionen, die wir erregt
125  verteidigten. Welcher Mann möchte das auf die Dauer. Der
126  Wider-Partner ist für einige Zeit interessant, dann wird er
127  anstrengend und lästig, dann sucht der andere Bestätigung und
128  Übereinstimmung: Partnerschaft. Er war einer, der alles, was
129  er tat, mit einer bestimmten Absicht tat. Er legte sich in die
130  Sonne, um braun zu werden. Er ging spazieren, um sich Bewegung
131  zu verschaffen. Er reiste nach Italien, um seinen Gesichtskreis
132  zu erweitern. Kaum ein Tätigkeitswort, das er nicht mit " um zu "
133  benutzt hätte. Seine Finalsätze. Einer unserer
134  Streitpunkte. Er war Pfeifenraucher. Aber er rauchte nicht,
135  weil er gern rauchte, sondern weil es zu dem Persönlichkeitsbild
136  paßte. Er rauchte, um sich zu konzentrieren. Er konnte
137  nachdenklich im Pfeifenkopf stochern, Asche ausklopfen, die
138  Pfeife stopfen: er rauchte, um Zeit zu gewinnen, um für
139  Entscheidungen und Formulierungen eine Frist zu haben. Ich sagte,
140  ich liege in der Sonne, um in der Sonne zu liegen. Ich gehe
141  spazieren, um spazieren zu gehen. Ich reise nach Italien, um
142  nach Italien zu reisen. Ohne Absicht. Er bestritt, daß es
143  Zwecklosigkeit gäbe. Er war ein Pragmatiker. Der erste, den
144  ich kennenlernte. Er glaubte, daß allein die Nützlichkeit ein
145  Maßstab für das Gute und Wahre in der Welt sei; alle
146  Handlungen müßten nach ihren Folgen bewertet werden, nichts
147  geschähe ohne Folgen und ohne Absicht. Ein Wald war für ihn
148  ein Erholungsort zur Steigerung der Arbeitskraft, außerdem ein
149  Platz zur Holzgewinnung, in jedem Falle nutzbringend. Alles
150  besaß einen Marktwert, er nannte das den Leistungswert. Seine
151  Welt bestand aus Konsumgütern und Zerstörungswaffen. Er war
152  ein Refa-Mann. Er machte seine Weltanschauung zu seinem
153  Beruf und setzte Anschauungen in Taten um. Er kalkulierte den
154  Wert eines Arbeitsplatzes und den Wert des Mannes, der diesen
155  Platz einnahm. Er kannte den Arbeitsprozeß, er hatte zunächst
156  als Ingenieur gearbeitet, hatte auf Kosten des Werkes einige
157  Semester Volkswirtschaft studiert, war dann einige Zeit nach
158  Amerika geschickt worden. Er war amerikagläubig. Ein Homo
159  faber. Er wurde glänzend bezahlt. Er galt als gerecht in der
160  Bewertung. Einem Menschen kann nichts Schlimmeres widerfahren,
161  als wenn es gerecht zugeht. Man bestraft nicht einmal eine
162  Maschine, wenn sie kaputt geht. Aber selbst diese unberechenbare
163  Konstante, die ein Mensch darstellt, war einkalkuliert, bis zu
164  einer gewissen statthaften Höhe. Er entschied über die
165  Existenzberechtigung der Buchhalter, der Zeichner im
166  Konstruktionsbüro, der Arbeiter in der Produktion, der
167  Putzfrauen, der Portiers, keiner war ausgenommen, natürlich
168  auch nicht er selbst. Es ging ihm einzig um Leistung und
169  Rentabilität, beides, so sagte er, käme letztlich allen zugute,
170  dem Werk und damit auch den Werksangehörigen. Ich habe die
171  Begriffe und Ausdrücke vergessen. Er war nicht beliebt. Die
172  Arbeiter hatten auch dann noch Angst, daß er sie taxierte, wenn
173  sie das Werktor hinter sich hatten. Er kalkulierte ihre Abneigung
174  ein. Er kam aus Frankfurt an der Oder, lebte dann in Frankfurt
175  am Main. Wenn man ihn fragte, woher stammen Sie, sagte er, aus
176  Frankfurt, oder: er sei Frankfurter. Unter dem Anschein der
177  Wahrheit sagte er die Unwahrheit. Wenn ich bei ihm war, stand
178  ich oft an einem der Fenster, es ging nicht zur Straße hin,
179  sondern nach hinten; Brandmauern, Schornsteine,
180  Entlüftungsschächte und, in gleicher Höhe, im ersten Stock,
181  ein flaches Dach vor der Küche eines chinesischen Restaurants.
182  Die Köche mit ihrem Teiggesichtern rückten sich manchmal Hocker
183  auf das Dach, rupften eine Ente, schlugen eine CrŠme,
184  zupften Salat oder junge Bambussprossen, die Hände mehlbestäubt,
185  blickten zum Himmel, der immer grau war, ein Einheitshimmel
186  ohne Jahreszeit. Sie kamen aus dem Küchendunst nie hinaus. Sie
187  gestikulierten mit Schneebesen oder Suppenkellen, verließen den
188  Schauplatz wieder, man hörte nichts, auch der Geruch drang nicht
189  bis zum Fenster, an dem ich stand. Manchmal flogen Spatzen vor
190  die Küche. Die Köche schienen Vögel nicht zu mögen. Sie
191  verscheuchten sie, fütterten sie nie. Wenn sie mich am Fenster
192  sahen, zeigten sie mit der Kelle auf mich. Du siehst dir immer
193  die Rückseite an, sagte er, du mußt die Resultate sehen, nicht
194  die Produktion. Sieh dir die Speisekarte an, die ist für dich
195  gemacht. Manchmal aßen wir in dem Restaurant. Er wußte immer,
196  woran es lag, wenn etwas nicht funktionierte. Diese Sicherheit
197  beeindruckte mich. Er setzte mir auseinander, daß es in allen
198  menschlichen Gruppen, im Büro, in jedem Einzelhandelsgeschäft,
199  natürlich auch in jeder Familie, die ja ebenfalls ein
200  Unternehmen sei, ein Familienbetrieb, einen Sündenbock geben
201  müsse. Die Sündenböcke ermöglichten die Harmonie der anderen,
202  entlasteten sie von Schuldgefühlen, machten sie einig
203  untereinander - gegen den Sündenbock. Das war einleuchtend,
204  nur, daß in dem Familienbetrieb, diesem Arrangement, in dem wir
205  lebten, ich der Sündenbock war. Er hörte an jenem Punkt auf zu
206  denken, an dem es für mich interessant wurde. Warum sollte ich
207  über dich nachdenken, sagte er. Dich liebe ich. Meine
208  Kritiklosigkeit ist der Beweis meiner Liebe. Er taxierte
209  Gegenstände nach ihrem Nutzwert. Anschaffungswert,
210  Abnutzungsgrad, Wiederverkaufswert. Wenn er etwas anschaffte,
211  rechnete er sofort aus, was er dafür bekäme, wenn er es zu einem
212  bestimmten Zeitpunkt wieder verkaufen würde. Sein Auto etwa.
213  Er war ein Citro‰n-Fahrer. Er wollte, daß man ihn
214  nach seinem Wagen einstufte. Er selbst tat das auch. Er
215  kennzeichnete Männer, indem er sie typische Opel-Rekord-
216  Fahrer nannte. Wir fuhren manchmal in den Hunsrück. Er trank
217  gern Nahewein. Er wußte immer, wo man die besten Forellen bekam,
218  wo den besten Spießbraten. In der Nähe von Bad Kreuznach
219  hatten wir einen Unfall.

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