Quelle Nummer 398

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.04 : BIOGRAPHISCHES

LUDWIG BARRING
GEIST UND HERZ
GROSSE FRAUEN IN IHRER ZEIT
LOEWES VERLAG FERDINAND CARL BAYREUTH, BAYREUTH 1971
S. 10-


001  Kommt man vom Schwarzwald, wo die Straßen voll von Autos
002  sind und auf jedem Berg Hotels, Kaffeehäuser und Andenkenbuden
003  stehen, dann wirken die waldigen Höhenzüge der Vogesen wie
004  Landschaften eines anderen Jahrhunderts. Aus stillen Tälern
005  winden die Straßen sich hinauf zu den kleinen Dörfern,
006  vereinzelten Burgen und Ausblickspunkten, unter denen sich der
007  Wald und die Hügel ausbreiten wie im 15.Jahrhundert.
008  Mittelalterlich eng mit schmalen Fenstern und von mächtigen
009  Bäumen überragt, erhebt sich auch das Haus vor uns, das jeder
010  Franzose kennt, obwohl es am Ostrand Frankreichs, in dem kleinen
011  Vogesendorf Domr‚my liegt, an der Maas, an der Grenze
012  zwischen Lothringen und der Champagne. Daß die
013  zweihundertfünfzig Einwohner ihrem Dorf einen neuen,
014  komplizierten Namen gegeben haben, daß sie es jetzt Domr‚my
015  -la-Pucelle nennen dürfen, ist überflüssig, denn seit
016  Jahrhunderten lernen die Schulkinder, daß die Jungfrau von Orl‚ans,
017  französisch la pucelle genannt, im Jahr 1412 im
018  Domr‚my zur Welt kam. Jeanne, die sich damals Jehanne
019  rufen ließ, war die Tochter bescheidener Bauern. Immerhin war
020  Jacques d'Arc, ihr Vater, nicht gerade arm zu nennen, er war
021  der Dorfälteste von Domr‚my, und da man im Mittelalter auf
022  dem Lande noch keine sonderlichen Ansprüche stellte, war die
023  Familie zufrieden, trotz der schweren Zeiten nicht zu hungern.
024  Und es waren schwere Zeiten. Die Könige von England hatten vor
025  Jahrzehnten den Königen von Frankreich die Erbfolge streitig
026  gemacht. Heiraten, Geburtsdaten, Verwandtschaftsgrade
027  entschieden ja damals über das Schicksal ganzer Völker, die
028  niemand fragte, von wem sie regiert werden wollten. Die englischen
029  Armeen waren nach und nach immer tiefer in Frankreich eingedrungen
030  und hielten so viele Städte besetzt, daß Frankreichs noch
031  ungekrönter König Karl 7.es sich gefallen lassen mußte,
032  daß man ihm höhnisch den König von Bourges nannte. Bourges,
033  die Stadt mit einer der schönsten Kathedralen der Welt, liegt im
034  Loire-Bogen, und die Loire, damals mehr Wasser führend als
035  heute, war eine wichtige Grenze und zugleich die letzte Lebensader
036  Frankreichs, die von den Briten noch nicht unterbunden war. Die
037  Könige aus der Familie Valois hatten an der Loire regiert, dort
038  waren die schönsten Schlösser, Frankreichs entstanden, dort
039  blühten noch Landwirtschaft und Handel, während der Norden und
040  der Westen des Landes unter der Last der Kriege und der fremden
041  Besatzung wirtschaftlich zusammengebrochen waren. Angstvoll
042  verfolgte ganz Frankreich den heldenhaften Kampf der Stadt Orl‚ans
043  gegen die englischen Belagerer. In einer Zeit, in der
044  es keine andere Nachrichtenübermittlung gab als von Mund zu Mund,
045  keine Zeitungen, nur Boten und Gerüchte, war die Anteilnahme
046  am Schicksal der Nation doch erstaunlich rege. Während Karl 7.
047  den Kampf bereits als verloren ansah und sich überlegte, ob er
048  nach Spanien oder nach Schottland ins Exil gehen sollte, drang
049  die Kunde von jeder Niederlage, aber auch von jedem der
050  unerheblichen französischen Erfolge bis in die kleinsten Dörfer.
051  Jeanne d'Arc, die ihres Vaters Herden hütete oder ihrer Mutter
052  im Haushalt half, hatte mit Begeisterung vernommen, daß es den
053  Franzosen gelungen war, in einem Scharmützel am Mont-Saint
054  -Michel die Engländer zu schlagen. Seither war für das
055  Mädchen, das keinerlei Schulbildung genossen hatte, der heilige
056  Michael aus der Schar der Heiligen herausgehoben. Sie ließ sich
057  von Pilgern oder von Kauflauten, die in das Maasdorf kamen, die
058  Insel mit dem Kloster beschreiben, die nach Sankt Michael
059  genannt ist, sie ließ sich erzählen, daß bei Flut kein Weg zum
060  Mont-Saint-Michel führt und daß das Heiligtum des
061  Erzengels bisweilen wie eine himmlische Burg über den Wogen und
062  dem Nebel in der großen Bucht schwebe (...) Das war genug für die
063  Phantasie eines Mädchens in ihrem Alter. Wenn sie allein war
064  mit sich selbst, wenn nur das Vieh friedlich um sie her lagerte und
065  der weite Himmel sich über dem Maastal spannte, dann meinte sie,
066  Stimmen zu hören, die sie aufriefen, mit Hilfe des heiligen
067  Michael das Wunder aus dem Jahre 1425 beim Mont-Saint-
068  Michel zu wiederholen. Nur ein Wunder kann, ja muß die treue
069  und so hart bedrängte Stadt Orl‚ans retten! Eine
070  Halbwüchsige, die sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann zu
071  einer Hexe werden oder zu einer Heiligen Jeanne hatte ein reines
072  Herz und einen schlichten, aber klaren Verstand; Aufrichtigkeit
073  und Frömmigkeit waren für sie ein und dasselbe. Ihr Glaube an
074  Gott und ihre Liebe zur Heimat leuchtete ihr aus den Augen, und
075  die Wirkung, die von ihr ausging, war so stark und bezwingend,
076  daß sich kaum einer jener Menschen, die sie kannten, ihr
077  entziehen konnte. Ein Verwandter - ein Vetter, vielleicht auch
078  ein Onkel - namens Durand Lassart gab ihrem Drängen
079  schließlich nach. Jeanne war nun sechzehn Jahre alt geworden;
080  seit vier Jahren vernahm sie die Stimmen, die sie zur Tat
081  drängten, und selbst den Feind hatte sie schon einmal gesehen,
082  als eine Streifschar das Tal heimgesucht hatte und Jaques d'Arc
083  mit seiner Familie für eine Weile ins nahe Neufchateau hatte
084  fliehen müssen. Durand und Jeanne machten sich auf nach
085  Vaucouleurs, der nächsten Festung, einige Meilen maasabwärts.
086  Der Gouverneur des Platzes war der Sieur Jean de Baudricourt,
087  und man kann nicht sagen, daß er auf den ersten Blick die Sendung
088  Jeannes erkannte. Zweimal wies er die Bauern aus Domr‚my
089  ab, aber sie hatten durch ihre hartnäckigen Vorsprachen bereits
090  ein gewisses Aufsehen erregt. Frankreich hatte eine böse
091  Königin gehabt, ein eigensüchtiges und ausschweifendes Weib,
092  Isabeau de BaviŠre, deren Ränke an Frankreichs Not
093  beträchtlichen Anteil hatten. Seither sagte das Volk - irgend
094  jemand hatte die Weissagung aufgebracht - daß ein schlechtes
095  Weib wie Isabeau das Land ins Elend gebracht habe, daß aber
096  eine reine Jungfrau es retten werde. Soldaten sind immer geneigt,
097  solchen Sprüchen zu glauben, vor allem dann, wenn andere Rettung
098  nicht mehr glaubhaft erscheint. Darum hatten sich zwei Herren aus
099  dem Gefolge Baudricourts für Jeanne d'Arc zu interessieren
100  begonnen. Unter den Einwohnern von Vaucouleurs hatte man für
101  Jeanne gesammelt, denn wer bis zum König reisen wollte, brauchte
102  vor allem Zehrgeld, und schließlich hatte Jean de Baudricourt
103  selbst nachgegeben. Er schrieb Jeanne einen Empfehlungsbrief an
104  Karl 7.und gab ihr einen Paß, der sie berechtigte, am 23.
105  Februar 1429 die Reise an den Hof anzutreten. Von einem Hof im
106  Sinn des früheren Valois-Herrscher konnte man im Fall Karls
107  7.freilich nicht sprechen. Viele nannten ihn den Dauphin,
108  denn er war noch nicht gekrönt. Geld hatte er so wenig, daß
109  seine Armut sprichwörtlich geworden war und selbst seine Kleidung
110  zu wünschen übrig ließ. Und daß ein armer Herrscher seine
111  Soldaten nicht bezahlen kann, hatte viel dazu beigetragen, daß
112  die Engländer ihm eine Stadt nach der anderen abgenommen hatten.
113  Immerhin, ein Restchen Humor war ihm geblieben, und zwar jener
114  Humor, zu dem Herren immer aufgelegt sind - sich auf Kosten
115  kleiner Leute einen Spaß zu machen. Als Jeanne d'Arc mit ihrem
116  Gefolge in Chinon an der Loire eingetroffen war, wo Karl 7.
117  sich aufhilet, fand es der Monarch für richtig, sich hinter
118  anderen Höflingen zu verstecken, ja er soll sogar einen seiner
119  Waffengefährten, nämlich Gilles de Rais, Sieur de Lavalle,
120  ersucht haben, statt seiner auf dem Thron zu sitzen und das
121  Mädchen zu empfangen, während er, Karl 7.selbst, wie ein
122  Höfling in der Versammlung stand. War es ein Scherz oder war es
123  des Königs Bangen um diese letzte Hoffnung, die ihm geblieben
124  war? Er kannte den Brief Baudricourts, der von seinem
125  anfänglichen Unglauben berichtete und dann von seiner Begeisterung
126  für Jeanne sprach; er wußte, daß das Gerücht sich des
127  Mädchens aus Domr‚my bereits bemächtigt hatte und daß im
128  ganzen unbesetzten Frankreich schon von ihr gesprochen wurde als von
129  der rettenden Abgesandten des Erzengels Michael. Und er wußte
130  auch, daß seinen verwahrlosten, abgerissenen, niemals entlohnten
131  Soldaten nichts so sehr fehlte wie neue Hoffnung, wie ein neuer
132  Glaube an den Sieg. Die Szene in Chinon wird zu einem Triumpf
133  für Jeanne. Das schöne große Bauernmädchen geht über das
134  glatte Parkett des Schlosses, läßt sich nicht täuschen durch
135  das freundliche Lächeln des Gilles de Rais, der auf dem Thron
136  sitze, sondern tritt auf den König zu, auf den häßlichen,
137  unscheinbaren Karl 7., fällt vor ihm auf die Knie und spricht,
138  wie inspiriert: " Ich sage dir von seiten des Herrn, daß du
139  der wahre Erbe von Frankreich und Sohn des Königs bist. Gott
140  schickt mich zu dir, damit ich dich nach Reims führe, damit du
141  dort deine Salbung und Krone erhälst, so du es willst. " Die
142  Hauptleute und Heerführer waren sogleich für Jeanne; nicht nur,
143  weil sie an sie glaubten und weil sie ihren Auftritt im Schloß
144  für einen Beweis ihrer Sendung hielten, sondern weil sie wie
145  Karl 7.selbst wußten, daß Frankreich ein Wunder brauchte
146  und die Truppe etwas, das ihr Mut gab. Die Männer der Kirche
147  verhielten sich abwartend wie immer, wenn ein Wunder in der Luft
148  lag: Ging es gut aus, konnte man es immer noch zum Nutzen der
149  Religion in Anspruch nehmen. Erwies es sich als eine Täuschung,
150  dann hatte man sich nichts vergeben. Nur einer war ernsthaft und
151  entschlossen gegen Jeanne: Georges, Sire de la Tr‚
152  mouille, Ratgeber des Königs, der Karl immer wieder Geld
153  geliehen und dafür wertvolle Pfänder erhalten hatte, Landgüter,
154  Besitzungen, Herrschaften. Siegte die Jungfrau, wurde Karl
155  wieder Herr über ganz Frankreich, dann war es dem König ein
156  leichtes, die Schulden an La Tr‚mouille zu bezahlen, und
157  all die herrlichen Pfänder mußten herausgegeben werden. La
158  Tr‚mouille war der böse Geist Karls, die Geschichte verachtet
159  ihn heute, aber damals, am Tag von Chinon, hatte er noch einmal
160  Gelegenheit zu einem seiner diabolischen Ratschläge, die dem
161  König schon so viel Schaden gebracht hatten: Während die
162  Hauptleute ungeduldig verlangten, Jeanne solle sich an die Spitze
163  der Truppen stellen und die hart bedrängte Stadt Orl‚ans
164  befreien, schlug la Tr‚mouille vor, das Mädchen zunächst
165  einmal zu prüfen. Sie sei eine sehr ungewöhnliche Erscheinung:
166  Das Haar trage sie unweiblich geschnitten, ganz kurz - anders
167  wäre es nämlich nicht unter den Helm gegangen -; sie trage
168  Hosen und Harnisch wie ein Ritter - wie sonst hätte sie reiten
169  und zu den Truppen stoßen und kämpfen sollen? Niemand wisse,
170  ob ihre große Schönheit vom Himmel oder vom Teufel stamme, sie
171  müsse also vor ein geistliches Gericht. Wäre La Tr‚
172  mouille so fromm gewesen, wie er sich gab, dann hätte er ein
173  Mädchen, das stets den Namen des heiligen Michael und den Namen
174  des Herrgotts auf den Lippen führte, nicht für eine Hexe halten
175  können. Die heiligen Namen hätten ein Teufelswerkzeug doch
176  sogleich zu Asche verbrennen müssen. Aber obwohl Orl‚ans
177  wartete, obwohl die Offiziere fluchten, man brachte Jeanne vor
178  das geistliche Gericht nach Poitiers. Jeanne schüttelte nur den
179  Kopf. Sie wußte, daß es um Tage ging. Die Verteidiger des
180  hungernden Orl‚ans hatten versucht, einen englischen
181  Transport mit geräucherten und eingesalzenen Fischen zu bekommen,
182  und es war mißlungen. Nichts deprimiert mehr als zerronnene
183  Hoffnungen. Seit dem Heringstag, wie man jenen Unglückstag
184  nannte, glaubte niemand in Orl‚ans mehr an Sieg, und nun
185  mußte die Jungfrau, deren man so dringend bedurfte, noch nach
186  Poitiers, vor ein umständliches Gericht aus Parlamentsräten und
187  Erzbischöfen! Für Jeanne d'Arc ging es dabei - sie wußte
188  es wohl - zum ersten Mal um Leben und Tod. Über ihrem großen
189  Prozeß, der zu ihrer Verbrennung führte, hat man diesen ersten
190  Prozeß vergessen, bei dem nur sehr wenig an einer Verurteilung
191  fehlte. Freilich hätte man in diesem Fall - bei einer
192  Verbrennung der Jeanne d'Arc in Poitiers und durch die Franzosen
193  - niemals davon erfahren, sie wäre nicht berühmt geworden, sie
194  wäre namenlos gestorben wie hunderttausend andere Opfer der
195  kirchlichen Justiz, des Aberglaubens und der Unwissenheit. Was
196  ihr wohl mehr half als ihre frischen und klugen Antworten (denn
197  bloße Klugheit hat noch keinen Angeklagten vor der Inquisition
198  gerettet), waren ihre Freunde, unter denen so mächtige Herren
199  waren wie der junge Herzog von Alencon oder der Beichtvater des
200  Königs und die Kriegsleute. Auch das Volk von Poitiers glaubt
201  bereits an Jeanne, und so erklärt das Gericht denn, nach vielen
202  fruchtlos verstrichenen Tagen, die göttliche Sendung der
203  Jungfrau lasse sich zwar nicht beweisen, andererseits aber spreche
204  nichts dafür, daß sie vom Teufel geschickt sei. Persönlich sei
205  sie rein und unbescholten. Wenige Wochen später wird all das
206  keine Bedeutung mehr haben. Jeanne und ihre Freunde eilen an die
207  Loire und nach Orl‚ans. Dunois, der tapfere Kommandant
208  der belagerten Stadt, macht einen Ausfall, um sie und ihre
209  Truppe in die Stadt bringen zu können. Das halbverhungerte Volk
210  von Orl‚ans schöpft wieder Hoffnung. Niemand spricht mehr
211  von Übergabe. Man schreibt den 29.April 1429. Jeanne
212  besitzt selbst keine militärischen Kenntnisse, und Belagerungen
213  sind bekanntlich eines der schwierigsten Gebiete der Kriegstechnik.
214  Also hört sie die Ratschläge von Dunois und von ihrem Freund
215  Alencon und beschränkt sich darauf, der Truppe Mut zuzusprechen
216  und sie durch ihr Beispiel anzuspornen. Jean Graf von Dunois,
217  genannt der Bastard von Orl‚ans, Vetter des Königs aus
218  einer illegitimen Verbindung mit einer adeligen Dame, war der
219  heldenhafte Verteidiger der Stadt, deren Namen er trug, und vom
220  Augenblick an, da er Jeanne d'Arc sah, ihr so überzeugt ergeben
221  wie die Freunde der ersten Stunde von Chinon. Beim großen
222  Prozeß der Jungfrau sagte Dunois furchtlos zu ihren Gunsten aus:
223  " Ich glaube, daß Johanna von Gott gesandt war und ihre
224  Heldentaten nicht menschlichen Denken, sondern göttlicher
225  Eingebung entspringen. "

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