Quelle Nummer 380

Rubrik 12 : BILDENDE   Unterrubrik 12.01 : PRESSE

SPIEGEL
DER SPIEGEL, NR.20, 25.JG., 10.5.1971, S.154-
(KULTUR)


001  Zerfranster Pinsel, scharfe Feder. Unter dem
002  Titel " Künstler - Theorie - Werk " will die zweite
003  Nürnberger Biennale das meist unsystematische, " wilde Denken "
004  der Künstler untersuchen, das " von zunehmender Bedeutung und
005  Brisanz ist ". Wie andere aktuelle " Themen-Ausstellungen "
006  gerät sie in ein Dilemma: Ihr Konzept läßt sich nicht
007  veranschaulichen. Was die Schönheit sei, das weiß
008  ich nicht ", bekannte, nach langem Überlegen, Albrecht Dürer.
009  Späteren Zeiten immerhin verhieß er mehr Erleuchtung: " Es
010  wird noch hervorkommen mancher trefflich Mann, die alle wohl und
011  besser von der Kunst werden schreiben und lehren denn ich ".
012  Treffliche Leute mit solchem Ehrgeiz sind seither scharenweise
013  hervorgekommen; vor allem moderne Künstler liefern zugleich mit
014  ihrer Kunst gern auch das theoretische Fundament - oder den
015  theoretischen Überbau. Die Folge: Darüber, was Schönheit
016  sei, herrscht weniger Einigkeit als je. So paßt Dürers
017  Bekenntnis auch gut als Motto der zweiten Nürnberger Biennale,
018  die jetzt eröffnet wurde: Sie hat in diesem (Dürer-) Jahr
019  das Thema " Künstler - Theorie - Werk ". Mit dem
020  Dreiecksverhältnis haben Nürnbergs Biennale-Planer eine "
021  problemstellung " gefunden, die neuerdings " zunehmend an
022  Bedeutung und Brisanz gewonnen hat " (so Biennale-Gründer
023  Dietrich Mahlow) und die sich auf mancherlei Kunst anwenden
024  läßt: Das Thema macht es möglich, eine Werk-Ansammlung
025  zu präsentieren, die von Dürer-Faksimiles und
026  Leonardo-Faksimiles (als historischen Vorspann) bis zu
027  aktuellen Kunst-Konzepten reicht. An den Nürnberger Schau
028  -Plätzen in der Kunsthalle und im benachbarten Künstlerhaus,
029  finden sich etwa neben einer " Ruhe auf der Flucht nach Ägypten
030  ", gemalt vom Romantiker Runge, lebensgroße Puppen für das "
031  Triadische Ballett " des Bauhaus-Künstlers Oskar
032  Schlemmer, bemerkenswerte Malewitsch-Kollektionen,
033  Klee-Kollektionen und Kandinsky-kollektionen,
034  Pop-Bilder von Roy Lichtenstein, ein Neonröhren-Raum
035  des Amerikaners Flavin sowie utopische Stadt-Modelle des
036  Niederländers Constant. Denn alle diese Künstler haben sich
037  auch theoretisch zur Kunst geäußert. " Der Pinsel ist
038  zerfranst, er dringt schwerlich in die Gehirnfalten ein. Die
039  Feder ist schärfer. " So urteilte um 1920 der russische Kunst
040  -Revolutionär Malewitsch, und die Nürnberger Biennale
041  bestätigt seinen Spruch: Die Künstler-Theorien sind aus
042  den Werken kaum zu erfahren. Sie müssen vielmehr, in
043  Bruchstücken, von großen Schrifttafeln abgelesen werden. Am
044  schnellsten leuchten die Künstler-ÜberlegÜngen dort ein,
045  wo auch die Bilder demonstrativ und lehrhaft entworfen sind: vor
046  allem bei den Farbtafeln des einstigen Bauhaus-Meisters Josef
047  Albers. Betrachter von Albers-Werken werden durch knappe
048  Gebrauchsanweisungen instruiert, unterschiedlich rot gefärbte
049  Latten per Hebeldruck aus einer Versenkung zu holen und den
050  Farbton nach dem Gedächtnis zu identifizieren. Sie sollen
051  täuschende Wechselwirkungen von Farbkombinationen und
052  Komplementär-Effekte an Beispielen erproben. Verwickeltere
053  Künstler-Gedanken sind allerdings doch besser im umfangreichen,
054  von einem Autorenkollektiv verfaßten Ausstellungskatalog
055  nachzulesen, der auch für den Buchhandel gemacht ist und dessen
056  Lektüre die Betrachtung der Originale weiterhin ersetzt.
057  Deutlich verweist so die Biennale, die " eine Zumutung ist und
058  auch eine Zumutung sein soll " (Nürnbergs Kunsthallen-
059  Manager Eberhard Roters), auf ein verbreitetes Dilemma im
060  aktuellen Kunstbetrieb: Naiver, unreflektierter
061  Kunstbetrachtung genauso überdrüssig wie viele Künstler,
062  versuchen sich progressive Museumsdirektoren mehr und mehr in "
063  thematischen " Ausstellungen wie den Brüsseler " Metarmorphosen
064  des Objekts " (SPIEGEL 19/1971) oder der Kasseler
065  Documenta 5 nach jüngstem Konzept. Solche Ausstellungen jedoch
066  wirken ohne ausführlichen Kommentar oft wirr: Die Exponate sind
067  fast beliebig austauschbar und zu beinah schon entbehrlichen
068  Illustrationen des Katalogtextes degradiert. Einzudämmen ist
069  dieser mißliche Effekt wohl nur durch strenge Materialauswahl -
070  doch eben die wollten die Nürnberger Biennale - Macher nicht
071  praktizieren. Sie haben, einem möglichst umfassenden Kunst- "
072  panorama " zuliebe, den " Begriff " Künstler-Theorie "
073  absichtlich sehr weit gefaßt " (Roters) und in solch
074  enzyklopädischem Eifer sogar Paul Wunderlich mit aufgenommen - "
075  ein gedanklich arbeitender, aber kein schreibender Künstler
076  ", der jedoch (ursprünglich für eine andere Dürerjahr-
077  Ausstellung) 17 Paraphrasen auf Dürersche Figuren-
078  Konstruktionen angefertigt hatte. Für Dürer hatten
079  Proportionsstudien ernsthafte Forschungen nach einem vermuteten
080  Naturgesetz und einen Beitrag zu einer umfassenden Kunsttheorie
081  bedeutet, die freilich unvollendet blieb. Ähnlich optimistisch
082  und systematisch gingen rund 400 Jahre später die Künstler am
083  Bauhaus zu Werke, wo Schlemmer Dürer-Studien kopierte und
084  Paul Klee frohlockte: " Der Kunst ist zu exakter Forschung
085  Raum genug gegeben, und die Tore dahin stehen seit einiger Zeit
086  offen. " Ob aber Künstler-Theoretiker nun " Körper und
087  Raum ", " Farbe und Form " oder die " Ausdrucksgebärde
088  " (so einige Kapitel im Nürnberger Katalog) untersuchten - eine
089  exakte und verbindliche " Grammatik der Bildformen ", wie sie im
090  19.Jahrhundert der Maler Hans von Mar‚es erhofft hatte,
091  kam nie zustande. Normativ gemeinte Lehren bis hin zu seriellen
092  Kunst-Rezepten von heute pflegen - wichtig genug - doch nur
093  persönliche Erfahrungen oder Entscheidungen zu rechtfertigen.
094  Und sie werden auch oft in einer eher poetischen Privatsprache
095  vorgebracht: Dem Konstruktivisten Malewitsch etwa kann der
096  tschechische Autor Miroslav Lamac5 nur ein " wildes Denken
097  " bescheinigen, " dem es zwar an Logik gebricht, das aber immer
098  nach Tiefe sucht ". " Nicht unbedingt logisch " ist nach dem
099  Eingeständnis des Amerikaners Sol Lewitt auch die von ihm
100  betriebene Konzept-Kunst (" Ideen können Kunstwerke sein
101  "). Doch in dieser Sparte wenigstens sind Theorie und Werk,
102  die Nürnbergs Biennale sonst stets getrennt vorführen muß,
103  buchstäblich eins. Im Katalog-Buch freilich ist gerade das
104  Konzept-Kapitel " nicht ganz geglückt " (Mahlow) -
105  Künstler fühlten ihr Theorie-Werk durch Kürzungen und
106  Layout-Veränderungen entstellt. " Die Ausstellung in
107  diesem Raum ", so kommentiert nun ein eilig angebrachter
108  Wandspruch die Konzepte im Künstlerhaus, " findet unter der
109  Voraussetzung einer Korrektur des Katalogs statt. " Ein
110  zusätzlicher Eröffnungs-Mißklang drang aus dem Nürnberger
111  Rathaus herüber: Der Philosoph Max Bense, Als Biennale-
112  Redner vorgesehen, war wegen seines Wohlwollens für den
113  philippinischen Papst-Attentäter vom Stadtrat " in
114  Bierverschiß getan " (Roters) und wieder ausgeladen worden.
115  Schriftsteller. Solches Unglück. Stalin nannte
116  ihn " ein Genie ", dennoch wurde der Dichter Mandelstam,
117  Freund Pasternaks, ein Opfer des Stalinismus. Die Memoiren
118  der Dichter-Witwe, in der Sowjet-Union unterdrückt,
119  erschienen jetzt auf deutsch. Wissen Sie, was nach solchen
120  Gedichten passiert? Es kommen drei in Uniform. " So hatte ein
121  wohlwollender Redakteur den Moskauer Lyriker Ossip Mandelstam
122  (1891 bis 1938) gewarnt, noch ehe 1933 Stalins erste große
123  " Säuberung " begann. Doch der furiose Autor von " Hefe der
124  Welt ", der zu Lenins Zeiten riskiert hatte,
125  Verhaftungsbefehle öffentlich zu zerreißen, trotzte auch Stalin.
126  Er dichtete im Herbst 1933 ein Epigramm auf den
127  " Seelenmörder " im Kreml und rezitierte es vor kaum bekannten
128  Besuchern seines Freundes Pasternak. Ein halbes Jahr darauf
129  standen wahrhaftig drei in Uniform vor seiner Tür. Mandelstam
130  wurde verhaftet, sein Werk verboten, Berichterstattung über ihn
131  unterdrückt, und seither kursierten in der Sowjet-Union über
132  ihn nur mehr Gerüchte: Er trinke, und darum schaffe er nichts
133  mehr. Oder: Im sibirischen Arbeitslager sei er, wegen
134  Kameraden-Diebstahls von den Mithäftlingen vertrieben, im
135  Schnee erfroren. Oder auch: Von den Deutschen sei er 1942
136  ermordet worden. Wahr ist: Ossip Mandelstam wurde 1934, schon
137  14 Tage nach seiner Festnahme, auf Stalins persönliche Order
138  - " Isolieren, aber erhalten! " - zu drei Jahren
139  Verbannung, zunächst im sibirischen Tscherdyn, später in
140  Woronesch, begnadigt. Und statt seine Phantasie zu lähmen,
141  stimulierte ihn das Hafterlebnis und die " Ausgestoßenen "-
142  Existenz Existenz sogar zu ungekannter Produktivität - bis er in der
143  Nacht vom 1.zum 2.Mai 1938 abermals abgeholt wurde. Halb
144  wahnsinnig vor Hunger und Angst, ist er dann wenige Monate
145  später im Transit-Lager Wtoraja Retschka bei Wladiwostok
146  gestorben - " laut Totenschein durch " Herzversagen ".
147  Nachzulesen ist dieses Dichter-Schicksal so in den jetzt bei
148  S. Fischer auf deutsch erschienenen Memoiren seiner Witwe
149  Nadeschda Mandelstam, die jene drei Verbannungsjahre freiwillig
150  mit ihrem Mann geteilt hat. Je eine Kopie ihrer schon Mitte der
151  sechziger Jahre entstandenen Niederschrift war im März 1970 zum
152  New Yorker Atheneum-Verlag sowie an die ums Copyright
153  sowjetischer Autoren besorgte Amsterdamer Alexander-Herzen
154  -Stiftung durch den russischen Zoll geschmuggelt worden. Und
155  beide Exemplare, so versichert Stiftungsvorsitzender Karel Het
156  Reve, hätten sich als " hundert Prozent echt " und "
157  autorisiert " erwiesen. Deutscher Titel: " Das Jahrhundert
158  der Wölfe ". Stalins Gnadenakt, so erinnert sich Frau
159  Nadeschda, steifte geradehin des Poeten Selbstbewußtsein, und
160  das mit Grund: " Wenn meinen Dichter-Freund ein solches
161  Unglück träfe ", so hatte der Diktator ein paar Tage zuvor den
162  Dichter Pasternak überraschend per Telephon zurechtgewiesen, "
163  würde ich alles tun, um ihm zu helfen. " Und als sich der
164  verschreckte Pasternak doch nicht ganz so als " Freund " eines
165  Verhafteten bekennen mochte, hatte Stalin ihn unterbrochen: "
166  Aber er ist doch ein Genie, nicht wahr? " Aus Moskaus
167  NKWD-Gefängnis " Lubjanka " entlassen, schien der
168  ohnehin an Angina pectoris kränkelnde Mandelstam freilich auch
169  seelisch ruiniert. Verschlossene Türen versetzten ihn in Panik,
170  bis er sich vergewissert hatte, daß sie " von innen
171  " aufzuklinken waren. Offene Fenster hingegen suggerierten ihm
172  unweigerlich die Sehnsucht, sich zu Tode zu stürzen. Und
173  regelmäßig sechs Uhr abends wähnte er seinen Henker
174  heranschlurfen zu sehen, " mit der Axt ". Schlimmer noch
175  quälten ihn " akustische Halluzinationen ": so das "
176  Fingerschnalzen ", das unter russischen Kerker-Beamten "
177  liquidieren " bedeutete, und wie aus Kellergewölben selbst
178  Nadeschdas Stimme - um ihm Schuldempfindungen zu insinuieren,
179  war dem Dichter in der Lubjanka mit Schallplatten-Aufnahmen
180  ein Verhör seiner Frau vorgespielt worden. Doch die grausigen
181  Sinnestäuschungen erwiesen sich, wider Willen, auch als
182  inspirierende " musikalische Gedanken ". Nadeschda mußte mit
183  ansehen, wie sich Mandelstam " Melodien ", als wären es "
184  beim Baden ins Ohr gedrungene Tropfen ", aus dem Kopf zu
185  schütteln mühte. Wie unter Zwang verwandelte sich der Lyriker
186  in Verse, und weil er dazu mit den Lippen lautlos zu artikulieren
187  pflegte, mußte sich seine Frau schlafend stellen. Vor dem "
188  Exil " hatte Mandelstam jedes Wort seiner Verse mit Nadeschda
189  beraten. Nun, seit dem Publikations-Verbot, hatte er
190  plötzlich das unbezwingbare " Bedürfnis ", auch anderen
191  vorzulesen. Dabei wimmelte es in seiner Umgebung von "
192  kunstbeflissenen " Spitzeln. Und nur wenige enttarnten sich
193  selbst wie jener Tölpel, der den Mandelstams seine musischen
194  Neigungen mit demselben Miniatur-Buddha demonstrierte, den
195  schon sein Vorgänger aus der Tasche gezogen hatte.
196  Unverfrorenere " Adjutanten " traten ohne anzuklopfen ins Zimmer
197  und sammelten einfach ein, was Geschriebenes auf dem Tisch lag.
198  Daß Ossip Mandelstam dennoch vier Jahre lang der abermaligen
199  Verhaftung entging, verdankte er der Einsicht seiner Frau in die "
200  Ökonomie " stalinistischer Verhaftungsspezialisten, die ihr "
201  Soll " möglichst mühelos durch Razzia erfüllten. Wuchsen
202  die Schlangen meldepflichtiger Verbannter vor den lokalen NKWD
203  -Büros, wurden also Razzien sichtlich " lohnend ", so
204  erinnerte sich Nadeschda ihres Wahlspruchs: " Den Wolf
205  ernähren seine Beine ", und Mandelstams packten wieder einmal
206  die Koffer. Auch dieses Thema, das unfreiwillige Zigeunerleben,
207  fand seinen Niederschlag in Mandelstams Lyrik, unter anderem in
208  seinem " Wolfs-Zyklus " mit den Hauptmotiven " Eigene
209  Wohnung " und " Glück " des " normalen Todes " im eigenen
210  Bett. Das schließlich neurotische Verlangen nach der eigenen
211  Wohnung ist ihm dann aber auch, wie Frau Nadeschda vermutet, zum
212  Verhängnis geworden: Obgleich sich in seinem Moskauer
213  Appartement inzwischen ein NKWD-General eingenistet hatte,
214  reichte Mandelstam Antrag über Antrag ein, um in sein Eigentum
215  zurückkehren zu dürfen. Und dazu fühlte er sich erst recht
216  ermutigt, als der Schriftstellerverband ihm, dem " Vorbestraften
217  ", ungebeten einen Erholungsurlaub im idyllischen Samaticha
218  bewilligte. Zu spät erinnerte sich Nadeschda diesmal ihrer Wolfs
219  -Maxime. Erst als sich das Ehepaar von zwei Herren mit
220  Beamten-Gehabe beobachtet fühlte, wurde es sich bewußt, wie
221  weit das Ferienheim von der nächsten Bahnstation entfernt lag:
222  25 Werst, zu weit für den Fußmarsch eines Herzkranken, eine "
223  Falle ". Und wirklich: In der Nacht zum 2.Mai 1938
224  standen wieder Uniformierte vor Mandelstams Tür. Den Großteil
225  seines in Kopfkissen, Töpfen und Schuhen verborgenen Nachlasses
226  hat Nadeschda jedoch retten können. Abschriften hatte sie lange
227  zuvor schon bei Freunden deponiert. Den Nachlaß einmal
228  publiziert zu sehen, wartet sie indes bis heute vergebens. Wohl
229  wurde der berühmte Lyriker 1956 wie viele andere Stalin-Opfer
230  rehabilitiert. Auch wurde der Druck seiner Werke offiziell
231  angekündigt. Doch das war vor anderthalb Jahrzehnten.
232  Mandelstams Witwe ist unterdessen 71. Sie weiß, " daß ich die
233  Herausgabe seiner Bücher nicht mehr erleben werde ". Um
234  wenigstens seinem guten Schriftstellernamen wieder Kredit zu
235  verschaffen, hat sie darum schließlich, mit der illegalen
236  Veröffentlichung ihrer Erinnerungen, ihr Moskauer Wohnrecht und
237  ihre Pension als Englisch-Dozentin riskiert. In einem Brief
238  an den amerikanischen Slawisten Clarence Brown, der im Vorwort
239  zur US-Ausgabe ihrer Memoiren zitiert ist, schrieb
240  Nadeschda Mandelstam, sie setze auf die Fairness gegenüber einer
241  alten Frau, die " unfähig ist sogar zur Selbstverteidigung ".
242  ARCHÄOLOGIE. Kostbarer Kalk. Seine "
243  Berufsehre verpfänden " möchte US-Archäologe Michael
244  D. Coe für die Echtheit eines Fundes, der eine Sensation
245  bedeuten würde: Nach bislang nur drei überlieferten Maya-
246  Handschriften wäre dies die vierte. Das Buch enthält
247  kunstlose Bilder von Göttern, an die kein Mensch mehr glaubt,
248  und Zeichen, die niemand recht deuten kann. Es ist ein Fragment,
249  von dunkler Herkunft, schlimm zerfleddert. Doch es würde, wie
250  der Hamburger Experte Dr. Wolfgang Haberland schätzt, "
251  dem Besitzer so viel einbringen, wie irgendein reiches Museum nur
252  aufwenden kann - wenn es echt ist ". Ob es echt ist, rätseln
253  Forscher seit letztem Monat, als es auf einer New Yorker
254  Ausstellung auftauchte. Das elfseitige Leporello aus bröseligem,
255  kalküberzogenem Rindenbast wäre der Rarität wegen unermeßlich
256  kostbar: Es sieht aus wie eine Handschrift der Mayas. Als
257  Christoph Kolumbus die Neue Welt entdeckte, kündeten von diesem
258  bedeutendsten Kulturvolk Altamerikas noch umfangreiche
259  Gesetzestexte und Ritualanweisungen, Chroniken und astronomische
260  Tabellen, Lehrbücher über Ackerbau und kartographische Werke.
261  Aber brandschatzende Konquistadoren und eifernde Mönche
262  zerstörten die Bibliotheken der indianischen Städte und
263  Kultzentren. Nur drei Maya-Schriftwerke wurden bislang
264  aufgefunden, das letzte vor mehr als einem Jahrhundert. Sie
265  werden in Dresden, Paris und Madrid wie Reliquien aufbewahrt.
266  Das schönste und älteste, der Dresdner Codex, ist eine Art
267  Almanach für religiöse Prophezeiungen. Nach seinen bebilderten
268  Tabellen errechneten Maya-Priester offenbar die
269  Konstellationen der Gestirne, vor allem der als unheilvoll
270  angesehenen Venus. Der Sinn solcher Horoskop-Literatur
271  blieb freilich weithin rätselhaft. Wohl können Experten das
272  Zahlensystem und die Jahrmillionen umspannenden astrologischen
273  Kalkulationen der Mayas verstehen; viele Symbole für Götter,
274  Herrscher und Orte, Tiere, Farben und Himmelsrichtungen,
275  Tage und Monate sind übersetzt worden. Aber die meisten
276  Hieroglyphen wie der Code des Schriftsystems sind noch nicht
277  entziffert. So erhoffen viele Archäologen den Schlüssel zu den
278  esoterischen indianischen Texten von neuen Schriftfunden. Bei
279  Ausgrabungen kamen allerdings bisher nur Maya-Bücher zutage,
280  deren Seiten unlösbar verbacken sind. " Einen echten Hit, ein
281  Wunder " nennt denn auch der Amerikanist und Maya-Spezialist
282  Dr. Michael D. Coe von der Yale University in New Haven
283  (US-Staat Connecticut) das Durchaus lesbare New Yorker
284  Ausstellungsstück, das ein Anonymus nun präsentierte. Die
285  Handschrift, die Archäologe Coe ins 15.Jahrhundert datiert
286  und für deren Echtheit er seine " Berufsehre verpfänden
287  " möchte, enthält weitere Berechnungen des Venus-Umlaufs.
288  Bis chemische Analysen des verwendeten Bast-Papiers jeden
289  Zweifel ausschließen, ist jedoch etwa Coes Hamburger Kollege
290  Haberland eher skeptisch: Seit Maya-Kunst auf dem
291  Antiquitätenmarkt hoch notiert, sind auch sachkundige Fälscher
292  groß im Geschäft.

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