Quelle Nummer 344
Rubrik 07 : POLITIK Unterrubrik 07.11 : TAGESPOLITIK
GENERAL-ANZEIGER
79.JG., NUMMER 24 456, MONTAG 11.5.1970, S.1-
001 26 DM monatlich für jeden Arbeitnehmer. Tarifliche
002 Vermögensbildung in der Metallindustrie Ab 1.Juli -
003 Vertrag läuft bis 1976. Düsseldorf. Die
004 Tarifpartner der Metallindustrie haben einen entscheidenden
005 Schritt zur Förderung der Vermögensbildung getan. Am
006 Wochenende einigten sie sich nach einem viertätigen
007 Spitzengespräch in Düsseldorf, das von zähen Diskussionen und
008 schwierigen Verhandlungen gekennzeichnet war, über den Abschluß
009 eines Vertrages, der den Metallarbeitnehmern für einen Sechs-
010 Jahres-Zeitraum die Gewährung vermögenswirksamer Leistungen
011 von 26 D-Mark monatlich durch die Unternehmen zusätzlich zur
012 Lohnzahlung oder Gehaltszahlung garantiert. Der von
013 Delegationen des Gesamtverbandes der metallindustriellen
014 Arbeitgeberverbände (Gesamtmetall) und der IG Metall unter
015 der Leitung der Vorsitzenden beider Organisationen, Herbert von
016 Huellen und Otto Brenner, ausgehandelte Tarifvertrag soll am 1.
017 Juli in Kraft treten. Er hat eine Laufzeit bis zum 30.
018 Juni 1976. Van Huellen erklärte, der Vertragsabschluß sei ein
019 gutes Zeichen für die Fähigkeit der Tarifpartner, in freien
020 Verhandlungen ohne Druck zu einem Ergebnis zu gelangen. Der
021 Vertrag sei jedoch ein " bedeutender Belastungsfaktor " für die
022 Metallindustrie. Diese müsse in sechs Jahren rund acht
023 Milliarden DM aufbringen. " Das muß erst erwirtschaftet werden ",
024 sagte Van Huellen. Die Unternehmer hofften, daß sie diese
025 Belastung dennoch tragen könnten. Es sei für die Arbeitnehmer
026 keine direkte Lohnerhöhung, weil die Beträge nicht in den
027 Konsum gingen. Die Arbeitnehmer seien aber nun an dem
028 Produktionsvermögen mitbeteiligt. Sie könnten, jeder für sich,
029 in 20 Jahren rund 15000 DM sparen. Brenner sagte, die
030 Arbeitnehmer müßten nun überlegen, welche von fünf gesetzlich
031 möglichen Sparmaßnahmen sie treffen wollten. Im übrigen sei die
032 IG Metall mit dem Abschluß zufrieden. Die besondere Bedeutung
033 liege darin, daß der Vertrag ohne Koppelung mit Lohnfragen
034 und Gehaltsfragen zustandegekommen sei, den Arbeitnehmern also
035 zusätzliche Leistungen garantiere. Auch Brenner äußerte seine
036 Zufriedenheit darüber, daß " bei gutem Willen auch ohne Druck
037 Verhandlungen und Einigung möglich sind ". Einzelheiten des
038 Vertrags. Der Vermögensbildungsvertrag gilt für alle
039 gewerblichen Arbeitnehmer, die von den regionalen Tarifverträgen
040 erfaßten Angestellten und für die nach dem
041 Berufsausbildungsgesetz Auszubildenden in der Metallindustrie.
042 Der Vertrag sieht im einzelnen vor: (Sigle) Den Metallarbeitnehmern
043 werden vom 1.Juli 1970 an vermögenswirksame Leistungen in
044 Höhe von 26 DM monatlich (312 DM im Kalenderjahr, den
045 Auszubildenden 13 DM im Monat gewährt, (Sigle) der Anspruch auf
046 diese Leistungen entsteht nach einer Betriebszugehörigkeit von
047 sechs Monaten, (Sigle) der Arbeitnehmer (oder Auszubildende) kann
048 zwischen den im zweiten Vermögensbildungsgesetz vorgesehenen
049 Anlagearten frei wählen, (Sigle) sein Anspruch auf die Leistungen
050 entfällt jedoch für den jeweiligen Zeitraum, wenn der
051 Arbeitnehmer nicht vier Wochen nach Aufforderung durch den
052 Arbeitgeber diesem mitteilt, für welche Anlageart er sich
053 entschieden hat. Gomulka für normale Beziehungen zu Bonn.
054 " Westgrenze Polens endgültig ". Bonn. (ap)
055 In mehreren Ostblockstaaten ist am Samstag der 25.Jahrestag
056 des Sieges über Hitler-Deutschland mit Militärparaden und
057 Großkundgebungen begangen worden. In Breslau ging dabei der
058 polnische Parteichef Gomulka auf die Beziehungen seines Landes
059 zur Bundesrepublik Deutschland ein. Er drückte den Wunsch nach
060 einer Normalisierung dieser Beziehungen aus und erklärte, gerade
061 aus diesem Grunde fordere Polen die " unwiderrufliche Anerkennung "
062 seiner Westgrenze als " endgültig und unveränderbar ". Der
063 bisherige Verlauf der deutsch-polnischen Gespräche biete
064 " keine Grundlage für die Feststellung, daß die gegenwärtige
065 Bonner Regierung bereit ist, eine solche Haltung einzunehmen ".
066 Gomulka macht klar, daß alle Versuche, das Oder-Neiße-
067 Problem durch zeitlich begrenzte Abkommen zu lösen, in denen der
068 Status quo bis zu einem Friedensvertrag, der unrealistisch
069 geworden sei, anerkannt werde, von Polen nicht akzeptiert werden
070 würden. Die CDU/CSU-Opposition wurde von dem
071 polnischen Parteichef beschuldigt, die gegenwärtigen Probleme
072 durch solche zeitlich begrenzten Abkommen offen lassen zu wollen.
073 Offen bleibe aber nur das Problem von Frieden oder Krieg.
074 Tarifeinigung im Bergbau Urabstimmung abgesagt. Essen.
075 Nach sechsstündiger Verhandlungsdauer haben sich gestern abend
076 der Unternehmensverband Ruhrbergbau und die IG Bergbau und
077 Energie auf einen neuen Tarifvertrag für die über 200000
078 Beschäftigten des Ruhrbergbaus geeinigt. Wie beide Tarifpartner
079 gemeinsam bekanntgaben, werden die Löhne und Gehälter vom 1.
080 Juni an um 7,75 Prozent erhöht. Die Laufzeit des
081 Vertrages beträgt ein Jahr. Das Weihnachtsgeld wurde
082 einheitlich auf 400 DM festgesetzt. Außerdem wird von 1971 an
083 das Urlaubsgeld von 240 auf 300 DM erhöht. Die IG Bergbau
084 hat nach eigenen Angaben beschlossen, auf die für morgen angesetzt
085 gewesene Urabstimmung über einen Streik zu verzichten.
086 Möller glaubt nicht an Rezession. Timmendorferstrand.
087 " Die Gefahr, daß eine konjunkturelle Entspannung in Rezession
088 und Arbeitslosigkeit umschlägt, besteht auf absehbare Zeit nicht. "
089 Diese Versicherung gab Bundesfinanzminister Möller (SPD)
090 gestern auf einer Diskussionsveranstaltung in Timmendorferstrand.
091 Amerikanische Finanzgruppe möchte IOS übernehmen.
092 Genf. Die amerikanische Finanzgruppe International
093 Investors Group " (IIG) hat gestern abend in Genf ein
094 Angebot unterbreitet, um die in Schwierigkeiten geratene IOS zu
095 übernehmen. Doch scheinen die Verhandlungen der IOS mit einer
096 Gruppe von Finanzinstituten, die vom Verwaltungsratsvorsitzenden
097 des amerikanischen Mischkonzerns King Resources Co.
098 repräsentiert werden, gestern bereits so weit gediehen zu sein,
099 daß die IOS die Einsetzung einer siebenköpfigen
100 Verhandlungskommission aus Direktoiumsmitgliedern bekanntgab, die
101 die Verhandlungen mit diesem Interessenten zu einem Abschluß
102 bringen sollte. Kaum Zwischenfälle in Washington.
103 Proteste gegen Kambodscha-Politik Präsident Nixons.
104 Washington. Nur am Rande des Massenprotestes gegen die
105 Kambodscha-Politik Präsident Nixons und den Tod von vier
106 Studenten in Ohio trafen am Wochenende die Befürchtungen über
107 gewalttätige Entladungen in der amerikanischen Hauptstadt zu. In
108 der sengenden Sommerhitze hatten am Samstag 60000 bis 80000
109 Demonstranten auf dem Rasengelände unmittelbar hinter dem
110 hermetisch abgeriegelten Weißen Haus der militanten Rhetorik der
111 Sprecher mit begrenzter Aufmerksamkeit zugehört. Selbst die
112 Protestaktionen am Rande blieben überwiegend friedlich, nachdem
113 noch in der Nacht vorher an zahlreichen Universitäten und Collegs
114 Feuer aufgeflammt waren. An der Staatsuniversität von Colorado
115 ging das 91 Jahre alte Gründungsgebäude der Hochschule in
116 Flammen auf. Auch aus rund einem anderen Dutzend der mehr als 300
117 Universitäten, die nach dem nationalen Streikaufruf ihre Tore
118 schlossen, waren Brandstiftungen gemeldet worden. In der
119 amerikanischen Hauptstadt konnte Präsident Nixon rund 200 Meter
120 hinter der unüberwindbaren Kette aus Stoßstange an Stoßstange
121 geparkten Autobussen in seinen Arbeitsräumen neben dem Weißen
122 Haus kaum überhören, daß er die Demonstranten mit seinen
123 Versicherungen auf einer Pressekonferenz am Vorabend nicht
124 überzeugt hatte. Lügner, Kriegstreiber, Dinosaurier,
125 Verlierer ", titulierten ihn die aus verschiedenen Linksgruppen
126 zusammengewürfelten Redner. Die Krawalle begannen erst, als der
127 größte Teil der Menge sich zu Diskussionen in die drei
128 Washintoner Universitäten oder zu einem Bade in die Brunnen der
129 Hauptstadt und das langgestreckte Wasserbassin vor der
130 Lincolnhalle bewegt hatte. Gegen Mitternacht ging die Polizei
131 gegen rund 200 Demonstranten mit Tränengas vor, die an der
132 George-Washinton-Universität Barrikaden errichten
133 wollten. Die Polizei meldete am Samstag und gestern jedoch
134 insgesamt nur rund 350 Festnahmen. Die Polizei hatte sich dieses
135 Mal entgegen früherer Praxis um größte Konzilianz bemüht. Zu
136 sehen waren bei der Massenkundgebung nur die 4800 Polizisten der
137 Hauptstadt und 480 Nationalgardisten. Die wenigen Bundestruppen
138 tauchten erst in der Nacht zum Sonntag auf. Auch außerhalb der
139 USA fanden am Wochenenden Demonstrationen gegen die
140 amerikanische Indochinapolitik statt. Dabei kam es in Kopenhagen,
141 London und Turin zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und in
142 Berlin sogar zu einer regelrechten Straßenschlacht, in die auch
143 berittene Polizei eingriff. Anschläge auf drei Iberia-
144 Flugzeuge. Zusammenhänge noch unklar - Bonn verstärkt
145 Schutzmaßnahmen. Frankfurt/Genf/Amsterdam.
146 Die spanische Fluggesellschaft Iberia ist gestern Ziel von drei
147 Bombenanschlägen in Frankfurt, Genf und Amsterdam gewesen.
148 Bundesinnenminister Genscher hat daraufhin die Innenminister der
149 Länder gebeten, die Schutzmaßnahmen für besonders gefährdete
150 Luftverkehrslinien zu verstärken. Bei einem Anschlag auf
151 eine DC-9 auf dem Genfer Flughafen Cointrin entgingen 49
152 Passagiere und sieben Besatzungsmitglieder nur knapp einer
153 Katastrophe. Das Flugzeug sollte am Mittag um 12.45 Uhr
154 nach Palma de Mallorca starten. Der Abflug wurde jedoch
155 verschoben, weil noch ein Passagier fehlte. Genau zwei Minuten
156 vor dem planmäßigen Start erhielten die Flughafenbehörden einen
157 anonymen Telefonanruf mit dem Hinweis, an Bord befinde sich eine
158 Bombe. Sämtliche Insassen der wartenden Maschine mußten sofort
159 von Bord gehen, während die Feuerwehr das Flugzeug umstellte.
160 Kurz darauf strömte Rauch aus dem Cockpit. Die Feuerwehrleute
161 konnten den Brandherd in dem unter der Pilotenkanzel liegenden
162 Gepäckraum schnell löschen. Nach polizeilichen Angaben konnte
163 nur deshalb eine Katastrophe vermieden werden, weil die Maschine
164 noch nicht gestartet war. Nach dem Passagier, der das 50.
165 Gepäckstück aufgegeben hatte, wird noch gefahndet. An dem
166 Flugzeug entstand erheblicher Sachschaden. Ob die drei
167 Anschläge in Zusammenhang mit einander stehen, ist noch nicht
168 geklärt. Bei dem Attentat auf dem Frankfurter Rhein-Main
169 -Flughafen war in einem Koffer auf einem Gepäckwagen ein
170 " Brandsatz " explodiert. Das Gepäck war für eine Maschine der
171 Iberia bestimmt, die um 13.20 Uhr nach Barcelona starten
172 sollte. Nach Angaben der Flughafenpressestelle stand der Koffer
173 sofort in Flammen. Die spanische Maschine konnte mit
174 einstündiger Verspätung starten. In die Ermittlungen haben sich
175 sofort die Frankfurter Staatsanwaltschaft und das
176 Landeskriminalamt in Wiesbaden eingeschaltet. Ein Anschlag auf
177 eine Iberia-Maschine ereignete sich auch auf dem Amsterdamer
178 Flughafen Schiphol. In dem für eine Maschine der Iberia
179 bestimmten Gepäck explodierte in der Abflughalle ein Koffer.
180 Der Flughafen-Feuerwehr gelang es, den Brand kurze Zeit
181 später zu löschen. Auch in diesem Fall kamen keine Menschen zu
182 Schaden. Die Polizei vermutet politische Gründe für den
183 Anschlag. Wahrscheinlich solle der Touristenverkehr mit Spanien
184 gestört werden, so hieß es. Jungdemokraten für Abwahl von
185 Mende. Herrenalb. Personelle Konsequenzen gegen die
186 FDP-Politiker Mende, Starke und Zoglmann fordern die
187 Deutschen Jungdemokraten vom bevorstehenden Bundesparteitag der
188 Freien Demokraten im Juni. Nach einer zweitätigen
189 Grundsatzdiskussion über ihren politischen Standort wählte die
190 Bundesdelegiertenkonferenz der Jungdemokraten gestern in Herrenalb
191 bei Karlsruhe den 29 jährigen Redakteur Heiner Bremer aus
192 Pinneberg (Schleswig-Holstein) zum neuen Vorsitzenden.
193 Ferner sprach sie sich in Resolutionen erneut für die Anerkennung
194 der DDR und der Oder-Neiße-Linie aus. Der neue
195 Vorsitzende erklärte, die FDP bleibe das politische Forum der
196 Jungdemokraten. Sie erwarteten allerdings, daß auf dem
197 Bundesparteitag der FDP " personelle Zeichen " gesetzt würden.
198 Mende, Starke und Zoglmann dürften nicht wieder in den
199 Bundesvorstand der Partei gewählt werden. Egon Bahr hofft
200 auf echte Verhandlungen. Frankfurt. Den Abschluß der
201 deutsch-sowjetischen Vorgespräche über einen Gewaltverzicht
202 erhofft sich der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Egon Bahr,
203 von seinen bevorstehenden neuen Unterredungen mit dem sowjetischen
204 Außenminister Gromyko. Vor seinem Abflug nach Moskau drückte
205 er gestern auf dem Frankfurter Flughafen ferner die Erwartung aus,
206 daß keine Verhärtung der Standpunkte eintreten werde. Bahr
207 sagte, Ziel der neuen Gesprächsrunde mit Gromyko sei es, die
208 Vorgespräche abzuschließen, " damit sich die beiden Regierungen
209 über die Aufnahme von Vertragsverhandlungen über einen
210 Gewaltverzicht entscheiden können ". Die Gesprächsrunde soll
211 Bahrs Angaben zufolge morgen in Moskau beginnen. Über die
212 Dauer der neuen Gesprächsrunde wollte Bahr keine Voraussage
213 machen. Es seien noch einige Komplexe zu behandeln, sagte er.
214 Sportschau. (Sigle) Der Bonner SC wartete gestern
215 nachmittag vor 4500 Zuschauern mit einer sehr guten Leistung auf
216 und besiegte den Spitzenreiter Arminia Bielefeld verdient mit 2:
217 0. Uwe Seeler war bester Spieler der deutschen
218 Nationalmannschaft, die in Berlin in einem Fußball-
219 Länderspiel Irland mit 2:1 (1:0) besiegte.
220 Jochen Rindt gewann mit seinem Lotus-Ford den Großen
221 Preis von Monaco vor Jack Brabham. Die Davis-Pokal
222 -Mannschaft der Bundesrepublik sicherte sich durch den
223 erwarteten 4:1-Sieg über Dänemark den Eintritt ins
224 Viertelfinale. (Sigle) Günter Nickel lief bei einem
225 Leichtathletik-Sportfest in Bad-Honnef die 100 m in
226 hervorragenden 10,2 Sekunden. Der Graben. Den
227 Vereinigten Staaten ist am Wochenende eine zweite Tragödie Kent
228 erspart geblieben. Entgegen vielfachen Befürchtungen verlief die
229 Demonstration vor dem Weißen Haus in Washington ohne
230 Blutvergießen. Die gemäßigten Organisatoren der
231 Protestbewegung haben sich noch einmal gegen die radikalen
232 Studentenführer durchsetzen können. Noch einmal. Präsident
233 Nixon hat endlich den Ernst der Lage erkannt und war am
234 Wochenende weiter emsig bemüht, Öl auf die bedrohlich
235 hochgehenden Wogen der Empörung und Verbitterung zu gießen.
236 Denselben Studenten, denen er noch vor wenigen Tagen ein
237 verächtliches " penner " entgegenschleuderte, bescheinigte er
238 jetzt, daß sie - wie er selbst - lediglich die Loslösung der
239 USA aus der unseligen Verquickung des Krieges in Indochina
240 erstreben. Späte Einsicht oder war hier " tricky Dicky " am
241 Werk, der trickreiche Präsident, der mit allen Mitteln versucht,
242 möglichst ohne Blessuren seine Hand aus dem Wespennest zu
243 ziehen, in das er mit so verblüffender Entschlossenheit
244 hineingetriffen hat? Erst die nächsten Monate werden zeigen, ob
245 Nixon die von ihm selbst ausgelöste erste große Krise seiner
246 Präsidentenzeit halbwegs ungeschoren überstehen wird. Noch nie
247 war er seinem im Wahlkampf verkündeten Ziel, die Riesennation zu
248 einer Einheit zusammenzuschweißen, weiter entfernt als heute.
249 Die beiden Amerikas sind mit voller Wucht zusammengeprallt, und
250 der aufgeworfene Graben geht klaftertief selbst durch die Parteien
251 und die Regierung. Nixon hat sich auf einen Mehr-Fronten-
252 Krieg im eigenen Land einzurichten und nicht nur der Ausgang des
253 kambodschanischen Abenteuers wird darüber entscheiden, ob er die
254 Kraftprobe an der Heimatfront gewinnt. Wahrscheinlich wird sich
255 der Präsident in nächster Zeit recht verlassen vorkommen, denn
256 sein stärkster Rückhalt, die vielzitierte und umschmeichelte
257 " schweigende Mehrheit ", wird wohl bis zur nächsten Wahl
258 schweigen. Eine weitere Entfremdung zwischen Regierung und der
259 Mehrheit des akademischen Nachwuchses birgt die Gefahr einer
260 nationalen Krise in sich. Die Regierung hat bisher in ihren
261 mannigfaltigen Auseinandersetzungen mit den unruhigen - nicht
262 zwangsläufig radikalen - Studenten eine wenig glückliche Hand
263 bewiesen. Vor allem der den Intellektuellen so verständnislos
264 gegenüberstehende Vizepräsident Agnew hat mit seinen zeitweise
265 verantwortungslos erscheinenden Reden jenes Klima der sich
266 verhärtenden Fronten schaffen helfen, in dem es geschehen konnte,
267 daß die Nationalgardisten in Ohio überschnell den Abzug
268 betätigten. Auf der anderen Seite sind die studentischen " Sieg
269 -Heil "-Rufe beim Anblick der bewaffneten Macht durchaus
270 geeignet, Überreaktionen zu provozieren. Wenn auch im
271 Augenblick die Unruhewelle auszulaufen scheint, so kann nicht
272 übersehen werden, daß der Prozeß der Radikalisierung und der
273 Hinwendung zur Gewalt weiter fortgeschritten ist. Die Reaktionen
274 auf Nixons fragwürdige Entscheidung vermittelt stürmische
275 Augenblicke für den kommenden Sommer, in dem die aufgestauten
276 Spannungen sich jederzeit explosionsartig entladen können.
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