Quelle Nummer 333
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.04 : BIOGRAPHISCHES
75 JAHRE MUENCHNER
EUGEN ROTH
DAS NEUE EUGEN ROTH BUCH
CARL HANSER VERLAG, MUENCHEN 1970
(KURZE AUTOBIOGRAPHIE), S. 361-
001 75 Jahre Münchner. Um die Jahrhundertwende, als
002 München leuchtete, erblickte ich, am 24.Januar 1895, in
003 dieser " Stadt des Volkes und der Jugend ", immerhin das Licht
004 einer hellen (und vermeintlich heilen) Welt. Daß es der einzige
005 Lichtblick war, will ich im Ernste nicht sagen, aber jeder
006 Mitmensch wird zugeben, daß sich diese heile Welt seitdem oft
007 genug bis zur Finsternis verdüstert hat, und daß auch das
008 Zwielicht der Gegenwart wenig Glanz mehr aufkommen lassen will.
009 Ich soll nun zu meinem 75.Geburtstag mein Leben in all den
010 Jahren beschreiben. Das ist nicht so einfach; denn das Dasein
011 oder vielmehr Dagewesensein als Greis zu überblicken, richtig
012 zusammenzusehen, ist uns wohl verwehrt, und das schöne Wort von
013 Hofmannsthal bleibt ewig gültig, daß jeder Mensch das Geheimnis
014 mit ins Grab nimmt, wie er eigentlich gelebt habe. Auch ich kann
015 mich nur wundern - an die tausend Möglichkeiten, wie es, zum
016 Glück oder Unglück, oft ums Haar anders hätte kommen können,
017 darf keiner denken. Im übrigen ist es schwer genug, allen
018 Gedächtnistäuschungen zu entgehen; und auch wenn einer fest zu
019 einem " schonungslosen Lebenslauf " entschlossen ist, ganz will
020 er sein Licht doch nicht unter den Scheffel stellen, den die
021 neidischen Zeitgenossen allzugern für ihn bereithalten. Gottlob!
022 Da sehe ich grade, wie ich die Feder ansetzen will, daß ich,
023 erst vor fünf Jahren, zu meinem Siebzigsten, mich der Aufgabe,
024 meinen Lebenslauf darzutun, bereits entledigt habe. Der Leser
025 - ich selbst hätte es schon fast vergessen - erinnert sich
026 vielleicht des kostenlos verteilten roten Werbeblättchens, darin
027 meine Tage und Taten feinsäuberlich aufgeschrieben sind. Für
028 die, die das Heftchen längst in den Papierkorb geworfen haben,
029 möchte ich das Wichtigste kurz wiederholen, neues ist ja in den
030 fünf Jahren nicht mehr dazu gekommen, außer daß ich älter und
031 unbeweglicher, die Welt aber moderner und bewegter geworden ist.
032 Dafür aber, weil ja zu sogenannten Jubliäen doch was gedruckt
033 werden muß, damit man nicht ganz vergessen wird, will ich
034 ausführlicher die fünfundsiebzigjährige Geschichte meiner
035 Heimatstadt München beschreiben, oder wenigstens die ersten
036 fünfzig Jahre bis 1945; denn das weitere wissen ja die meisten
037 Leser ohnehin: daß der Bauch dieser " Welststadt mit Herz "
038 immer größer geworden ist, daß an Stelle der Gemütlichkeit die
039 Dynamik getreten ist, daß es keine Dienstmänner mehr gibt, aber
040 auch keine " Dienstmädchen "; daß es schon fast als ein
041 Verbrechen gilt, in einem Einfamilienhaus, statt in
042 einem Hochhaus zu wohnen und daß es von München nach Pasing oder
043 Solln nicht mehr so weit ist, weil der " Burgfrieden " - was
044 für ein verschollenes, liebes Wort! - längst über diese
045 Grenze hinausgewuchert ist. Autobahn-Knäuel und
046 Elefantenherden von Hochhäusern sehen wir dort, wo die Schafe
047 auf einsamer Heide weideten. " Feldmoching " war noch ein
048 Spottwort unseres Großvaters. Also, wie versprochen, ganz kurz
049 vorweg mein Lebenslauf, wenn auch ein bißchen ausführlicher als
050 der " DDR-Meyer " (Kenner mögen bestaunen, wie
051 geschickt ich mich aus der leidigen Gänsefüßchen-Affäre
052 gezogen habe!): " bürgerlicher Schriftsteller, bekannt durch
053 besinnlich-humorvolle, politisch indifferente Gedichte ("
054 Ein Mensch " usw.) ". - Recht viel mehr steht übrigens
055 im Großen Brockhaus auch nicht. " Er lebte, nahm ein Weib und
056 starb " - wäre ja schon zu viel, denn gestorben bin ich noch
057 nicht. Lehrjahre in Ettal und München, im ersten Weltkrieg vor
058 Ypern schwer verwundet, Student (Strich, Wölfflin, Kutscher).
059 Jugendbewegter (" Werkschar "), 1922 Dr. phil.,
060 Dichter (1918 " Die Dinge, die unendlich uns umkreisen " -
061 solche Titelungeheuer waren damals noch im Schwang) in der Reihe
062 " Der Jüngste Tag ", im Kurt-Wolff-Verlag.
063 Nebenbei, vielmehr hauptsächlich Journalist, ab 1927
064 Schriftleiter des Lokalen (das dümmste - weil unbedankteste -,
065 was man werden kann!) bei den " Münchener Neusten
066 Nachrichten "; 1933 fristlose Entlassung, 1935 das große Los
067 gezogen: " Ein Mensch " (seither mein eigentlicher Name!).
068 1938 die Buchbindermeisterin Klothilde Philipp geheiratet, zwei
069 Söhne, Thomas (1944), jetzt Germanist, und Stefan (1948),
070 Jurist. 1945 die Wohnung (samt großen Teilen meiner
071 Sammlungen) in der Widenmayerstraße ausgebrannt. Stadtrat nur
072 für drei Wochen (nachträglich als Glücksfall zu werten).
073 Mühsame - und doch schöne - Jahre in Gern, im überfüllten
074 Haus der Schwiegereltern. 1957 das Haus in Nymphenburg bezogen.
075 1960 drei schwere Operationen hintereinander, aber noch einmal
076 davongekommen, 1965 Feier des 70.Geburtstags - Ende der
077 Nachrichten. Lexikalischer Nachtrag: Münchner Dichterpreis
078 1952 (1499 Mark, da grad in jenem Jahr die Stadt besonders
079 sparsam war und ich mir obendrein das Geld durch die Post zustellen
080 ließ; trotzdem beglückwünschten mich mehrere Leser zum
081 sorgenlosen Lebensabend), Bayr. Verdienstorden, Großes
082 Bundesverdienstkreuz, Plakette " München leuchtet ",
083 Mitglied der bayr. Akademie der Schönen Künste - also alles,
084 was geboten werden kann. Früher wäre ich noch Hofrat geworden.
085 Das alte München. Und nun, wie versprochen, ein paar
086 Blicke auf das alte München, wie ich es erlebt habe. Natürlich
087 gibt es noch ältere Münchner; wenn auch die ältesten, manch
088 berühmter Bekannter, schon gestorben sind, leben doch noch fast
089 hundertjährige, die sich an Ludwig 2.erinnern und meiner
090 spotten, weil ich auch schon mitreden will. Durchschnittliche
091 Lebensläufe, wie ja auch dieser einer werden soll, bewegen uns
092 doch eigentlich nur, wenn ihr Verfasser noch auf Erden weilt, der
093 Bogen also noch gespannt ist. Von Toten, die noch Tötere
094 schildern, erwarten wir Gewichtigeres. Der Reiz liegt darin,
095 als Lebendiger zu verschollenen Zeiten zu erzählen, von
096 Urgreisen etwa, die über ein Jahrhundert hinweig dem Kinde noch
097 die Hand gereicht haben. So ist, nur eines von vielen Beispielen,
098 mein ältester " Zeitgenosse ", ein Benediktinerpater von
099 Sankt Bonifaz, um 1810 geboren. Es gibt auch münchnerischere
100 Münchner als mich; schon ihre Vorfahren etwa haben in der
101 Löwengrube gewohnt, und ich habe es nur zum " Maxvorstadtler "
102 gebracht. Immerhin, ein Altbaier bin ich, ein Oberpfälzer und
103 Niederbaier; lang ist meine Ahnenreihe nicht, sie endet bald bei
104 Bauern in Saal und in Pfreimd. Nur meines Vaters Mutter, mit
105 leicht schwäbischem Einschlag, reicht erwiesenermaßen bis zu
106 Karl dem Großen zurück, über eine natürliche Tochter eines
107 Grafen von Styrum. Vor mir liegt eine Karte, die die Stadt in
108 meinem Geburtsjahr 1895 zeigt. Wer sie nicht mit leibhaftigen
109 Augen betrachtet, der glaubts nicht, wie klein München damals
110 war. Und doch wars genau so ein Gernegroß wie heute; es fraß
111 die dichtbesiedelten Vorstädte und, über meilenweite Felder
112 hinweg, die Dörfer, in dreißig Jahren wuchs die Stadt fast ums
113 Dreifache; gebaut wurde und gebaut, an allen Fenstern klebten
114 Streifen: " Zu vermieten! "; um vierzig Mark im Monat
115 bekam man eine moderne Dreizimmerwohnung, ein Bauplatz im
116 damaligen Vorortbereich kostete samt Hochwald dreißig Pfennig
117 für den Quadratfuß - freilich waren auch Gehälter und Löhne
118 (bei zwölfstündiger Arbeit!) gering. Wenn man gar an die
119 öffentlichen Gebäude denkt, die damals, rund um die
120 Jahrhundertwende, entstanden sind, dann ist unser heutiges
121 Olympia samt Untergrundbahn nicht aufwendiger, wenn auch a)
122 wegen des Verkehrs, b) wegen der Verkehrsstörung
123 einschneidender. Die St. Annakirche, die Paulskirche, die
124 Bennokirche, die Maximilienskirche, der Wittelsbacher Brunnen,
125 das Haus für Handel und Gewerbe (Börse), die Deutsche Bank,
126 Stuckvilla, Theresiengymnasium, Bahnpost, Armeemuseum,
127 Waisenhaus, Krankenhäuser, Friedhöfe, das Stadtarchiv, die
128 Hackerbrücke, das Künstlerhaus, das Hofbräuhaus, der
129 Nordfriedhof, die Kaimsäle, die Prinzregentenbrücke, der
130 Friedensengel, das Nationalmuseum, das Müllersche Volksbad,
131 der Justizpalast, das Prinzregententheater, das Rote Kreuz,
132 die Kaufhäuser - all das wurde in den paar Jahren um 1900
133 errichtet oder in Angriff genommen, und oft stand ich mit dem
134 grollenden Großvater an einer der Baustellen, und ich kann
135 versichern, daß keiner der heutigen alten Münchner ärger über
136 die jetzigen Zustände schimpfen kann als es die alten Münchner
137 über die narrisch gewordene Stadt getan haben. Dabei ist zu
138 bedenken, daß all die Bauten (einschließlich der
139 Privatunternehmen, die ganze Straßenzüge, zum Beispiel das
140 " steinerne Schwabing ", schufen) noch mit den herkömmlichen
141 Mitteln errichtet wurden, und daß es von Maurern, Zimmerleuten,
142 Mörtelweibern, Ziegelträgern und Brotzeitholern nur so
143 wimmelte. Trotzdem - noch standen die meisten der Adelspaläste
144 wie der Herbergen, viel Grün war überall; wo heute die
145 Technische Hochschule sich ausbreitet, sahen wir noch Neureuthers
146 schönen Bau und gingen, wenn wir die " andere Großmutter ",
147 nämlich die Mutter meines Vaters in der Gabelsbergerstraße
148 besuchten, an einem langen Bretterzaun entlang, dahinter Flieder
149 und Hollunder blühten. Der weite Weg nach Nymphenburg führte
150 an Getreidefeldern und Gärtnereien vorbei, Menzing oder gar der
151 Herzogpark waren eine unerforschte Wildnis, wo sich heute, in
152 Holzapfelskreuth, der Waldfriedhof dehnt, pflückten wir noch
153 lange Erdbeeren, und die jetzt so durchsiedelte Gegend um Allach
154 war ein Paradies mit Orchideen und Türkenbund, Segelfaltern und
155 Hirschkäfern, Fasanen und Eulen - zwei einsame Waldschenken
156 waren, bis zum ersten Krieg, die einzigen Häuser bis Karlsfeld,
157 wo sich der sagenhafte Millionenbauer sein Schlößchen ins
158 dunkle Dickicht stellte. Das Dachauer Moos aber gar war ein
159 Abenteuer, mit Hunderten von Kiebitzen, deren Eier wir suchten.
160 So weit und weiter kamen wir aber nur, wenn uns der Hausfreund
161 Doktor Billinger, ein unermüdlicher Wanderer, mitnahm. Der
162 Großvater Mauerer ging Sonntag für Sonntag mit uns zwei Buben
163 auf das noch unabsehbare Oberwiesenfeld, wo wir uns die
164 Hosentaschen mit den Hülsen der Platzpatronen füllten. Des
165 Bauens war kein Ende - 1899 das Neue Rathaus, Schulen und
166 Gymnasien, ab 1906 auch das Deutsche Museum - ein Höhepunkt
167 wurde wohl 1908 mit dem Ausstellungspark erreicht, der zugleich
168 zeigte, wie modern München geworden war, wie nobel, wie
169 zukunftsbewußt. Der Jugendstil feierte seine Triumphe; über
170 die neuen Hausgeräte und die Moden sind schon Bände geschrieben
171 worden. Gigerlanzug und Reformkleid, Humpelrock und
172 Wespentaille und vor allem die Rodlerinnen und Radlerinnen in
173 Pumphosen - wie viele Wandlungen hat auch der Münchner erlebt,
174 wenn er alt geworden ist. Noch sahen wir die Hochräder und die
175 Tandems, ja, die sechssitzigen Fahrräder mit Vereinsstandarte.
176 Vieles davon ist natürlich uns Buben um 1900 kaum bewußt geworden,
177 wenn ich auch früh, durch meinen stadtbekannten Vater, die
178 Ereignisse und Gestalten jener Zeit mit erlebte, so daß ich von
179 Pettenkofer, Herrmann Lingg oder Lenbach einen lebendigen
180 Begriff habe. Wir lebten in der Augustenstraße, wo sich das
181 " Glasscherbenviertel " mit den Ausläufern der vornehmen
182 Briennerstraße kreuzte, meist bei den Großeltern von der
183 Mutterseite in einer noch ganz und gar biedermeierlichen Welt
184 gingen später in die nahe Luisenschule, waren keine kontaktarmen
185 Kinder, denn aus allen Mietshäusern und Hinterhöfen quollen die
186 Buben und Mädeln; zwischen Mülltonnen, Teppichklopfstangen
187 und Lumpenballen spielten wir. Auch die Straßen waren noch
188 ungefährlich. Die Bierwagen, oft noch mit Ochsen bespannt,
189 fuhren langsam, die Droschken zottelten gemütlich, die Autos,
190 selten genug, rasten noch nicht (ein Unfall am Stiglmayerplatz
191 wurde dem rasenden Tempo von 12 Stundenkilometern zugeschrieben);
192 später schlich die Linie 2 der Elektrischen (ich kenne noch
193 die Pferdetrambahn und die Dampftrambahn!) so sanft
194 dahin, daß der Großvater abends seine drei Windhunde durch die
195 leeren Straßen neben der " Ringlinie " laufen lassen konnte;
196 der Schaffner stand stramm und legte die Hand an die Mütze, wenn
197 er sein Fünferl Trinkgeld bekam. Da fallen sie mir alle ein,
198 die unvergeßlichen, längst verschollenen Gestalten des alten
199 Münchens: der Dienstmann an der Ecke, geduldig wartend, das
200 Holzhacker-Ehepaar, die Trambahnritzen-Reinigungsdamen,
201 die Scherenschleifer, die Laternenanzünder, die Postillone,
202 trompetenblasend, die Milchmänner, die Eismänner (sowohl für
203 die Eiskästen als auch die fürs Eisschlecken), die
204 " Rumfahrer " mit Obst, die Krenweiberln in der fränkischen
205 Tracht, die Kartoffelbauern und Krautbauern, die
206 Hofsänger, die Stamm-Bettler, die " atonalen " Ausrufer
207 und Ausruferinnen aller Art (" Leut, gehts raus, aus'n Haus,
208 scheene, neue Erdäpfel (...) "), die Beerenfrauen (" Erdbeer,
209 Mehlbeer, Taubeer! " (...)), die Tonnenfrauen mit
210 Kratzeisen und Sack, die Schusterbuben und
211 Bäckerbuben; sogar die erst viel später erschienenen " Roten
212 Radler ", ein Triumph der Neuzeit, sind schon wieder
213 verschwunden. Nur die braven Postboten gibts noch, die
214 Tonnenmänner (freilich nicht mehr mit den zweirädrigen
215 Pferdekarren) und, welch ein Wunder!, die Zeitungsfrauen,
216 die uns, oft schon um vier Uhr früh, unser Leibblatt in den
217 Postschlitz stecken. Daß die herrlichen Hartschiere, die bunten
218 Offiziere und Soldaten im Stadtbild fehlen, sei auch nicht
219 vergessen. Die Kasernen waren ja fast alle im nächsten Umgriff.
220 Noch kenne ich die Finsternis der Straßen, die Bogenlampen in
221 besseren Gegenden gabs erst später, uns Buben zur Gaudi, wenn
222 die Männer kamen, die Lampen von ihrer luftigen Höhe
223 herunterzulassen - oft zischte es gewaltig, blendendes Licht
224 blitzte auf. Die Petroleumlampen, die heute für teures Geld in
225 den Altertumsläden verkauft werden, haben unsere Eltern auf den
226 Speicher gestellt; das Gas, als offene Flamme oder die
227 gefährlichen Spirituslampen mit dem empfindlichen Auer
228 Glühstrumpf, waren eine große Errungenschaft. Ich habe alles
229 viel genauer in meinem Buch: " München, so wie es war "
230 beschrieben, da sind auch viele rare Bilder drin, die mehr als
231 Worte aussagen können. Die gewaltige Lichtverschwendung ist
232 vielleicht die größte Wandlung des Stadtbildes, beispielhaft
233 auch auf der " Wiesn ", dem Oktoberfest, das plötzlich
234 elektrifiziert wurde. Unvergeßlich die erste, märchenhafte
235 Glitzerfront der orgelbrausenden " Biographen " - daß wir auf
236 der " Wiesn " auch noch bei der " Völkerschau " die " Wilden "
237 bestaunen konnten, deren Enkel heute als Staatsbesucher kommen,
238 sei am Rande bemerkt. Von 1904 an gingen wir, mein älterer
239 Bruder und ich, in das weit entfernte Theresiengymnasium, durch
240 den Poststall (verbotenerweise!) an der Dachauer Straße, am
241 Maffei-Anger vorbei, auf dem bald das riesige
242 Verkehrsministerium stehen sollte, durch die eben erst
243 fertiggestellte Unterführung oder über den Bahnhof (alten Stils)
244 und die Goethestraße oder Schillerstraße, die auch
245 damals schon häßlich, aber wenigstens nicht gefährlich waren.
246 Der Bavariaring, er ist es längst nicht mehr, war als Viertel
247 der Kommerzienräte gerade im Ausbau. Im Winter wurde dort das
248 " Schillereis " aufgespritzt, einmal hatten mein Bruder und ich
249 gegen Hingabe eines Zehnerls uns die Schlittschuhe so fest
250 anschrauben lassen, daß wir sie nicht mehr herunterbrachten und auf
251 eisernen Hufen heimtraben mußten. Das nur eins von hundert
252 Erlebnissen, die ich erzählen könnte. Damals wie heute lebten
253 ein altes und ein neues München mehr oder minder friedlich
254 nebeneinander (wie in den Bierhallen oder im Hirschgarten immer
255 noch!), freilich vollzog sich der Wandel, besonders auch der
256 Zuzug von Fremden, langsamer als jetzt, wo es ganze Stadtviertel
257 gibt, aus denen kein bayrisches Wort mehr zu hören ist. Das
258 kleine München hatte noch keinen " Untergrund ". Der
259 " Raubmörder " Kneißl war Gesprächsstoff für ein Jahr, die
260 großen Ereignisse, die China-Expedition, den Burenkrieg,
261 den russisch-japanischen Krieg lasen wir heimlich in der
262 scheußlich bebilderten " Neuen freien Volkszeitung ", beim
263 Untergang der " Titanic " und bei den Balkankriegen waren wir ja
264 schon erwachsen. Der Einfluß der Technik wird, so meine ich,
265 doch überschätzt. Die echten Münchner vor dem ersten Weltkrieg
266 änderten ihre Gewohnheiten nicht ohne weiteres mit dem elektrischen
267 Licht, den ersten Autos und den bald weitverzweigten Trambahnen,
268 an vielem nahmen sie einfach nicht teil; leben doch auch heute,
269 trotz Fernsehantenne auf dem Dach, viele Münchner in der Etappe
270 " und nicht an der Front des 20.Jahrhunderts. "
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