Quelle Nummer 332
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.13 : MAERCHEN
DIE PRINZESSIN IN DER KUTSCHE
PAUL WEITERSHAGEN
RHEINISCHE MAERCHEN
NEU ERZAEHLT VON PAUL WEITERSHAGEN
GREVEN VERLAG KOELN 1970, S. 142-
001 Die Prinzessin in der Kutsche. Im Hunsrück lebte
002 einmal ein Bursche, dem waren die Geister zugetan. Sie
003 versprachen ihm, sie wollten ihn in die versteckten Gewölbe einer
004 Burg hinabbringen, die einst die mächtigste des Landes gewesen,
005 nun aber gänzlich zerfallen war. Sie hatten ihm zugesagt, es
006 werde ihm nichts geschehen. Der Bursche stimmte zu und wurde wie
007 durch unsichtbare Hände vor die Gewölbe geführt. Ein
008 unirdisches Licht wies ihm den Weg ins Innere. Hier sah er
009 Fässer, die lagen in ihrer eigenen Haut. Die Dauben und
010 Reifen waren vor Alter verfault und abgesprungen. Als er durch
011 einen engen Gang weiterkroch, stand am Eingang zu einem großen
012 Gewölbe eine schöne Kutsche mit goldener Deichsel. In der
013 Kutsche saß eine Prinzessin. Wie sich die Leute in der Gegend
014 erzählten, sollte sie die schönste aller Prinzessinnen auf Erden
015 sein; aber sie sei in einen bösen Zauber verstrickt und müsse
016 schlafen, bis einer komme und sie aus der Verzauberung löse. Der
017 Bursche hatte sich vorgenommen, sie zu erlösen. Aber jetzt
018 entdeckte er, daß vor dem engen Gang ein großer Mühlstein an
019 einem seidenen Faden hing. Daneben stand ein greulicher Riese,
020 der schien bereit, den Faden zu durchschneiden, wenn einer unter
021 dem Mühlstein her wollte. Da fuhr dem Burschen so der Schreck
022 in die Glieder, er kroch zurück und wollte nichts mehr von den
023 Schätzen wissen, die er erwartet hatte. Für nichts in der Welt
024 wäre er nochmals in die Gewölbe gestiegen, auch dann nicht, wenn
025 ihn die Prinzessin mit der Kutsche dorthin abgeholt hätte.
026 Jan. Es ging schon auf zwölf in der Nacht, da saß ein Bauer
027 noch am Wirtstisch und konnte kein Ende finden. Schließlich
028 sagte der Wirt: " Nun wird " s aber Zeit, sonst könnt
029 " Euch der Jan noch begegnen ". " Laß den mal kommen, den
030 fürcht' ich nicht! " erwiderte der Bauer, bezahlte und ging.
031 Die Nacht war hellhörig und klar. Von weither schlug eine
032 Kirchenuhr zwölf. " Wahrhaftig, jetzt könnt " ich dem Lump
033 begegnen ", brummte der Bauer und mußte daran denken, was die
034 Leute von Jan erzählten: Der Jan hatte einmal als Bauer
035 gelebt. Wenn er ackerte, pflügte er seinen Nachbarn jedesmal
036 eine Furche mit ab. Verwahrte sich einer dagegen, so ließ er ihn
037 nicht zu Ende reden, sondern fluchte, schimpfte und drohte.
038 Jeder hatte dann Angst, den Lump bei Gericht zu verklagen. So
039 ging das hin, bis Jan zum Sterben und in die Erde kam. Aber
040 Nacht für Nacht stieg er aus seinem Grab, um seiner alten
041 Gewohnheit nachzugehen. Der Bauer war ihm zwar noch nie begegnet
042 und wußte daher nicht recht, ob nicht auch er Angst vor ihm hatte.
043 In seinem Schnapsmut allerdings versicherte er sich immer wieder: "
044 Vor dem hab' ich keine Angst! Vor dem hab' ich keine
045 Angst! " So kam er endlich in die berüchtigte Gegend. Er
046 guckte nach rechts und links in die Felder, er spitzte die Ohren,
047 blieb schließlich stehen und horchte. Da meinte er auf einmal, er
048 höre jemanden ächzen und stöhnen, und es käme einer stracks auf
049 ihn zu. Und dann wurden ihm plötzlich die Augen starr; sah er
050 doch eine Nebelgestalt, die schleifte einen schweren Pflug über
051 den Acker her, ein altes eisernes Ding, wie selbst der ärmste
052 Bauer in der Gegend keines mehr hatte. Der Bauer verspürte nun
053 wirklich nicht die geringste Angst. Er näherte sich der Gestalt
054 und fragte: " Wer seid Ihr und was tut Ihr hier? " Sie
055 antwortete: Ich bin Jan und muß jede Nacht aus dem Grab, um
056 für meine Übeltaten zu büßen. " " Wie lange müßt Ihr denn
057 noch büßen? " wollte der Bauer wissen. " Bis einer kommt,
058 der mir vergibt! " Das letzte Wort wurde vom Schlag einer
059 Kirchenuhr übertönt, die eben die erste Stunde ankündigte. Da
060 zerfloß die Nebelgestalt. Der Bauer stapfte seinem Hofe zu und
061 stammelte in halber Trunkenheit: Ich hätte ihm längst vergeben,
062 Herrgott "! Seitdem wurde die Nebelgestalt nie mehr gesehen.
063 Wohl erzählte einer, er habe wenige Nächte später eine weiße
064 Frau gesehen, die sei mit einem silbernen Pflug über die
065 gestohlenen Furchen gezogen und habe sie wieder zurückgepflügt.
066 Der Pestfänger. Zu der Zeit, da die Pest noch umging,
067 wutschte Tage und Nächte vorher ein blaues Flämmchen dort, wo
068 sie einkehren wollte. Es hüpfte hier, es hüpfte dort, es tanzte
069 auf Häusern, Scheunen und Ställen, oder es geisterte am
070 Hoftor, am Giebel und vor den Fenstern herum. So war es auch
071 einmal in einem Eifeldorf. Die Leute wagten sich kaum noch vor
072 die Tür und lebten in Angst und Schrecken. Nur ein alter Mann
073 war ohne Furcht. Er hatte so viele Jahre auf seinem krummen
074 Rücken, daß er um eines mehr oder weniger nicht bangte. Er
075 machte sich auf, das unheimliche Flämmchen einzufangen. " Hab'
076 ich das Licht ", sagte er, " dann wird der Schwarze Tod nicht
077 mehr wissen, wohin er will. Und mir, was soll mir schon noch viel
078 geschehen, wenn er mich erwischt! " Der Abend dämmerte. Die
079 Dorfgassen waren wie ausgestorben. Der Alte stand an einer Ecke
080 und ließ die Augen gehen. Plötzlich sprang das Totenlicht in
081 seiner Nähe von einem Dach, schwang sich wie eine große
082 leuchtende Spinne von Haus zu Haus, kroch die Mauern und Firste
083 entlang und flammte zuweilen grell auf, als wollte es den Stein
084 durchdringen. Der Alte folgte ihm langsam, bis es am Tor des
085 letzten Hofes in ein Mauerloch schlüpfte. Da rannte er hinzu,
086 ergriff einen Klumpen Lehm und stieß ihn in das Mauerloch,
087 drückte noch einen Stein hinein und wartete. Nichts rührte sich.
088 Sieben Jahre lang rührte sich nichts, und der Schwarze Tod
089 war schon beinahe vergessen, da plagte den Alten eines Tages der
090 Vorwitz. Er brach den Stein aus dem Mauerloch, kratzte
091 vorsichtig den Lehm heraus und da - da sprang mit einemal das
092 blaue Flämmchen ins Freie. Tag und Nacht war der Alte hinter
093 ihm her, es wieder einzufangen. Endlich hüpfte es über die
094 Äcker auf eine Stelle zu, wo ein Kreuz am Wege stand. Daran
095 kreiste es um und um, bis es der Alte packte und an das Marterholz
096 nageln konnte. Von dieser Stunde an war die Pest für immer aus
097 der Gegend vertrieben. Der Zauberer mit dem Hahn. Es ist
098 schon lange her, da zeigte ein Gaukler auf Jahrmärkten einen
099 Hahn, der konnte mit seinem Schnabel dicke Balken von der Stelle
100 bewegen. Wieder einmal machte er seinen Zuschauern so etwas vor,
101 da kam gerade eine Magd vorüber, die trug eine Bürde Futter mit
102 einem vierblättrigen Kleeblatt darin auf dem Kopf.
103 Vierblättrige Kleeblätter aber zerstörten jeglichen Zauber und
104 zeigten alle Dinge, wie sie wirklich waren. So erschien es der
105 Magd denn unbegreiflich, warum sich die Leute verwunderten;
106 hatte der Hahn doch nur einen Strohhalm im Schnabel. Sie lachte
107 und rief: " Warum sperrt ihr die Nasen und Mäuler auf! Seht
108 ihr denn nicht, daß der Hahn nur einen Strohhalm im Schnabel
109 trägt! " Die Worte waren ihr kaum aus dem Mund, da war der
110 Zauber verflogen, und der Gaukler heimste statt des erhofften
111 Lohnes nur Spott und Gelächter ein. Er sperrte den Hahn in
112 eine Kiepe und zog davon, um seinen Ärger im Wirtshaus
113 hinabzuspülen. Einige Zeit später kam er an einem blühenden
114 Flachsfeld vorüber. Sah er die Magd, die seinen Zauber
115 zerstört hatte, dort durch das Flachsgeblüh schreiten. Wie der
116 Zauberer da spitzbübisch lachte! Er ließ seine Künste spielen,
117 und es dauerte nicht lange, da sah sich die Magd von Wasser
118 umgeben. Höher und höher stieg es mit jedem Schritt, den sie
119 tat, und in demselben Maß, wie es stieg, hob sie die Höcke,
120 bis sie zuletzt in blanken Hosen dastand und schrie, als ob sie
121 ertrinken müßte. Hinter dem Flachsfeld lag ein Kleeacker, in
122 dem ein paar Burschen mähten. Sie hörten das Schreien, sahen
123 die Magd in Hosen dastehen und wollten lachend hinüber, um das
124 Spiel aus der Nähe zu beäugen. Mitdem aber war der Zauber zu
125 Ende. Die Magd fand sich wieder im Flachsgeblüh, hörte das
126 Lachen, ließ ihre Röcke fallen und sah jetzt erst am Weg den
127 Zauberer stehen. Der rief ihr zu: " Das war für den
128 Hahnenbalken! " Dann winkte er und zog davon. Doch drehte er
129 sich noch mehrmals um und lachte, daß es laut über die Felder
130 hinschallte. Das gezauberte Heer. In einer Mühle
131 arbeitete einmal ein Geselle, von dem hieß es, er verstehe etwas
132 von der Schwarzen Kunst. Deshalb gingen ihm die Bauern aus der
133 Gegend weit aus dem Weg. Mit so einem wollten sie nichts zu tun
134 haben. Den Müller dagegen bekümmerte das nicht. Der Bursche
135 war fleißig und willig, dazu groß und stark, und das war wichtig
136 in einer Zeit, wo sich überall lichtscheues Gesindel herumtrieb
137 im Land. Eines Morgens waren nur die Tochter des Müllers und
138 eine Magd im Haus; der Müller war unterwegs, der Geselle ging
139 seiner Arbeit nach. Mit einemmal stürzte die Magd zu ihm in die
140 Mühle und stotterte: " Ein Schwede ist in der Küche und
141 läßt sich bewirten! Wir haben Angst! Behalt die Stube im
142 Auge! " Dann war sie wieder zur Tür hinaus. Der Geselle
143 stellte den Mahlgang ab, machte sich draußen zu schaffen und warf
144 ab und zu einen Blick durch das Fenster. Saß da der schwedische
145 Landsknecht, stopfte sich den Bauch voll und goß sich eine Kanne
146 Wein durch die Kehle. Der Müllerbursche wäre am liebsten
147 hinein in die Stube, um den Kerl mit seinen Fäusten
148 hinauszuprügeln. " Aber besser ist, er verschwindet von selber
149 ", sagte er sich; denn er wußte, wie das ausging, wenn ihm
150 einer unter die Fäuste geriet. Plötzlich ein Kreischen und
151 Schreien. Mit wenigen Sätzen war er zur Tür hinein und sah,
152 wie der Landsknecht versuchte, die Magd um die Hüfte zu fassen.
153 Schon hatte er ihn in den Fäusten, trug in hinaus auf die
154 Häkselbank und schnitt ihm mit deren Messer die Haare. " So
155 ", sagte er endlich, " nun weißt du, wie ich mit dir verfahre,
156 wenn du dich hier noch einmal sehen läßt! " Dann gab er ihn
157 frei, versetzte ihm einen Fußtritt und schrie: " Scher dich
158 davon und sag es auch deinen Kumpanen! " Der Schwede lief, wie
159 er nur laufen konnte, wandte sich aber, ehe er hinter einem Busch
160 verschwand, noch einmal um und drohte mit seinen Fäusten. Kaum
161 war eine Stunde vergangen, da rannte aus dem nächsten Ort ein
162 Junge herbei und rief: " Die Schweden kommen! " Die Frauen
163 stürzten davon in den Wald. Der Müllerbursche dagegen ging
164 ruhig zur Scheune, holte einige Bund Stroh und schichtete sie
165 neben der Häkselbank auf. Dann schob er einen Bund unter die
166 Messer, murmelte ein paar seltsame Worte und drehte zugleich das
167 Rad. Sprangen da statt Häckerlinge Soldaten, Soldaten,
168 Soldaten von der Häckselbank, und alle waren bewaffnet und
169 ausgerüstet. Der Müllerbursche schnitt und schnitt, bis er ein
170 großes Heer, Fußvolk und Reiter, gezaubert hatte. Das zog
171 nun unter Trommelgewirbel gegen die Schweden. Kaum gewahrten sie
172 das gewaltige Heer, da nahmen sie Reißaus, waren bald nicht mehr
173 zu sehen und blieben auch künftig der Gegend fern. Seitdem gingen
174 die Bauern dem Müllerburschen nicht mehr aus dem Weg. Waren sie
175 anfangs zwar noch scheu, wenn er ihnen begegnete, so grüßten sie
176 jetzt doch freundlich und sprachen auch mal ein Wort mit ihm.
177 Der Zentnerstecken. Ein König hatte einen Sohn, der wuchs
178 so sehr und war so stark, daß er zum Spielen keinen rechten
179 Stecken mehr fand. Da gab ihm der König einen, der über einen
180 Zentner wog. Aus dem Jungen wurde ein Jüngling, und als er
181 eines Tages hörte, sein Vater habe einen Bruder, der mit seinen
182 zwei Kindern verzaubert sei, sagte er zu ihm: " Laß mich
183 ziehen, um sie zu suchen! " " Ja, suche sie ", sagte der
184 Vater, " sie sind in einem verwunschenen Wald. " Der
185 Königssohn nahm seinen Stecken und machte sich auf. Er kam in
186 einen großen Wald. Da lief ihm ein greuliches Untier entgegen,
187 das sperrte den Rachen auf und wollte ihn verschlingen. Drei
188 Streiche mit dem Zentnerstecken, und es lag erschlagen. Nun kam
189 ein gewaltiger Vogel dahergeflogen, der ließ ein Ei niederfallen.
190 Es zerbrach und gab einen goldenen Schlüssel frei. Der
191 Königssohn hob ihn auf und wanderte weiter. Gegen Mittag tauchte
192 eine Burg vor ihm auf und aus einer Höhle des Burgberges schritt
193 ein Zwerg auf ihn zu, der fragte: " Wohin willst du, mein
194 Sohn? " " Ich will in die Burg und den Bruder meines Vaters
195 mit seinen Söhnen erlösen. " " Das wird dir wohl kaum gelingen
196 ", sagte der Zwerg. " In drei Stunden fliegt ein gewaltiger
197 Drache an. Wenn er dich wittert, bist du verloren! " " Ich
198 hab' keine Angst, er soll nur kommen! " " Du wirst aber das
199 Burgtor nicht öffnen können! " " Das wird sich finden ",
200 erwiderte der Prinz. " Nun gut ", sagte der Zwerg, "
201 versuche dein Glück! Wenn du hineinkommst, klopfe an jede Tür!
202 Antwortet einer, dann hast den Bruder deines Vaters gefunden.
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