Quelle Nummer 331

Rubrik 02 : RELIGION   Unterrubrik 02.23 : SYSTEMATISCHE

THEOLOGISCHES INTERVIEW UEBER ETHIK
F. BOECKLE/I. HERMANN
DAS THEOLOGISCHE INTERVIEW
FRANZ BOECKLE ANTWORTET INGO HERMANN
DIE PROBE AUFS HUMANE
UEBER DIE NORMEN SITTLICHEN VERHALTENS
PATMOS VERLAG DUESSELDORF 1970, S. 30-


001  Unauflösbare Verantwortung. Böckle: In
002  dieser Form stoßen Sie damit das Problem von einer anderen Seite
003  an. Die herkömmliche und heute noch weithin geltende katholische
004  Interpretation deutet das Wort Jesu in dem Sinne: " Was Gott
005  verbunden hat, kann der Mensch nicht trennen " und nicht
006  " was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen ".
007  Hinter dieser Vorstellung steht die Überzeugung, daß die
008  Eheschließung eine Realität schafft, die auch dann noch besteht,
009  wenn sie als eheliche Lebensgemeinschaft radikal zerstört ist und
010  beide Partner schon seit vielen Jahren wieder in einer neuen, nach
011  staatlichem Recht gültigen Ehegemeinschaft leben. Dieser
012  Auffassung gemäß besteht die erste Ehe weiter, weil der Mensch
013  sie, obwohl er sie zerstört hat, nicht auslöschen kann. Da
014  erhebt sich allerdings die Frage: Was ist das für eine
015  Realität? Eine Frage, auf die nicht leicht zu antworten ist!
016  Gewiß besteht diese Realität nicht in einem fast verdinglicht zu
017  denkenden Eheband, das unabhängig von den Personen bestehen
018  würde. Aber ist es vielleicht doch eine Realität in dem Sinne,
019  daß zwischen den getrennten Menschen aus der Tatsache ihrer einmal
020  gelebten Verbindung ein Verantwortungselement bestehen bleibt?
021  Ich glaube nicht, daß man eine solche Verantwortlichkeit leugnen
022  kann. Aber ist diese Verantwortlichkeit füreinander so, daß sie
023  die Möglichkeit einer neuen Gemeinschaft zwingend ausschließt?
024  Hermann: Eben, wenn Sie sozusagen die Regel von der
025  Unauflöslichkeit der Ehe immer wieder aus dem legalistischen
026  Käfig herausnehmen und in den Rahmen einer humanen Ethik
027  übertragen, dann kommt Verantwortung dabei heraus. Nur ist
028  gerade das Merkwürdige, daß in Ländern, in denen die
029  Moralauffassung der katholischen Kirche gar keine Rolle mehr
030  spielt, zum Beispiel in Schweden, das Moment der humanen
031  Verantwortung viel stärker in Rechtsnormen übertragen worden ist
032  als in Ländern mit katholischer Tradition. Böckle:
033  Die Schwierigkeiten werden heute gesehen und auch diskutiert. Die
034  Hauptschwierigkeit liegt dabei zweifellos in der Tatsache, daß in
035  begrenztem Umfang auch die katholische Kirche gültige Ehen
036  auflöst und den Partnern die Wiederverheiratung gestattet. Die
037  dafür geltenden Abgrenzungen und Gesetze sind im Laufe der
038  Rechtsgeschichte nicht unerheblich verändert worden. Heute liegt
039  die Grenze der Unauflöslichkeit bei jenen Ehen, die von zwei
040  Getauften kirchenrechtlich gültig geschlossen und nach der Taufe
041  beider Partner auch geschlechtlich vollzogen wurden. Man fragt
042  sich nun verständlicherweise immer wieder, worin denn der
043  eigentliche Grund einer gesetzlich dermaßen eingegrenzten
044  Unauflöslichkeit liege. Man kann den Grund einerseits nicht in
045  der bloßen Sakramentalität sehen, denn die Kirche löst ja auch
046  sakramentale Ehen auf, wenn sie nicht vollzogen sind. Und es ist
047  andererseits auch nicht der Vollzug, also die
048  Geschlechtsgemeinschaft, die die Unauflöslichkeit begründet,
049  denn die Kirche löst ja auch vollzogene Ehen auf, wenn nicht
050  beide Partner getauft sind. Der eigentliche Grund kann also weder
051  in der Sakramentalität allein noch im Vollzug allein liegen. Es
052  sei denn, man würde die Sakramentalität eben nur da als voll
053  gegeben betrachten, wo die Ehe auch leiblich vollzogen wurde. Dem
054  steht aber von anderer Seite her eine Schwierigkeit entgegen, denn
055  man hat stets die Ehe Marias mit Josef als vollgültige Ehe
056  angesehen, und es war nicht zuletzt diese Auffassung, die zu der
057  kirchlichen Entscheidung geführt hat, der Vollzug der Ehe
058  gehöre nicht zum Wesen der Sakramentalität. Von der
059  traditionellen Sicht der katholischen Theologie her muß man
060  tatsächlich sagen, der Grund der Unauflöslichkeit liege weder in
061  der Sakramentalität noch im Vollzug je für sich allein. Liegt
062  er denn in der Kombination beider Gründe, die beide in sich
063  selbst nicht stichhaltig genug sind? Vielleicht könnte eine
064  vertiefte Sicht des ehelichen Vollzugs selbst weiterführen.
065  Ernst Michel und Theodor Bovet haben solche Gedanken entwickelt.
066  Auf der Rechtsebene sucht man aber den letzten Grund für das
067  Wiederverheiratungsverbot meistens im Hinweis auf das Gemeinwohl.
068  Man sagt, das Gemeinwohl der Kirche verlange hier eine klare und
069  kompromißlose Regelung. Wenn aber für bestimmte Ehen die
070  Unauflöslichkeit absolut gelten soll, dann mindestens für die
071  beiderseits sakramentale und vollzogene Ehe. Verantwortung
072  oder legalistische Spitzfindigkeit?. Hermann: Das
073  würde heißen, daß die Frage nach Ehe und Unauflöslichkeit der
074  Ehe und nach dem Sinn menschlicher Partnerschaft und nach der
075  Verantwortung ganz neu und originär durchreflektiert werden muß,
076  ohne Konventionen zu tabuisieren. Böckle: Dabei darf
077  die anfordernde und herausfordernde Botschaft Jesu auf keinen Fall
078  verkürzt werden. Ich sage das mit allem Nachdruck und allem
079  Ernst. Es gibt genug Leute, die glauben, jedes In-Frage
080  -stellen der traditionellen Anschauungen und Gesetze bedeute
081  bereits eine Aufweichung der Forderungen. Es kann und darf nicht
082  um eine Aufweichung der Forderungen des Evangeliums gehen. Im
083  Gegenteil, eine unverkürzte Verkündigung in der Lehre wie in
084  der Praxis tut uns not. Und man wird wirklich nicht behaupten
085  können, unsere Praxis aufgrund des geltenden Rechts sei ein
086  unverkürztes Zeugnis für Jesu Lehre und Forderung an die Ehe.
087  Das muß man doch zunächst einmal selbstkritisch und ehrlich sehen.
088  Wenn irgendwo in unserem Bekanntenkreis eine Ehe gescheitert ist
089  oder wenn wir in der Seelsorge wiederverheirateten Geschiedenen
090  begegnen, so geht doch unser ganzes Bemühen darauf,
091  Rechtsgründe zu finden, um ihnen eine kirchliche
092  Wiederverheiratung zu ermöglichen. Und wir atmen auf, wenn wir
093  entdecken, daß vielleicht der frühere Partner nicht gültig
094  getauft oder die erste Ehe nicht in der vorgeschriebenen Form
095  geschlossen war. Dann ist ja alles gut! Und wenn wir keine
096  solchen Gründe finden? Ja, dann ist es eben schlecht! So ist
097  es doch in der alltäglichen Praxis. Kein Mensch wird aber sagen
098  wollen, damit sei alles, was vorher vorgefallen war, moralisch in
099  Ordnung. Nicht selten wird man sagen müssen, die können jetzt
100  zwar heiraten, aber eigentlich dürften sie nicht. Wir stoßen
101  hier unweigerlich auf das Problem von Legalität und Moralität.
102  Und mir scheint die große Schwierigkeit die zu sein, daß wir
103  einerseits, wie ich dies ja auch gezeigt habe, auf eine rechtliche
104  Ordnung angewiesen sind, daß aber andererseits keine rechtliche
105  Ordnung die herausfordernde Botschaft adäquat zu fassen vermag.
106  Jesu Forderung ist radikal und kompromißlos, aber - und das
107  darf man keinen Augenblick außer acht lassen - die Forderung
108  richtet sich an Glaubende. Wer glaubt, das heißt, wer lebendig
109  überzeugt ist, daß Gott durch Jesus die Menschen zur
110  gegenseitigen verstehenden und verzeihenden Liebe ruft, der kann
111  seinem Partner nicht den Scheidebrief zustellen. Und dem
112  entsprechenden Glaubensgehorsam ist Heil, Erfolg, Frieden
113  verheißen. Diese Forderung lehrt gegen jede Hoffnung hoffen.
114  Wie aber soll man diese Verheißung, diese Glaubensanforderung
115  gesetzlich regeln? Hier liegt doch das Problem. Nicht ein paar
116  moderne Theologieprofessoren versuchen, die Botschaft Jesu zu
117  entmächtigen, die Gefahr liegt im System! Ein bedingungsloses
118  und ausnahmsloses Gesetz, das den radikalen Ruf Jesu ganz
119  konsequent auf die Rechtsebene überträgt, muß zwangsläufig zu
120  unmenschlichen Härten führen. Ganz zu schweigen vom Versuch,
121  diese Forderung auch im zivilen Recht durchzusetzen. Jede
122  gesetzliche Ausnahmeregelung dagegen hebt aber ungewollt die
123  Radikalforderung legalistisch auf. Die Gefahren muß man sehen,
124  um zu erkennen, daß es wohl nie eine vollbefriedigende Lösung
125  geben wird. Was ich darum immer wieder betone, zielt nicht auf die
126  Abschaffung einer rechtlichen Ordnung; wir brauchen sie als
127  Vehikel. Aber wir dürfen die Schale nicht mit dem Inhalt
128  verwechseln. Das Gesetz, die geschichtlich gewachsene
129  Rechtsordnung ist ein Gehäuse, das eine anfordernde Verheißung
130  bergen und bewahren soll. Man darf dieses Gehäuse nicht
131  verabsolutieren, das tut man aber, wenn man es in seiner konkreten
132  Gestalt zu einem göttlichen Gesetz, das heißt zum satzhaften
133  Ausdruck des göttlichen Willens erklärt. Ein katholischer
134  und ein evangelischer Weg?. Hermann: Sie zeigen
135  zwei Gefahren auf, die mit jedem Versuch, die biblische
136  Botschaft in eine allgemein verbindliche Regelung einzuschließen,
137  gegeben sind: Die Gefahren des gesetzlichen Weges, der vor
138  allem in der katholischen Tradition ausgebaut wurde. Hat nicht die
139  evangelische Tradition in Anbetracht dieser Gefahren von Anfang
140  an mehr an die Gewissensverantwortung appelliert? Böckle:
141  Das ist richtig; aber es wäre wohl unsachlich, nicht auch
142  die Gefahren des anderen Weges zu sehen. Zunächst ist zu sagen,
143  daß auch die evangelische Kirche recht detaillierte
144  Lebensordnungen kennt, in denen die Trauung Geschiedener geregelt
145  wird. Diese Regelungen sind aber so gehalten, daß immer
146  Ausnahmen möglich sind und das Urteil darüber weitgehend dem
147  seelsorglichen Gespräch des Pfarrers überlassen bleibt. Diese
148  Elastizität, dieses Eingehen auf die individuelle
149  Glaubenssituation läßt nun aber doch in einer unkritischen
150  Öffentlichkeit den Eindruck entstehen: hier werde die Forderung
151  Jesu nicht mehr hart und ernst genommen. Woher kommt es, daß man
152  in einer sehr undifferenzierten Volksmeinung immer wieder auf das
153  generalisierende Urteil stößt: Die Evangelischen dürfen
154  scheiden, die Katholischen eben nicht. Natürlich ist das eine
155  völlige Verzeichnung der Realität. Die Evangelischen dürfen
156  so wenig scheiden wie die Katholiken. Aber woher kommen solche
157  klassifizierenden Urteile? Doch von der je verschiedenen Praxis!
158  Jeder der beiden Wege hat seine spezifische Gefahr. Der
159  katholische Weg muß in den subtilen Dispensverfahren und
160  Annullierungsprozessen mit allen Schwierigkeiten des Legalismus
161  rechnen. Der evangelische Weg öffnet der subjektiven und damit
162  gewiß nicht selten einer dem Subjekt angenehmeren Interpretation
163  des biblischen Anspruchs ein weites Feld. Beide Wege müssen
164  ernsthaft um die Glaubwürdigkeit für die Sache besorgt sein.
165  Hermann: Ja, der katholische ist der scheinbar sicherere,
166  während der evangelische Weg ebenso stark rückbezogen ist auf die
167  Verantwortung, auf das Bewußtsein der Beteiligten. Damit ist
168  eine Effizienskontrolle natürlich sehr viel schwerer möglich.
169  Normen als Entlastung. Böckle: Dieses konkrete
170  Modell der Eheordnung zeigt uns in anschaulichster Weise das
171  Grundproblem, von dem unser Gespräch ausgegangen ist: Braucht
172  eine theologische Ethik verbindliche, inhaltliche Normen? Ich
173  meine, die Antwort sei eigentlich recht deutlich geworden. Vom
174  einzelnen und von der Gemeinschaft her gesehen brauchen wir eine
175  normative Ordnung. Aber die sittliche Freiheit und das dieser
176  Freiheit entsprechende sittliche Verhalten ist nicht identisch mit
177  einem Stehen " unter dem Gesetz " und einem Eingeordnetsein
178  " durch das Gesetz ". Das von Jesus verkündete sittliche
179  Verhalten läßt das Gesetz hinter sich, weil und soweit es
180  verankert ist im Glauben an Gottes befreiendes Tun am Menschen,
181  soweit es verankert ist in den Forderungen und Verheißungen der
182  Reich-Gottes-Predigt. Hermann: Ich sehe da
183  allerdings die Gefahr zu sagen: wie immer die gesetzliche
184  Regelung getroffen wird, ist sekundär; wichtig ist die
185  Verantwortung, die Gesinnung usw.. Demgegenüber müßte man
186  ja wahrscheinlich, wenn man die Probe aufs Humane macht, auch die
187  Forderung aufstellen, daß die gesetzlichen Regelungen der
188  Verantwortungsethik, die man im Auge hat, auch entsprechen. Das
189  heißt also, daß nicht das Gesetz relativiert wird, sondern daß
190  das Gesetz geändert und verbessert wird. Böckle: Wenn
191  wir uns dazu bekennen, daß Normen, daß Regelungen des
192  Verhaltens einer menschlichen Notwendigkeit entsprechen, weil der
193  Mensch der Entlastung und Hilfe der Normen bedarf, und wenn wir
194  erkennen, daß selbst die Botschaft eines Normenkleides bedarf,
195  um überhaupt gesellschaftlich relevant zu werden, dann allerdings
196  ist sofort die zweite Frage zu stellen, in welcher Weise nun
197  dieses Normengefüge, diese Ordnung dynamisch offen sein muß, um
198  in der jeweiligen Bewußtseinslage der Gesellschaft und ihrer
199  Entwicklung verstanden zu werden. Sie muß ja immer wieder
200  verstanden werden in dem, was sie wirklich sagen möchte. Ich kann
201  mir durchaus vorstellen, daß auf einer bestimmten
202  Entwicklungsstufe der Gesellschaft diese Botschaft in recht
203  deutlicher Weise in Regeln übersetzt werden muß, damit die
204  gewollte Veränderung im Verhalten erreicht werden kann. Ich kann
205  mir aber auch denken, daß in bestimmten Missionsgebieten diese
206  Botschaft von der ehelichen Treue nicht unter den gleichen
207  Voraussetzungen und auf die gleiche Bewußtseinslage hin verkündet
208  werden kann, wie in unserer Gesellschaft. Dies alles zeigt, wie
209  sehr das Problem der Veränderung und Anpassung von Normen zu
210  einem dringenden Problem der Moraltheologie geworden ist. Und da
211  die Moraltheologie eine innerhalb der Kirche betriebene und der
212  Kirche und ihrer Verkündigung dienende Wissenschaft ist, stellt
213  sich zugleich das kirchliche Problem: von Theologie und Amt.
214  Beide sind aufeinander angewiesen, und so gewiß auch die
215  Forderung nach lebenslanger Treue in der im Glauben geschlossenen
216  Ehe zum unveräußerlichen Glaubensgut der Kirche gehört, so
217  muß doch gesagt werden, daß in der konkreten Regelung
218  beispielsweise durch ein Wiederverheiratungsverbot nichts dogmatisch
219  definitiv festgelegt ist. Dafür können andere Lösungen gesucht
220  und diskutiert werden. Das Problembewußtsein der
221  Kirchenleitung. Hermann: Das kirchliche Lehramt ist
222  im Augenblick wohl, soweit ich sehe, noch ziemlich unberührt von
223  diesen kritischen, vom Evangelium her kritischen Überlegungen zur
224  Frage der Unauflöslichkeit. Böckle: Das halte ich
225  für natürlich und systemgerecht. Mit Recht sagen Vertreter des
226  Kirchenrechts, ihre Aufgabe sei es nicht, die theologischen
227  Grundlagen zur Veränderung der Ordnung zu schaffen. Ihre
228  Aufgabe sei es vielmehr, einem neuen Erkenntnisstand entsprechend
229  praktische Gesetze zu entwerfen. Wenn also etwa die Theologie und
230  das kirchliche Lehramt zu der Erkenntnis kämen, es handle sich
231  bei der Forderung des Evangeliums in der Fachsprache ausgedrückt
232  um eine " Lex moralis " und nicht um eine " lex inhabilitans ",
233  dann würde es zur Aufgabe des Kanonisten werden, eine lex moralis
234  in eine Ordnung einzubringen, die bisher als lex inhabilitans
235  verstanden und appliziert wurde.

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