Quelle Nummer 327

Rubrik 02 : RELIGION   Unterrubrik 02.01 : PRESSE

EV. KIRCHENZEITUNG "DER WEG" (KOMMENTARE)
DER WEG, EVANGELISCHES SONNTAGSBLATT FUER DAS RHEIN-
LAND, 25. JAHRGANG, 18.10.1970, S. 1-


001  Ohne Laien wird die Kirche in der " Stunde X "
002  scheitern. " Die Zunahme kritischer Anfragen an die Kirche
003  bringt den Gemeindepfarrer in immer größere Bedrängnis.
004  Künftig wird ein Pfarrer, der nicht mindestens ein Dutzend
005  aktiver Laien-Mitarbeiter hat, den Anforderungen kaum noch
006  gerecht werden können. Künftig wird es immer weniger Pfarrer
007  geben. Eine Krise der Kirchenfinanzen kann die Gemeinden zwingen,
008  selbständig und aus eigenen Kräften zu leben. Hier und da ist
009  für die Gemeinden, die keinen Pfarrer mehr haben, die " Stunde
010  X " schon gekommen. Die " Stunde X " kommt immer wieder für
011  die ganze Kirche. Dann muß die Kirche mündige Laien haben,
012  wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden soll. " Der Männersonntag
013  war von Anfang an als Laientag gedacht! Er war jeweils besondere
014  Ausdrucksform der Männerarbeit in verschiedenen Phasen: Im
015  Kirchenkampf Freiheitsraum für Menschen, die nicht im damaligen
016  Staat aufgehen wollten, nach dem Krieg Haltepunkt für
017  zurückgekehrte Soldaten, Flüchtlinge, im Innersten
018  erschütterte und bewegte Männer, in der Zeit des Wiederaufbaues
019  Sammelpunkt derer, die die neuen Wege in christlicher
020  Verantwortung legen wollten. Heute wollen viele nichts mehr von
021  ihm wissen. Er hat seine Zeit gehabt, ist als Überbleibsel
022  naturständischer Arbeit überholt, so hört man vor allem die
023  Funktionäre der Kirche sagen. - Dabei stößt man sich an
024  einer zeitbedingten Abgrenzung, übersieht aber, wie wichtig die
025  eigentliche Sache ist. Am Namen hängt es doch gar nicht!
026  Gemeint ist der " regionale Kirchentag ", nicht der
027  " verfaßten Kirche ", sondern des " Kirchenvolkes ". Also
028  regionaler " Laien-Christen-Sonntag ", Treffen der
029  Spontaneität, der Ehrenamtlichkeit, der Opferwilligkeit.
030  Natürlich sollten dabei zu gleicher Zeit die Männer und die
031  Frauen, die junge Generation, die jungen Ehepaare und andere
032  Gruppen über ihre jeweils besondere Rolle in der Gesellschaft und
033  in der Kirche nachdenken und darauf angesprochen werden. Nicht die
034  Christen einer Gemeinde, sondern eine ganze Region soll zur
035  Großveranstaltung zusammengerufen werden. Nicht die Beamteten
036  und die Gewählten, also die " Funktionäre " der Kirche,
037  sollen sich versammeln, sondern die ganz normalen Menschen, die
038  Freiwilligen, die ohne Amt und Entgelt Aktiven, die aus dem
039  Glauben Engagierten. Nicht festgelegte Formen sollen die
040  Möglichkeiten, sich zu versammeln, miteinander zu reden und an
041  die Öffentlichkeit zu treten, in irgendeiner Weise einengen.
042  Frei vom Schema kann alles geschehen, was zusammenschließt, mit
043  der Wirklichkeit konfrontiert und neu beauftragt. Abgeschafft ist
044  schnell, und meistens stehen dann nicht nur grundsätzliche
045  Überlegungen dahinter, sondern auch Müdigkeit,
046  Phantasielosigkeit und Resignation, vielleicht konkrete
047  Versäumnisse und Enttäuschungen. Die verbreitete Haltung der
048  Christen: Negatives feststellen - meckern - so belassen -
049  resignieren -, sie sollte gerade bei solchem Anlaß überwunden
050  werden. Denn hier sind noch - oder wieder - so viele Chancen
051  enthalten, die auch in diesem Jahr bei weitem nicht wahrgenommen
052  werden, so daß sich ein Zukunftsdenken lohnt, zum Beispiel:
053  Die Möglichkeit, ein regionales Bewußtsein zu stärken,
054  daß erkannt wird, welche Arbeiten und Aufgaben der Kirche im
055  größeren Maßstab durchdacht und angegangen werden müssen.
056  Das Herausführen aus der Enge einer örtlichen Sitte, aus der
057  Bindung an einen bestimmten Amtsträger, aus der Verkümmerung
058  der Gaben, aus der Lähmung durch bestimmte Parteiungen, aus der
059  Kirchturmperspektive, die einfach nicht mehr alles erfassen kann.
060  Die Begegnung jener, die in verschiedenen sachgebundenen
061  Aufgaben stehen, daß sie sich rundum informieren können und neuen
062  Mut fassen aus dem Wissen um die vielen Dinge, die Christen in
063  der Welt tun können. Die Überwindung der Hilflosigkeit dem
064  ganz normalen Gemeindeglied und Kirchenglied gegenüber,
065  wie sie bei den " Beamteten " zum Teil besteht, im Rahmen eines
066  rechten " Normalen-Menschen-Sonntags ". Die
067  Gelegenheit, sich einmal berechtigt primär der nächsten Aufgabe
068  zuzuwenden, daß das Kirchenvolk sich konstruktiv kritisch mit sich
069  selbst befaßt, mit Erfolgsschau und Pleitenschau, mit
070  in Formen erstarrtem und ohne Formen verwildertem Christentum,
071  mit einer Normalität, die vielleicht in Wirklichkeit
072  Langweiligkeit oder Feigheit " im Namen Christi " ist. Wenn
073  der Leser bereit war, bis hierher mitzudenken, sind wir nun
074  vielleicht schon so weit gekommen, daß wir sagen: Noch heute
075  müssen wir ihn einführen, den " Christen-Menschen-
076  Sonntag ", weil so viele Gelegenheiten, einander zu begegnen,
077  verpaßt wurden, weil die Kirche in der Gefahr steht, eine
078  Funktionärskirche, eine Gemeinschaft von Berufschristen, zu
079  werden, weil Christen das öffentliche Auftreten und die
080  öffentliche Verantwortung wieder lernen müssen, weil damit
081  Christusnachfolge so praktiziert wird, wei sie doch gemeint ist,
082  daß ein " Laienspiel " in der Welt Leben gewinnt. Mit
083  dem Jahresthema " Der Wirklichkeit standhalten " hat die
084  Arbeitsgemeinschaft der Männerarbeit EKD eigentlich weniger ein
085  Thema formuliert als eine Bereitschaft bekundet, selbstkritisch zu
086  sein und wirklichkeitsbezogene Arbeit zu leisten. Etwas davon
087  spiegelt sich in der Themenstellung einzelner Kirchenkreise wider:
088  " Soziale Mißstände in unserer Stadt im Friedrich-
089  Engels-Jahr - was können wir tun "? (Wuppertal);
090  " Situation und mögliche Wege der Männerarbeit in Essen ";
091  " Die Wirklichkeit bestehen - die Zukunft gestalten " (Koblenz);
092  " Familie in der veränderten Welt " (Düren, Lennep);
093  " Die neue Mischehenregelung der katholischen Kirche "
094  (Wesel); " Besinnung auf Europa " (Moers). Mit sehr
095  wachen Augen werden wir durch unsere Welt gehen müssen, wenn wir
096  noch besser in den Griff bekommen wollen, was heute besprochen und
097  morgen in die Tat umgesetzt werden soll. Männersonntag 1970
098  Der Wirklichkeit standhalten!. Das Thema des
099  diesjährigen Männersonntags klingt wie eine
100  Selbstverständlichkeit. Der Wirklichkeit standhalten: das wird
101  täglich von uns allen gefordert. Doch hinter dieser
102  Alltagswirklichkeit steht die Realität der Welt, in der wir
103  leben, eine Welt voller Spannungen, voller Gegensätze, voller
104  Unsicherheit. Millionen Menschen verkümmern im Wohlstand,
105  Abermillionen leben im Elend. Alte Menschen werden in die
106  Isolierung getrieben - junge Menschen wissen nicht aus noch ein.
107  Das ist die Wirklichkeit, der wir standzuhalten haben.
108  Standhalten ist keine passive Haltung. - Standhalten erschöpft
109  sich nicht im bloßen Widerstehen, das sich darin genügen könnte,
110  selbst nicht überwältigt zu werden. Es erfordert Aktivität,
111  Zupacken, Helfen. Die Welt, die von Gott geliebt wird, muß
112  um des Menschen willen verändert werden. Die Männerarbeit der
113  Evangelischen Kirche in Deutschland versteht sich als
114  Dienstgruppe. Dienst am Nächsten, am Leidenden, am
115  Unterprivilegierten, am Vergessenen, Dienst an der Gesellschaft
116  in der Diakonie des Denkens und Handelns. Darum die
117  Aufforderung des Männersonntags: " Der Wirklichkeit
118  standhalten "! Gott ist größer als die Welt. Habt
119  nicht lieb die Welt! Es klingt so, als würde hier zum Rückzug
120  geblasen. " Rette sich, wer kann ". Und doch gilt auch
121  angesichts dieses Bibeltextes, daß Weltflucht nur eine
122  raffinierte Form von Eigenliebe ist. Tizian hat " die irdische
123  und die himmlische Liebe " als zwei Fraugengestalten gemalt. Es
124  ist eins seiner schönsten Bilder. Aber der Titel trifft nicht.
125  Die eine Gestalt ist so irdisch wie die andere. Das Bild kann
126  darum geradezu als Illustration dafür dienen, daß schon mancher,
127  der " Himmel " sagte, lediglich " eine andere Art von Welt "
128  im Auge hatte. Weltlust und Weltflucht sind nur scheinbare
129  Gegensätze. Wäre unser Text mit seinem Imperativ: Habt
130  nicht lieb die Welt! eine Aufforderung zur Weltflucht, dann
131  hätte der Philosoph Friedrich Nietzsche mit seinem Sturm auf die
132  christliche Moral recht gehabt. Man tut in jedem Fall gut, ihn
133  zu hören. Es hat unter uns viel falsche Weltflucht gegeben und
134  gibt sie noch. Nietzsche schreibt in seiner Selbstdarstellung
135  Ecce Homo (" Siehe, ein Mensch "): " In diesem Maße
136  sich vergreifen, nicht als einzelner, nicht als Volk, sondern als
137  Menschheit! (...). Daß man die allerersten Instinkte des Lebens
138  verachten lehrte; daß man eine " Seele ", einen " Geist
139  " erlog, um den Leib zuschanden zu machen; daß man in der
140  Voraussetzung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas
141  Unreines empfinden lehrt; daß man in der tiefsten Notwendigkeit
142  zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht (das Wort schon ist
143  verleumderisch!) das böse Prinzip sucht; daß man umgekehrt in
144  den typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-
145  Widersprüchlichkeit, im " Selbstlosen ", im Verlust an
146  Schwergewicht, in der " Entpersönlichung " und "
147  Nächstenliebe " (Nächstensucht) den höheren Wert, was sage
148  ich! den Wert an sich sieht! (...). Wie! wäre die Menschheit
149  selber in d‚cadence? was sie es immer? - Was feststeht
150  ist, daß ihr nur D‚cadence-Werte als oberste Werte
151  gelehrt worden sind ". Nietzsche ist nur wenige Tage nach der
152  Niederschrift dieser Sätze in Umnachtung gefallen. Und doch
153  sind sie damit nicht abzutun. Wieviel Schlechtmachen des Starken,
154  des Schönen und des Edlen hat es in der Kirche gegeben und gibt
155  es noch! Man lese unser Gesangbuch. Die Lieder, die man
156  kirchenfremden Menschen zumuten möchte, sind nicht eben zahlreich.
157  Auch da gibt es viel Weltflucht. Wer ihr allzurasch zustimmt,
158  sollte sich fragen, ob er nicht lediglich Angst hat vor der Welt.
159  Weltflucht aus Angst, Suche nach Sicherheit, das wäre in der
160  Tat pure Selbstsucht angesichts der Probleme, die heute zu lösen
161  sind. Aber heißt es nicht: Habt nicht lieb die Welt? So
162  steht es da. Doch man versteht den Satz nur mit jenem anderen
163  Bibelwort zusammen: Also hat Gott die Welt geliebt, daß er
164  seinen eingeborenen Sohn gab. Gott hat eben das getan, wovor wir
165  hier gewarnt werden. Er hat sich an die Welt hingegeben. Er hat
166  sich im Tode seines Sohnes an diese Welt verloren. Lieben heißt
167  sich hingeben, sich verlieren an einen anderen. Nur bleiben wir
168  bei der wirklichen Liebe zugleich wir selbst. Der Starke kann
169  lieben, der Schwache wird hörig. Es gehört die Kraft Gottes
170  dazu, diese Welt zu lieben, ohne ihr zu verfallen. Aber eben
171  diese Kraft wird uns zuteil; " denn die Sünden sind uns
172  vergeben durch seinen Namen ". Schwachheit und Bosheit können
173  weggenommen werden und werden weggenommen. Jesus Christus steht
174  vor uns, beladen mit der Schwachheit und der Sünde dieser Welt.
175  An ihm wird erkennbar, was diese Welt ist. An ihn können wir
176  uns verlieren, um doch ganz wir selbst zu bleiben. Wir " können "
177  es nicht nur. Dies Sich-Verlieren und Wiedergewinnen ist
178  Wirklichkeit geworden in der Taufe, auf die Vers 12 verweist.
179  Die Gefahr, der Welt aus Schwäche oder aus Trotz hörig zu
180  werden, bleibt. " Des Fleisches und der Augen Lust " sind
181  eine Realität, die einen ständigen Sog ausübt. Die Gefahr
182  sollte beileibe nicht nur auf einem Gebiet gesehen werden.
183  Geiz und Machtgier können noch sehr viel unappetitlicher sein als
184  die Sünden im Bereich der Sexualität, der in seiner Schönheit
185  und Kraft zur guten Schöpfung Gottes gehört. Alle
186  Bereiche dieser Schöpfung werden verzerrt, wenn der Mensch ihnen
187  hörig wird. Der Weg aus dem Verfall heraus - die Welt vergeht
188  mit ihrer Lust - geht über die Liebe Gottes. " Liebe Gott
189  und tu, was du willst ", hat Augustin gesagt. Wer Gott in
190  Jesus Christus liebt, liebt die Welt, wie sie ist, als die
191  Gabe und die Aufgabe, die Gott heute gibt. Er wird dabei
192  erfahren, daß Gott größer ist als die Welt. Wer den Willen
193  Gottes tut, bleibt in Ewigkeit. 1.Johannes-Brief 2,
194  12-17.. Liebe Kindlein, ich schreibe euch; denn
195  die Sünden sind euch vergeben durch seinen Namen. Ich schreibe
196  euch Vätern; denn ihr kennet den, der von Anfang ist. Ich
197  schreibe euch Jünglingen; denn ihr habt den Bösen überwunden.
198  Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr kennet den Vater.
199  Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr kennet den, der von
200  Angang ist. Ich habe euch Jünglingen geschrieben, denn ihr seid
201  stark, und das Wort Gottes bleibet in euch, und ihr habt den
202  Bösen überwunden. Habt nicht lieb die Welt noch was in der
203  Welt ist. So jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die
204  Liebe des Vaters. Denn alles, was in der Welt ist, des
205  Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist
206  nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit
207  ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in
208  Ewigkeit. Bekenntnis zur Verantwortung.. Vor 25
209  Jahren: Stuttgarter Schulderklärung.. Die Evangelische
210  Kirche hat von jeher mit ihren Gedenktagen nicht allzuviel Glück
211  gehabt. Die Schönfärber und Heldenverehrer haben sich oft der
212  Personen und Fakten in einem Maße angenommen, daß
213  Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit empfindlichen Schaden litten. Mit
214  den Reden bei Luthers Begräbnis hat es angefangen, in unseren
215  Tagen hat es nicht aufgehört. Es war auch für die Evangelische
216  Kirche in Deutschland ein ungemein einschneidendes Ereignis, als
217  an einem Tage die Fesseln sprangen und die Freiheit da war. Die
218  völlige Kapitulation ließ die Zwingherren verschwinden. Nun kam
219  die Stunde der Selbstbesinnung und die Stunde der Sammlung.
220  Aber war es überhaupt möglich, zu klarer Selbsterkenntnis zu
221  kommen und die auseinandergebrochenen Stücke evangelischer
222  Kirchengebilde zusammenzufügen? Man kann es nur als ein Wunder
223  bezeichnen, daß Ende August 1945 eine Kirchenversammlung in
224  Treysa eine provisorische Kirchenleitung einsetzen konnte, die,
225  aus zwölf Männern bestehend, bis zu der verfassunggebenden
226  Kirchenversammlung in Eisenach (Juli 1948) die Kirche vertreten
227  und für sie reden konnte. Schon in Treysa wollte man ein Wort
228  über die " Schuld " sprechen. Der Reichsbruderrat der
229  Bekennenden Kirche brachte ein solches Wort vor, konnte aber eine
230  einmütige Zustimmung nicht erreichen. Dabei mußte die Kirche,
231  wenn sie Bilanz ziehen wollte, der Wahrheit die Ehre geben,
232  Schuld bekennen und den anrufen, der alle Sünden vergibt und alle
233  Gebrechen heilt. In dem Wort des Bruderrates hieß es eindeutig:
234  " Moralische Maßstäbe reichen nicht aus, um die Größe der
235  Schuld, die unser Volk auf sich geladen hat, zu ermessen. Immer
236  neue Taten der Unmenschlichkeit werden bekannt. Viele können es
237  immer noch nicht fassen, daß das alles wahr sein soll. In diesem
238  Abgrund unserer Schuld sind Leib und Seele unseres Volkes zu
239  Tode bedroht. Wir bekennen unsere Schuld und beugen uns unter die
240  Last ihrer Folgen ".

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