Quelle Nummer 318

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.07 : HUMOR

HANS DIETER HUESCH
ENTHAUPTUNGEN
DAMOKLES VERLAG, AHRENSBURG-PARIS 1971, S. 84-


001  Er kommt schon in die Welt, nur Geduld, nur Geduld, er
002  kommt schon in die Welt. Der Sinn, der Sinn des Lebens, ich
003  würde sagen (...) Eines Tages, eines lichten Tages ist er da:
004  An einem grünen Montag oder an einem himmelblauen Mittwoch oder
005  aber an einem mattsilbernen Samstag, was sage ich, ein strohgelber
006  Sonntag könnte es auch sein, dann kommt er (...) Wir brauchen gar
007  nicht so nervös mit den Fußspitzen zu wippen, der Sinn des
008  Lebens kommt, sagen wir (...) wie eine Libelle an einem
009  dunkelbraunen Donnerstag um 14 Uhr, nein? Zu früh? Nun,
010  dann vielleicht gegen 17 Uhr 30, vielleicht aber auch in Gestalt
011  eines alten Bettlers, es kommt ja vieles heute in Gestalt oder in
012  Gestalt eines armen Schusters oder in Gestalt eines weitgefahrenen
013  Kapitäns mit weißem Bart, gleichviel (...) oder auch unsichtbar,
014  fällt mir gerade ein, meine Damen und Herrn, unsichtbar, wie
015  wäre es damit, auf einmal steht es neben dir, pardon, steht er
016  neben dir, der Sinn des Lebens auf Zehenspitzen und gibt uns ein
017  Zeichen, vielleicht fällt eine Sammeltasse aus dem Schrank,
018  zerschellt am Boden (...) nein, das glaub ich nicht, das macht er
019  nicht, der Sinn, das wäre ja Leichtsinn, Unsinn, nein der
020  Sinn des Lebens! (...) Vielleicht flötet er uns etwas ins Ohr
021  (...) wie eine Lerche, spielerisch, tänzerisch, duftig, luftig,
022  tra lala la!! Nein! Der Sinn des Lebens, was wollen wir
023  lange um den heißen Brei schleichen kommt wie ein Löwe, bildlich,
024  er kommt und sagt: (...) Sie müssen sich das so vorstellen,
025  meine Damen und Herrn, er kommt aus dem Flur um die Ecke,
026  direkt ins Wohnzimmer und sagt: Bin ich hier richtig bei
027  Lehmanns? Da aber vor lauter Angst niemand antwortet, geht er
028  wieder, der Sinn des Lebens in Gestalt eines Löwen. Bildlich.
029  Aber sollte das wirklich schon der Sinn sein, ich kann " s
030  nicht ganz glauben. Kehren wir doch noch einmal zur Libelle
031  zurück, die Libelle erscheint, was hatten wir gesagt, an einem
032  dunkelbraunen Donnerstag gegen 17 Uhr 30, die Libelle scheint mir
033  nämlich das typische Sinnbild zu sein, Raubinsekt, jagt andere
034  Insekten im Flug, stürzt sich auf arme Seelen, saugt sie aus
035  und legt den Rest vor die Haustür des Nachbarn, nein, das
036  wollen wir nicht, einen solchen Sinn wollen wir nicht, wir wollen
037  einen anständigen Sinn, einen richtigen Sinn, einen anmutigen,
038  von mir aus auch einen aufopfernden Sinn, also einen richtigen,
039  einen sinnvollen Sinn, so sagt man ja auch immer, das Ganze muß
040  für mich einen Sinn haben, oder ich kann das nicht als sehr
041  sinnvoll bezeichnen oder manche stecken ja auch in irgendeine Sache
042  irgendeinen Sinn hinein, damit eines Tages aus der Sache wieder
043  ein Sinn herauskommt, mal als Tiefsinn, mal als Schwachsinn.
044  Aber erst muß ja mal der Sinn zu uns kommen, der Sinn des
045  Lebens. Nur Geduld, meine Damen und Herrn, nur Geduld, er
046  kommt, der Sinn, er kommt, (...) ja wann, ja wann, ja das kann
047  ich Ihnen leider nicht sagen, öh, (...) vielleicht kann ichs Ihnen
048  morgen sagen, oder übermorgen, oder vielleicht können Sie mirs
049  sagen, morgen oder übermorgen, dann werden wirs alle wissen, ganz
050  bestimmt (...) Nur Geduld, er kommt, der Sinn, entweder in
051  Gestalt eines armen Schusters oder in Gestalt eines weitgefahrenen
052  Kapitäns, jedenfalls (...) sehn Sie mal (...) ich würde sagen (...)
053  Gute Nacht. Helga Schiff. Wer enthauptet wen?. An
054  dem Wort " Enthauptung ", sei es im Singular oder Plural
055  gebraucht, hängen keine harmlosen Konnotationen. Wenn ein Autor
056  es als Titel wählt, so wird er wissen, weshalb. Der Leser,
057  der dies nicht ohne weiteres weiß, kann einerseits den Autor,
058  andererseits den Text nach den Motiven für die Titelwahl fragen.
059  Am besten, er tut sowohl das eine wie das andere. Wir
060  beschränken uns, in Ermangelung des Autors, auf die Befragung
061  der hier unter dem Titel " Enthauptungen " vorgelegten Texte.
062  Die gebräuchlichste Verbindung zwischen einem literarischen Text
063  und seinem Titel ist der unmittelbare Handlungsbezug. Das
064  Lexikon findet für die Semantik des Verbs " enthaupten " die
065  schlichte Definition: jemandem den Kopf abschlagen. Das
066  diesbezügliche Substantiv erhält keine eigene Definition,
067  sondern lediglich den Verweis auf die Bedeutung des Verbs.
068  Unsere Frage, in ihrer ersten Fassung, lautet demzufolge:
069  Schlägt in den vorliegenden Texten jemand jemandem den Kopf ab?
070  - Offensichtlich nicht. Zwar wird gleich zu Beginn unter den
071  Gästen ausdrücklich " Freund Hein oder der Sensenmann oder der
072  Schnitter oder der Tod " vom Zeremonienmeister begrüßt. Etwas
073  später erfährt man beim " Vokabeln lernen ", daß eine ganze
074  Reihe von Trägern männlicher sowohl als weiblicher Vornamen tot
075  und auch " Tante Hilde " am Montag gestorben sei. Des weiteren
076  ist der Leser Zeuge eines apokalyptischen Massakers, bei dem
077  jedoch weder von Guillotine noch Henker die Rede ist.
078  Dergleichen Instrumente würden sich vor der voll automatisierten
079  Schreckensszenerie der Schilderung ohnehin gutmütig harmlos und
080  hoffnungslos antiquiert ausnehmen. Schließlich sei " Onkel
081  Eberhard " nicht vergessen, von dessen Ableben wir im Spiegel
082  der " Nachfeier " in Kenntnis gesetzt werden. Doch bei ihm kam,
083  wie wir hören, noch ein Lungenspitzenkatarrh dazu, das
084  schließt den Verdacht einer etwaigen Enthauptung ebenfalls aus,
085  da im Falle einer solchen nichts mehr dazu zu kommen braucht. Wir
086  fassen zusammen: Der Tod wird in den " Enthauptungen " zwar
087  des öfteren und unter verschiedenem Aspekt erwähnt, der Tod
088  durch das Fallbeil indessen nur einmal, und selbst hier nicht als
089  Faktum, sondern lediglich in der Form einer prophylaktischen
090  Warnung (" Lied von den Millionären "). Die Möglichkeit,
091  den infrage stehenden Titel mithilfe des direkten Bezuges auf den
092  Inhalt der Texte zu motivieren, ist somit hinfällig. Wo es
093  nicht der Inhalt ist, da doch vermutlich die Form: wir sehen uns
094  an die Methode der linguistischen Strukturanalyse verwiesen. Zu
095  deutsch: Wo und in welchem Kontext findet sich, wenn überhaupt,
096  das Wort " Enthauptung " oder ein ihm verwandtes? Der weiter
097  oben bereits erwähnte Abschnitt " Vokabeln lernen " bringt es
098  mehrfach, wenngleich nicht als Substantiv, sondern in
099  morphematisch abgeleiteter Verbalkonstruktion: " Ich behaupte
100  das/Er behauptet das/Wer behauptet was/Hauptsache
101  glücklich/Hauptsache ich/Hauptsache gesund/O Haupt
102  voll Blut und Wunden/Ich enthaupte das/Er enthauptet das
103  /Wer enthauptet was/Hauptsache glücklich (...) " Die
104  Nebeneinanderreihung der Wörter " Haupt ", " Hauptsache ", "
105  behaupten " und " enthaupten ", die strukturell durch keine
106  anderen Bezüge verbunden sind als durch das allen gemeinsame
107  Morphem " Haupt ", erhält den Charakter des semantisch
108  bedeutsamen Sprachspiels durch die je beigegebenen Kontextvarianten;
109  das scheinbar nur absichtslos dem phonetischen Gleichklang
110  folgende Wechselspiel zwischen " behaupten " und " enthaupten
111  " läßt unversehens den Verdacht aufkommen, daß da ein tieferer
112  Zusammenhang bestehen könnte zwischen beiden. Dergestalt daß
113  derjenige, der etwas behauptet zugleich immer auch sich
114  behauptet[ " Hauptsache glücklich/Hauptsache ich/
115  Hauptsache gesund " ]und dies nur tun kann, indem etwas anderes
116  oder ein anderer - eine andere Meinung oder ein anderes Ich -
117  ent-hauptet wird. Mit diesem Interpretationsversuch,
118  der allerdings über die streng linguistische Strukturanalyse
119  hinausführt, wäre der Titel " Enthauptungen " als ein
120  metaphorischer gekennzeichnet. Nachzuweisen bliebe noch, mit
121  welchem Recht er exemplarisch zu sein beansprucht nicht allein für
122  das hier zunächst herausgegriffene Teilstück " Vokabeln lernen
123  ", sondern für das Insgesamt der vorgelegten Texte, in denen
124  das Schlüsselwort selbst - sei es in welchem Zusammenhang auch
125  immer - nicht ein zweites Mal fällt. Die mörderische
126  Mediokrität der Meinungen, die in der Form von Behauptungen,
127  Beschimpfungen, Glaubensbekenntnissen, guten Ratschlägen,
128  weisen Lehren und schalen Sprüchen unseren Alltag flankieren,
129  wird thematisch in nahezu jeder einzelnen Programmnummer des "
130  patienten ". Versteht man den " patienten " ohne
131  Anführungsstriche, will sagen als das, was der " Conferencier,
132  Moderator, Zeremonienmeister oder auch Mediziner " von ihm hält:
133  als einen Patienten also, einen Fall, einen Neurotiker oder
134  was auch immer[ die Frage ist allerdings, ob man dem
135  Zeremonienmeister oder auch Mediziner trauen kann, doch hiervon
136  später ], versteht man ihn also als jemanden, der wirklich krank
137  ist und dessen Krankheit ihre ganz bestimmten Ursachen hat, dann
138  liegt der Verdacht nahe, daß eben dies die Ursachen sind:
139  dieses Gerede, dieses Gequatsche, dieses Hin und Her der
140  Meinungen, dieses leere Stroh, das da gedroschen wird, dieser
141  Jahrmarkt der Eitelkeiten, diese Sintflut der Worte, in der
142  alles arglose Vertrauen in jenes an sich hilfreiche Instrument,
143  das der Mensch seine Sprache nennt, hoffnungslos untergeht. Das
144  zweite Teilergebnis unserer Analyse heißt zusammengefaßt: Das
145  Titelwort " Enthauptungen ", für das wir aus dem Inhalt der
146  Texte keine überzeugende Motivation finden konnten, taucht als
147  Verbum im gleichen syntaktischen Kontext mit " behaupten " auf.
148  Eine durch diese Parallele suggerierte Bedeutungsverwandtschaft
149  von " behaupten " und " enthaupten " zeigt zum einen den engen
150  thematischen Zusammenhang der verschiedenen sprachkritischen
151  und meinungskritischen Beiträge auf und läßt zum anderen die
152  metaphorische Funktion des Titels deutlich werden. Wir hatten als
153  den, oder zumindest als einen der Gründe für das Patientsein des
154  Patienten die Inflation der schalen Wörter und Meinungen
155  vermutet, denen er sich wehrlos ausgesetzt fühlt. Denn der
156  überwiegende Teil dessen, was er uns vorträgt, sind Analysen,
157  Imitationen, karikierende Verfremdungen eben solchen " Geredes
158  "; nichts - so scheint es - quält und beschäftigt ihn so
159  stark wie die totale und katastrophale Unzuverlässigkeit der
160  Sprache. Umso mehr überrascht es, daß er dasselbe Instrument
161  Sprache, dessen ganze Unaufrichtigkeit und Hohlheit er eben noch
162  unerbittlich bloßstellte, im nächsten Augenblick scheinbar
163  selbstverständlich zur eigenen Aussage, sei es die der sozialen
164  Anklage[ " Monotones Lied ", " Lied von den Millionären
165  " usw. ], sei es die der eigenen Standortbestimmung[ "
166  Typisch Hüsch ", " Für wen ich singe ", " Zuletzt " ]
167  gebraucht. Wäre es nicht konsequenter, entweder die Brüchigkeit
168  der Sprache zu denunzieren und ihr generell zu mißtrauen, sei es
169  in fremder, sei es in eigener Sache, - oder aber umgekehrt:
170  sie hinzunehmen als ein zwar an allen Ecken und Enden
171  abgedroschenes, aber immerhin doch unersetzbares Vehikel der
172  Verständigung, und zwar wiederum - in fremder wie in eigener
173  Sache? Wir könnten es uns leicht machen in Anbetracht der
174  Tatsache, daß wir es laut Aussage des " Moderators oder auch
175  Mediziners " mit einem Patienten zu tun haben. Wir könnten
176  sagen: Da habt ihr es: der Mann ist eben schizophren; wenn
177  andere Leute sagen " wir brauchen Lehrer " oder " die
178  Schmetterlinge mit ihren herrlichen Farben ", dann wird das
179  persiflierend lächerlich gemacht; sagt er aber selbst " das
180  Leben bitte nicht als Übergang " oder " und nichts mehr da, an
181  das man glaubt ", dann soll man das durchaus ernst nehmen. So
182  geht es doch nicht. Entweder gerechte Verteilung der kritischen
183  Sprachanalysen oder gar keine. Entweder Totalverzicht auf
184  jegliche Verständigungsmöglichkeit oder Anerkennung der Sprache
185  als eines generell armseligen und brüchigen, aber unerläßlichen
186  Kommunikationsmittels. Indessen, bevor wir uns hier mithilfe
187  logischer Schlüsse zu irgendwelchen Behauptungen bzw.
188  Enthauptungen zu Lasten des Patienten hinreißen lassen, prüfen
189  wir doch noch einmal vorsichtshalber unsere Prämissen: Wir
190  hatten herausgefunden, daß des Patienten Trauma in einem
191  Zusammenhang stehen muß mit dem, was tagtäglich, gedruckt oder
192  gesprochen, aus dem Munde seiner Mitmenschen aufs unschuldige
193  Papier oder in den versmogten Äther entlassen wird. Einem
194  modischen Trend folgend, hatten wir seine demaskierenden
195  Imitationen und Verfremdungen der Umgangssprache als "
196  Sprachkritik " etikettiert. Daraus abgeleitet wurde eine
197  Forderung nach gleichem Recht für alle, wo immer es darum geht,
198  das Wort beim Wort zu nehmen. So weit, so logisch. Die Frage
199  ist nur, was jemand, der deskriptiv oder mit den Mitteln der
200  Verfremdung Klage führt wider die umgangssprachlichen
201  Äußerungen seiner Mitwelt, mit solcher Kritik in Wahrheit
202  treffen will: die Sprache als solche, - oder möglicherweise
203  gar nicht sie selbst, sondern vielmehr die Gesinnung des
204  Sprechenden, der seine Gedankenlosigkeit, Eitelkeit,
205  Brutalität, Phantasielosigkeit oder Dummheit über das sehr
206  empfindliche Medium Sprache verrät? - Die Frage ist
207  rhetorisch. Es liegt auf der Hand, überschaut man seine Texte
208  in ihrem Zusammenhang, was unseren Patienten in Wahrheit umtreibt:
209  nicht die syntaktischen, logischen oder lexikalischen
210  Ungenauigkeiten verbaler Äußerungen. Das Geschäft des
211  deskriptiven Linguisten liegt ihm so fern wie der logisch-
212  puristische Anspruch analytischer Sprachphilosophie. Was ihn zum
213  Wahnsinn bringt oder richtiger: gebracht hat, ist die Erfahrung
214  des Absurden. Des Absurden, das - nach Camus - seinen
215  Ursprung in einem Vergleich hat, " in einem Vergleich zwischen
216  einem Tatbestand und einer bestimmten Realität, zwischen einer
217  Handlung und der Welt, die stärker ist als sie "[ Albert
218  Camus, Der Mythos von Susyphos ]. Auf unsere Texte
219  angewandt will das sagen: Nicht schon die Tatsache, daß da ein
220  paar harmlose Leute einen Club gründen wollen und dieses Vorhaben
221  mit einigen schönen und humanen Idealen dekorieren, ist des
222  Verzweifelns wert. Erst der Zwiespalt ist es, der zwischen
223  dergleichen Plänen, Programmen und Idealen, wie sie unter uns
224  harmlosen Leuten an der Tagesordnung sind, und der Realität des
225  Todes, des Krieges, der Folterung, der Unterdrückung, der
226  Ungerechtigkeit und Unfreiheit unserer Welt besteht. "
227  Normalerweise ", sagte Hüsch einmal in einem Gespräch, "
228  müßte schon der Inhalt einer einzigen Tageszeitung ausreichen,
229  um einen verrückt zu machen. " Normalerweise. Das heißt,
230  normal wäre es, den Mechanismus der Verdrängung, dessen wir
231  alle uns zugunsten des kleinen privaten Glücklichsein-Könnens,
232  zum Zwecke des seelischen Überlebens unentwegt bedienen,
233  abzuschalten. Normal wäre es, den tödlichen Vergleich zwischen
234  der hilflosen Ohnmacht unserer Worte und der Realität unserer
235  Welt zu wagen.

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