Quelle Nummer 317

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.09 : ESSAY

ROLF HOCHHUTH
DIE HEBAMME, KOMOEDIE/ERZAEHLUNGEN, GEDICHTE,
ESSAYS
ROWOLT VERLAG GMBH, REINBEK BEI HAMBURG 1971
"DIE BUECHER DER NEUNZEHN" BAND 203, S. 385-


001  " Überflußgesellschaft " oder Überbevölkerung?.
002  Zuweilen kommen Pointen per Post: ungefähr gleichzeitig mit
003  Herbert Marcuses vorerst letztem Essay: " Befreiung von
004  der Überflußgesellschaft " kam Claus Jacobis Analyse der
005  " menschlichen Springflut ". Hätte man selber Vorbehalte,
006  einen Philosophen an den Forderungen zu messen, die das Leben
007  stellt: Herbert Marcuse räumt sie für seine Person
008  ausdrücklich weg, indem er mit dem Satz beginnt: " Als
009  unverbesserlicher Philosoph, für den Philosophie und Politik
010  untrennbar geworden sind (...) " Liest man Jacobis schmalen,
011  hochexplosiven Band in der gleichen Woche wie Marcuses
012  Verheißung eines Lebens unter dem reinen Lustprinzip, inmitten
013  von Wohlgenährtsein aller, nur die Kleinigkeit vorausgesetzt,
014  daß alle Völker und Staaten - nein: Staaten sind dann
015  längst überflüssig -, daß alle Menschen guten Willens sind,
016  " biologisch unfähig, Kriege zu führen und Leiden zu schaffen "
017  -, hält man dieses anakreontische Panorama einer befriedeten
018  Zukunftsgesellschaft neben die graphikschwarzen Zeichnungen, die
019  Jacobi von der Menschheit schon Ende der siebziger Jahre vorlegt:
020  so empfindet man Marcuses Anti-Überflußgesellschafts-
021  Spiel wie das letzte Menuett, zu dem das Ancien r‚gime im
022  Spiegelsaal zu Versailles antrat, während " die Füße derer,
023  die dich forttragen werden " schon unterwegs waren, um für die
024  Tanzenden auf dem Place de la Concorde die Guillotine
025  aufzustellen. Hier findet sich noch ein letztes Mal - und wieder
026  von den garstigen Erfahrungen mit Geschichte so tief verschont wie
027  Hesses " Glasperlenspiel " -, was bereits Sebastian
028  Haffner auf die Nerven ging, der über Marcuses Essay
029  " Triebstruktur und Gesellschaft " geschrieben hatte: " In
030  Marcuses Revolutionstheorie stecken, wie mir scheint, drei
031  fundamentale Irrtümer. Erstens stimmt es einfach nicht, daß die
032  Naturbeherrschung die Lebensnot abgeschafft und die mühelose
033  Bedürfnisbefriedigung möglich gemacht habe (...) Zweitens wird die
034  Arbeit - also der Zwang, die Disziplin und Selbstdisziplin,
035  der Lustverzicht und die Herrschaft des Leistungsprinzips - auch
036  in der Überflußgesellschaft (...) nicht überflüssig. Wenn
037  nämlich die Arbeit aufhörte, würde auch der Überfluß sehr
038  bald wieder aufhören (...) Drittens schließlich ist Freuds
039  Psychologie, im Gegensatz zu Marx " Soziologie, überhaupt
040  nicht in der Lage, eine revolutionäre Perspektive zu liefern (...)
041  " Ich habe Haffners begründete Kritik auf jeweils einen Satz
042  verknappt - denn was Jacobi, dessen Buch damals noch nicht
043  vorlag, jetzt an Zahlen und Perspektiven liefert, das bringt
044  einen um Geduld und guten Willen, die Haffner noch aufbrachte,
045  wenn er solche geradezu unverschämt irrealen Sätze Marcuses las,
046  wie: " Die Entschuldigung mit der Lebensnot, die der
047  institutionalisierten Unterdrückung von Anfang an als
048  Rechtfertigung diente, wird immer hinfälliger, je mehr
049  Möglichkeiten zur mühelosen Bedürfnisbefriedigung sich mit
050  zunehmendem Wissen und wachsender Naturbeherrschung ergeben.
051  " Und: " Je näher die reale Möglichkeit rückt, die einzelnen
052  von den ehemals durch Mangel und Unreife gerechtfertigten
053  Einschränkungen zu befreien (...) " " Je näher die reale
054  Möglichkeit rückt! " - Behauptungen, die nun tatsächlich
055  gegenüber der unleugbaren Unmöglichkeit, apokalyptischen
056  Hungerkatastrophen schon Ende dieses Jahrhunderts zu entgehen -
057  schamlos sind. Auf dieser Welt verhungern pro Tag schon jetzt
058  siebenundzwanzigtausend Menschen, zumeist Kinder. Ich weiß,
059  Marcuse wird begründen, dieser Hunger werde künstlich erzeugt
060  durch das kapitalistische System: " Je näher die reale
061  Möglichkeit rückt, die einzelnen von den ehemals durch Mangel
062  und Unreife gerechtfertigten Einschränkungen zu befreien, desto
063  mehr steigert sich die Notwendigkeit, diese Einschränkungen
064  aufrechtzuerhalten und immer funktionsfähiger zu gestalten. " Und
065  würde man darauf hinweisen, daß es ja nicht nur reiche
066  kapitalistische, sondern sehr reiche kommunistische Staaten
067  seit langem schon gibt, die Sowjetunion, die DDR - sehr
068  reiche Staaten, gemessen an den armen -, die aber offensichtlich
069  auch die Sterbequote der Verhungernden nicht herabzusetzen
070  vermögen, so würde Marcuse antworten: daß eben in diesen
071  genannten kommunistischen Staaten die von ihm geforderte "
072  qualitative Veränderung " noch gar nicht stattgefunden habe,
073  sondern lediglich eine quantitative; und daß diese beiden Staaten "
074  nur das Kontinuum der Repression aufrechterhalten und das alte
075  Herrschaftssystem durch ein neues ersetzt haben ". Das haben sie
076  tatsächlich. Warum aber, ist Marcuse zu fragen, wenn es schon
077  die Kommunisten nicht tun - warum ernähren nicht die
078  Kapitalisten die Hungernden, um nach ihrem Prinzip in deren
079  Gebieten neue Absatzmärkte zu erschließen, neue Möglichkeiten,
080  auszubeuten? Verhungernde kann ja keiner ausbeuten, wohl aber
081  Leute, die so viel im Magen haben, daß sie in Bergwerken für
082  Ausbeuter schuften können: warum also, wenn sie es könnte,
083  fütterte nicht die kapitalistische Welt die momentan Hungernden so
084  weit auf, daß sie brauchbar werden als Kulis? Diese einfache
085  Frage - Marcuse, versteht sich, stellt sie nicht - ist sehr
086  unangenehm für alle jene, die ein Gesellschaftssystem für das
087  neue Elend haftbar machen, das in Wahrheit die Natur dem
088  Planeten beschert. Der Planet brauchte, seit es Menschen auf
089  ihm gibt, bis zum heutigen Tag, um es auf dreieinhalb Milliarden
090  Esser zu bringen; in nur dreißig Jahren werden es sieben
091  Milliarden sein! Der Herr der Weltbank und ehemalige Vietnam
092  -Verbrenner, der Großkapitalist Robert McNamara, sagte zu
093  Jacobi: " Vielleicht bin ich besessen von dem
094  Übervölkerungsproblem. Aber ich kenne jemanden, der davon noch
095  besessener ist: Leonid Breschnew. " Wie sehr doch verbindet
096  gemeinsame Angst! Wie vorübergehend wird vor ihr die Angst von
097  gestern, die des Kommunisten vor dem Kapitalisten und umgekehrt:
098  sehen doch jetzt beide, daß sie nicht " rot " sind oder " gold
099  ", sondern weiß! Ein Alptraum, den Marx überhaupt
100  noch nicht träumen konnte - und der nicht falsch macht,
101  was er sagte, der es aber doch relativiert. Kein vernünftiger
102  Praktiker im Kreml wird heute mehr - es sei denn, er habe an
103  einer Propagandarede für den Kongo zu schreiben - behaupten,
104  das gegnerische Wirtschaftssystem sei der Vater des Unglücks
105  einer übervölkerten Welt. Wer selber eine Flotte mit Weizen in
106  ein Hungergebiet zu verschiffen hat, würde vermutlich gern den
107  Professor Marcuse um Rat bitten, da der so hochgemut erklärt:
108  seine Idee der Befreiung von der Überflußgesellschaft gründe
109  auf einer " starken und reichen materiellen Basis. Diese Basis
110  versetzt die Gesellschaft in die Lage, die materiellen und
111  kulturellen Bedürfnisse besser zu entwickeln und zu befriedigen als
112  je zuvor. " Von " Gefahren " des Überflusses schwärmen
113  hören, während man soeben Jacobis in Stahl geätzte Zeichnung
114  einer realen Weltkatastrophe betrachtet hat: das ekelt
115  einen an wie die Klagen einer Millionärin, die über die "
116  Gefahren " weint, die der Jeunesse dor‚e durch die "
117  Luxusverwahrlosung " drohen - während man weiß, daß selbst in
118  Westdeutschland noch Barackensiedlungen stehen, in denen drei
119  Kinder ein Bett haben und sieben Familien ein Klo.
120  In dieser Welt, in der drei von fünf Bewohnern - vielleicht
121  auch vier von fünf - niemals satt werden: ist Marcuses Aufruf
122  zur " Befreiung " von der Überflußgesellschaft - die
123  Fieberkurve, die die Jenseitsträume eines marxistischen
124  Spätscholastikers bezeichnet; ebenso diesseits-feindlich
125  malten um 1430 die letzten christlichen Scholastiker ihr
126  weltverschontes Jenseits sich aus, während längst der Aufruhr
127  der Renaissance neue Realitäten geschaffen hatte. Die
128  Geschichte ließ sich nie auf eine Formel bringen, etwa
129  auf den Antagonismus der Klassen - und wir hüten uns,
130  Breschnews Albtraum auf nur strategische Gründe zurückzuführen.
131  Natürlich weiß er, daß Maos China jeden Morgen
132  zehntausend Rekruten mehr hat als am Vorabend; weiß Gott sei
133  Dank auch, daß selbst dann, wenn Rußland moralisch und
134  technisch " befähigt " sei, jeden Monat eine Million Chinesen
135  hinzuschlachten, am Ende jedes Monats doch mehr lebten als bei
136  Beginn. Nein, wir wollen ausdrücklich unterstellen, Breschnew
137  habe rein ökonomische Sorgen, die gleichen, die auch in Peking
138  jeder Vernünftige teile. Denn schon am Ende der siebziger Jahre
139  wird das die bedrückende Sorge des Planeten sein: wie
140  sollen wir satt werden? Dies Buch Jacobis - wie schon stets
141  jedes gründliche Geschichtsbuch - würde allein genügen,
142  Hegels Grundsatz von der weltlichen Hervorbringung des
143  christlichen Prinzips " in Gestalt der menschlichen Vernunft und
144  Freiheit " zu widerlegen - und dieser Grundsatz, der allen
145  Geschichtsphilosophien von der Aufklärung bis zu Spengler, der
146  gegen ihn antrat, gemeinsam ist: wie bescheiden nimmt er sich noch
147  aus, wie vorsichtig gegenüber Herbert Marcuses naturverleugnendem
148  Entwurf einer " neuen Anthropologie "! Im Sophokles steht: "
149  Der Tag deines Sieges zeugt dein Ende schon " - und wer
150  eine Witterung für Geschichte hat, der spürt: noch immer und
151  ohne Ausnahme folgte der Nike die Nemesis. Mit modernem
152  Vokabular: die Ökologie hält die Zahl der Schrecken und
153  Aufgaben konstant. Sie sorgt dafür, daß in jedem Zeitalter
154  wahr bleibt, was Freud schrieb: " Die Absicht, daß der
155  Mensch " glücklich " sei, ist im Plan der " Schöpfung "
156  nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt,
157  entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter
158  Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches
159  Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip
160  ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Bahagen ".
161  Soweit der Mensch. Und seine Geschichte? Hegel schrieb: "
162  Die Weltgeschichte ist nicht der Boden unseres Glücks " - und
163  wahrhaftig, während dies geschrieben wird, zermetzelt man zwei
164  Völker - von zweien wissen wir es, am Amazonas und in
165  Biafra, und stets wurde gemetzelt, eine unaussprechliche
166  Banalität, doch scheint es, man muß daran erinnern in einer
167  Zeit, in der ein Philosoph vom Einfluß Herbert Marcuses der
168  akademischen Jugend der westlichen Wohlstandsgesellschaft
169  unwidersprochen erzählen kann, nur ein vorübergehendes
170  Gesellschaftssystem - das kapitalistische - brauche man über
171  Bord zu werfen, um befreit zu sein von dem, was so alt ist wie der
172  erste Brudermord, von den Schrecken der menschlichen Natur!
173  Jacobi beginnt sein Buch: " Während Sie diesen Satz mit
174  normaler Geschwindigkeit lesen, werden auf der Erde elf Kinder
175  geboren. In der gleichen Zeit sind fünf Menschen gestorben.
176  Die sechs Köpfe Unterschied zwischen den Lebenden und Toten
177  eines Satzes sind tödliches Leben, die umfassendste Gefahr, die
178  der Menschheit seit ihrem Entstehen droht: Überbevölkerung
179  ". Daß die Geschichte eine Hydra ist, der ein neues
180  Schlangenhaupt wächst, sobald man eines abgehauen hat: Marcuse
181  ist dieser Aspekt, der ja nicht pessimistisch ist, sondern
182  sachlich, eine Erfahrungstatsache, vollkommen fremd. Jacobis
183  Buch gibt unvergeßbare Parabeln der kafkaesken Absurdität immer
184  neu überraschender historischer Situationen. Da ist das
185  diabolische Paradoxon, daß die Medizin, weil sie dem
186  einzelnen hilft, die Menschen insgesamt in steigendem Maß
187  gefährdet: je länger sie dem einzelnen dessen Leben zu fristen
188  vermag, je schlimmer für die anderen. Oder: Hungersnöte
189  stoppen die Bevölkerungsexplosion nicht, da hungernde Völker
190  unverhältnismäßig viel fruchtbarer sind als satte. Oder: ist
191  endlich der Klassenkampf zwischen uns Weißen durch annähernden
192  Ausgleich, durch Kompromisse entschärft - so stiftet der
193  Weltgeist, wer oder was immer das sein mag, den Klassenkampf
194  zwischen den Rassen: nämlich zwischen der einen,
195  die reich ist, und den drei anderen, die arm sind, zwischen den
196  Weißen einerseits - und den Roten, Gelben und Schwarzen auf
197  der anderen Front. Oder: je rasanter die Technik eingreift, um
198  Not zu lindern - je schneller wächst die Not der
199  Arbeitslosigkeit. Oder: " Es ist unsre tiefste Empfindung,
200  unsere Liebe, die uns die Saat der Vernichtung pflanzen läßt.
201  Jene, die wir über alles lieben, unsere Kinder, machen wir
202  selbst zu Trägern des Untergangs, indem wir zu viele gebären.
203  Das, was gut in uns ist, zeugt eine böse Welt. " Als habe ein
204  Teufel des Hieronymus Bosch die Welt geschaffen - aber es
205  scheint, wie jedem gläubigen Marxisten, wie selbst dem großen
206  Brecht, ist auch dem Herbert Marcuse ein tragisches
207  Lebensgefühl absolut fremd. Einsichten, die schon im Prediger
208  Salomo stehen - verlacht er sie? " Da lobte ich die Toten (...)
209  mehr denn die Lebendigen, und besser noch denn alle beide ist, der
210  noch nicht ist (...) Ich wandte mich um und sah, wie es unter der
211  Sonne zugeht, daß zum Laufen nicht hilft schnell sein, zum
212  Streit nicht hilft stark sein, zur Nahrung nicht hilft geschickt
213  sein, zum Reichtum nicht hilft klug sein (...) sondern alles liegt an
214  Zeit und Glück. " Sollte daran etwas ändern, was Menschen
215  eine " neue Ordnung " nennen? Skepsis, Angst - Regulative
216  eines ausufernden Optimismus sind keine Lizenz, die Hände in den
217  Schoß zu legen. Im Gegenteil. " Das Meer pflügen ", sagte,
218  von Kämpfen ausgenüchtert, Sim¢n Bol¡var über
219  seine Versuche, die Völker Lateinamerikas zu befreien - und
220  pflügte doch und wurde der aktivste aller Revolutionäre
221  beider Amerikas. Aber dann sollte auch ein Philosoph, der sich
222  als Politiker versteht und der Jugend einer glückverdummten
223  Wohlstandsgesellschaft die Augen öffnen könnte dafür, daß ihr
224  Wohlstand, ihr Glück verpflichtende - und sich verflüchtende
225  - Ausnahmen in einem Weltmeer wachsenden Unglücks und
226  wachsenden Hungers sind, dann sollte auch er, Marcuse,
227  pflügen auf dem Boden dieses Lebens, anstatt den Boden
228  des Gartens Eden vorzubereiten zur Aufnahme des heute noch nicht
229  existierenden " neuen Menschen "! Wenn Marcuse am Ende seines
230  Essays den Defätismus der Intellektuellen verdammt: er selber
231  flieht - wie einst der deutsche Jüngling die Blaue Blume der
232  Romantik suchte - in eine Welt absoluter Maßstäbe, denen
233  niemand, der sterblich ist, zu genügen vermag, während Jacobi
234  noch hoffnungsvoll, aber nicht hochfliegend auf die " Grüne
235  Revolution " setzt, die mindestens verhindern könne, daß in den
236  kommenden zwei Jahrzehnten der Hunger rascher wachse als die
237  landwirtschaftliche Produktion. Er zitiert Swift: " Wer zwei
238  Kolben Korn oder zwei Halme Gras auf einem Fleck Erde wachsen
239  lassen kann, wo vordem nur einer wuchs, hat für die Menschheit
240  und sein Land mehr getan, als die ganze Spezies der Politiker
241  zusammen. " Und belegt, daß der Wissenschaft genau dies -
242  vielleicht zu unserer Rettung - bei den zwei wesentlichsten
243  Nahrungsmitteln geglückt ist, bei Weizen und Reis.

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