Quelle Nummer 315

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE

INNERE AUSREDE
GABRIELE WOHMANN
SELBSTVERTEIDIGUNG
PROSA UND ANDERES
HERMANN LUCHTERHAND VERLAG, NEUWIED UND BERLIN 1971,
S. 214-


001  Innere Ausrede. Er hat immer noch Halsweh. Er wartet
002  an der Sperre. Das hat er sich ebenfalls genau überlegt. Auf
003  dem Perron könnten sie sich nämlich verfehlen. Er wird dieses
004  Halsweh überhaupt nicht mehr richtig los. Der neue Arzt lehnt
005  die Methoden des früheren Arztes ab und ätzt nicht mehr. Bei
006  der Begrüßung möchte er nicht unbedingt nach Halstabletten
007  riechen, daher versagt er sich die Erleichterung durch Borocain.
008  Er ist eigentlich erst jetzt ziemlich aufgeregt und unfähig, seine
009  Erwartung näher zu bestimmen. Die Person, deren Zug nur noch
010  wenige Kilometer vom Bahnhof entfernt ist, bleibt
011  selbstverständlich ganz auf Vermutungen angewiesen, wenn sie sich
012  seine Empfindungen vorstellt. Vielleicht könnte er doch
013  herausbekommen, ob er sich nicht so sehr freut oder wie sehr er sich
014  überhaupt freut, aber das beträfe dann nur diese Minuten jetzt an
015  der Sperre, denn selbstverständlich freut er sich, so bald er
016  alles Bedenkenswerte berücksichtigt. Etwas behagt ihm nicht. Er
017  hat zum Beispiel nichts übrig für Herzklopfen. Der Zwiespalt
018  ist zwar nicht groß genug, um ihn von einem ausreichend zärtlichen,
019  verworrenen Lächeln abzubringen, aber doch daran schuld, daß
020  er der Person den Koffer ein paar Sekunden zu spät aus der Hand
021  nimmt. Er sagt, hier sei es nicht nötig, sich zu ducken. Hier
022  kennt uns keiner. Seine Körperhaltung ist ohnehin ziemlich gerade,
023  aber wenn er das Gefühl hat, er müsse sich verstecken, kommt
024  er sich leicht gekrümmt vor. Das erzählt er, so daß die Person
025  es diesmal weiß. Das Nordhotel liegt günstig, sagt er. Es
026  liegt dem Bahnhof schräg gegenüber. Wieso liegt es also günstig?
027  Die Person hat ja kein schweres Gepäck, sie hat außerdem
028  genug Zeit. Nachmittags sieht das Zimmer genau so übel aus wie
029  morgens, der Ausblick desgleichen. Man muß hier sofort wieder
030  raus. Man hätte doch mehr dranhängen sollen. Es ist unmöglich,
031  sich hier drin die Nacht vorzustellen. Seinem Vorschlag,
032  spazierenzugehen, wird zugestimmt. Er soll nicht dabei zusehen,
033  wenn die andere Person sich frisiert, auch beim Händewaschen
034  nicht. Das wirkt freilich übertrieben, aber nebenbei ganz nett.
035  Er legt es jetzt noch gar nicht darauf an, die Person heimlich
036  dabei zu beobachten, wie sie den Pullover über den Kopf - wie
037  sie mit dem was sie darunter anhat - und was er ebenfalls nicht
038  weiß, denn er sieht wirklich nicht hin. Wo man sehr schön
039  spazierengehen kann, wo man ungestört ist, weiß er. Der
040  Hinweis darauf, irgendwo ungestört sein, irritiert undeutlich.
041  In diesem Zimmer wirkt er geradezu töricht. Sie verlassen es und
042  suchen einen Platz auf, an dem sie etwas weniger ungestört sein
043  werden. Er ist jetzt einfach lieber noch nicht mit der Person
044  völlig allein. Das häßliche Zimmer im Nordhotel trägt nicht
045  die volle Verantwortung. In der Stadt kennt er sich schon so
046  einigermaßen aus, er hat das Netz der Buslinien und der wenigen
047  verbliebenen Straßenbahnlinien im Kopf. Er lernt rasch, sich in
048  Städten zurechtzufinden, rasch beherrscht er komplizierte
049  Stadtpläne. Er erzählt ein Beispiel für besonders schwierige
050  Orientierung. Überhaupt geht er ausgesprochen gern durch Städte.
051  Aus Topografie macht er sich viel. Für den heutigen Gang
052  bietet sich der Stadtpark an. Es fällt das Wort Ruhe. Wozu er
053  die Ruhe will, könnte er definieren, der Erinnerung nach, dem
054  allgemeinen Übereinkommen nach. An der Bushaltestelle müssen
055  sie warten. Kammermusik betreibt er jetzt nur noch zum Vergnügen.
056  An dem Bauwerk gegenüber kann er der Person ganz gut
057  griechische Ornamente demonstrieren, die Perlschnur, das
058  Wellenband, die Palmette, das Eierstabskymation, aber es ist
059  alles nur Nachahmung. Es hat sich gelohnt, daß er von der Musik
060  in die Wirtschaft umgestiegen ist, wodurch die schöngeistigen
061  Interessen privaten Charakter annahmen, obwohl doch alle erwartet
062  hatten, er werde nicht nur versagen, sondern auch sich unglücklich
063  fühlen. Im Gegenteil, sagt er, als sie einsteigen müssen.
064  Sie erwischen die letzten Sitzplätze nebeneinander. Er
065  verzichtet auf den Fensterplatz, wie es sich von selbst versteht,
066  so daß es sich um Verzicht gar nicht handelt. Immerhin hat er,
067  begünstigt vom Warten auf den Bus, mittlerweile doch schon so
068  einiges geredet, darunter Persönliches. Seine Stimme blieb
069  dabei leise und widersetzte sich. Während der Fahrt beugt er sich
070  manchmal vor, sein Oberkörper im Regenmantel schiebt sich näher
071  an die ihm benachbarte Person heran. Ja, den braunen Regenmantel
072  hat er satt gehabt und sich einen blauen gekauft. Enttäuschung
073  hierüber, die ihm versichert wird, amüsiert ihn nun wirklich.
074  Wenn er sich vorbeugt über den Nachbarplatz, nicht um der Person,
075  sondern um dem Fenster näher zu sein - denn er bleibt bei der
076  Sache, immer geht es ihm um etwas Bestimmtes - dann will er auf
077  markantere Bauwerke der Innenstadt hinweisen, er benennt ein
078  Denkmal und einen größeren Platz. Es zeichnet sich jetzt schon
079  ab, daß er in dieser Stadt zur Kammermusik, etwa zum Triospiel,
080  später vielleicht zum Quartettspiel, Gelegenheit finden wird.
081  Von einem zweiten Platz weiß er den Namen merkwürdigerweise
082  nicht, der Name fällt ihm nicht ein. Kalt läßt ihn das nicht.
083  Seine Gedächtnislücken erschrecken ihn. Er lacht aber - aber
084  weil es ihm wirklich nicht egal ist. Unter anderem zeigt er der
085  Mitfahrerin eine abzweigende Straße. Sie verläuft gegenüber
086  einer der Bushaltestellen in westlicher Richtung. Es steigen
087  viele Leute aus, es steigen einige Leute ein. Also bleibt ihm
088  etwas Zeit zum Erklären. Diese Straße runter, dann die erste
089  rechts, das vierte Haus rechts. In dessen drittem Stockwerk
090  befindet sich die Wohnung, mit der er ganz schön Glück gehabt
091  hat. Die Gegend ist nicht schlecht, er hört gern, daß dies die
092  Person bestätigt; ja: ruhig und doch fast noch zentral. In
093  zwei Monaten zieht er hier ein. Zur Wohnung gehört sogar ein
094  zusätzliches Zimmer unterm Dach. Sein Arbeitsplatz ist
095  ebenfalls nicht weit entfernt. Mit dem gleichen Bus, mit dem Bus,
096  in dem wir eben sitzen - sagt er, fahre ich dann täglich. Das
097  ist der erste Augenblick seit der Begrüßung - von einer
098  Andeutung im Nordhotel abgesehen - in dem zwischen ihnen etwas
099  von der gewohnten, auch geplanten, von der törichten,
100  erwärmenden Zärtlichkeit aufkommt; aber der Augenblick wird
101  nicht vollwertig und hört auf. Bisher kennt seine Frau die
102  Wohnung nur aus seiner Beschreibung, macht aber bereits
103  Anschaffungen. Warum nicht? Seine Beschreibungen pflegen doch
104  deutlich zu sein, sie sind wahrscheinlich aufschlußreicher als
105  Inspektionen durch weniger genau beobachtende Leute. Sie lachen
106  so gut wie gar nicht. Auch im Stadtpark achten sie auf einen
107  kleinen Abstand zwischeneinander. An diesen kleinen Abstand sind
108  sie gewöhnt. Er erinnert sich sogar komischerweise noch an die
109  Nummer seiner Abteilung bei der Heeresflak, 278, während ihm
110  viel aktuellere und auch nützlichere Zahlen, Daten und
111  Ereignisse entfallen. Es ist ganz sinnlos. Der nicht
112  asphaltierte Parkweg tut seinen empfindlichen Füßen gut. Füße
113  und Hals: neuralgische Punkte bei ihm. Jetzt erlaubt er sich
114  ein Borocain. Die Person mag übrigens den Geruch des Borocain.
115  Er könnte sie natürlich in dieser vorläufig noch neutralen und
116  außerdem menschenleeren Umgebung unterfassen, er könnte ihre
117  Hand nehmen, seinen Arm um ihre Schulter legen, und so weiter.
118  Daran sind sie nicht gewöhnt. Deshalb wüßten sie nicht einmal,
119  ob sie sich etwas daraus machen würden. Sie warten ab. Der
120  Moment rückt sowieso auf sie zu. Sie verhalten sich
121  umsichtigerweise passiv. Auch wenn sie einander streifen, weil
122  kein Mensch immer ganz korrekt geradeaus geht, hat das mit Absicht
123  nichts zu tun. In das zusätzliche Dachzimmer kann der älteste
124  Sohn einziehen, aber darüber gehen noch Jahre hin. Das ist noch
125  Zukunftsmusik, sagt er. Zukunftsmusik sagt er sonst nicht. Er
126  ist mit seiner Wortwahl nicht besonders zufrieden: eine Vermutung
127  der Person, und es vergeht. Dann die Waffenschule der
128  Artillerie, Lehrstab soundsoviel. Siehst du, an diese Zahl
129  erinnere ich mich nicht mehr. Daß die Person " wie beruhigend "
130  sagt, versteht er kurz darauf. Andere Zahlen hat er nicht
131  vergessen: zu 50 in einem Schlafsaal, zu 11.in einem
132  Wohnwagen. Nein, sagen wir: Schäferkarren, das wars. Aber
133  er ist gar nicht der Typ, der Kriegserinnerungen erzählt. Er
134  beschreibt den Schäferkarren. Sie biegen in Richtung Teich ab.
135  Er knotet den Schal jetzt anders um seinen empfindlichen Hals.
136  Das Dachzimmer wird vorläufig untervermietet. Er möchte
137  überhaupt nicht davon sprechen. Er möchte auch überhaupt nicht
138  an die öden saublöden brauchbaren Zimmer der Wohnung denken. Er
139  macht damit immer weiter. Die Person scheint es ja nebenbei zu
140  interessieren. Zum Beispiel fragt sie nach den neuen Möbeln,
141  offenbar will sie auf den Geschmack seiner Frau schließen. Jetzt
142  fällt ihm eine zusätzliche Idiotie ein und er fragt die Person
143  neben ihm, ob nicht sie sich als Untermieterin des Dachzimmers
144  vormerken lassen wolle. Sie lachen beide. Das verleitet ihn dazu,
145  den öden saublöden unbrauchbaren Gedanken weiterzuverfolgen:
146  Ich bin ein besonders aufmerksamer Vermieter, ich muß mich
147  wirklich empfehlen. Sein Lachen hört sich wie die Fortsetzung
148  des Satzes an. Seine Stimme ist ihm selber zu vorsichtig. Er
149  müßte sich jetzt räuspern, um irgendsoeine Stelle von Schleim
150  freizukriegen. Aber er widersteht der Versuchung, jener
151  tückischen Vertikalmechanik des Kehlkopfs nachzugeben, die
152  befriedigt, indem sie verschlimmert. Meine Qualitäten als
153  Untervermieter sind noch unentdeckt, aber in diesem Falle bin ich
154  doch bereit, für sie zu garantieren. Er merkt, daß es
155  überhaupt nichts zu lachen gibt. Bei dieser Feststellung drückt
156  seine rechte Hand kurz den linken Oberarm der neben ihm hergehenden
157  Person. Einen Augenblick scheint es so, als würden sie
158  stehenbleiben und als wäre dies der Augenblick. Er nimmt es zu
159  seinem eigenen Erstaunen der Person und nicht sich selber übel -
160  kaum übel, nicht nennenswert übel - daß weitergegangen wird.
161  Immerhin erreichen sie auf diese Weise den Teich und das war ja
162  ihre Absicht. Er kann es sehr lang aushalten, ohne ein Wort zu
163  reden. Im Grunde redet er der Person zuliebe. Er würde sich
164  besser fühlen, wenn er wie ein Denkmal im Sessel sitzen könnte.
165  In dieser Umarmung sieht er wie eine monströse Wespe aus. Beim
166  Aufwachen mißt er zuerst mal seine Temperatur. Die Schmerzen im
167  Hals haben sich seitlich verlagert. Er hat wieder nur 37,1.
168  Sie nehmen diesmal das Auto. Darin sitzt die Person
169  selbstverständlich auf dem Stammplatz seiner Frau. In dem Fach
170  vor dem Stammplatz steckt ein alter Handschuh seiner Frau, mit
171  dem wird manchmal ein Ölfleck oder ein auf der Windschutzscheibe
172  zerplatztes Insekt weggewischt. Immerhin ist er fast ein
173  Deserteur. Ich bin im Zug sitzengeblieben, anstatt in
174  Bitterfeld auszusteigen, kommend vom Umkreis Pilsen, Zielort:
175  Berlin. So habe ich Naumburg erreicht. Bei diesem Abschied
176  wollen sie beide nicht sentimental werden, überdies hat er
177  erfreulicherweise zum Beispiel schon ausgerechnet, wie viel Tage
178  Trennung ihnen bevorstehen. Was man in einer Zahl fassen kann,
179  ist ihm sofort sympatischer. Für mich wird diese alberne Tagung
180  nur Mittel zum Zweck sein, sagt er, es entspricht aber nicht ganz
181  der Wahrheit, denn sein Beruf fasziniert ihn beinah. Weil er das
182  jedoch nicht weiß, macht es der Person nichts aus. Er sitzt am
183  letzten Tisch in dem Teil des Saales, wo er Ruhe hat. Hier
184  lenkt ihn das Kommen und Gehen im Bereich des Tresens, des
185  Foyers, der Tür zu den Waschräumen nicht vom Essen ab. Er
186  kann sich auch in Ruhe mit den paar Leuten unterhalten, mit denen
187  er sich ganz gern unauffällig abkapselt. Es sieht ja nicht weiter
188  nach Isolation aus. Er wendet sich jetzt aber ab, Blick
189  Richtung Eingang, er vergißt den Bissen auf der Gabel, den
190  Gesprächspartner. Bis die Sache in Ordnung kommt. Die Person,
191  die er eintreten sah, hat ihn sofort in dem Gewühl gefunden.
192  An seinem Tisch muß man jetzt ein bißchen zusammenrücken.
193  Einige Leute geben, wie Medien gefügig, dem unerklärten
194  Wunsch nach, und es ergibt sich ein freier Platz neben ihm. Zum
195  Glück ist das kein geräumiger freier Platz. Er und die Person
196  müssen eng aneinanderrücken. Sie haben die von ihm errechneten
197  118 Tage geschafft. Darüber wird kein Wort verloren. Seine
198  Unterhaltung mit dem Kollegen rechts schräg gegenüber geht weiter,
199  andere kommentieren. Er beantwortet eine Frage mit Ja, das
200  empört ihn genau so wie den Fragesteller, ja. Ja: man kann
201  sich nicht draußenhalten. Es verschlägt ihm nicht den Appetit.
202  Die Spezialisten sind ungeeignet, uns über uns Auskunft zu geben.
203  Er wird auf jeden Fall seinen Teller leer essen. Tränen im
204  Polizeirevier 181. Unnachgiebigkeit ist ein Wort, das er nicht
205  laut ausspricht. Glauben Sie auch, daß der Begriff des
206  Privaten in der modernen Industriegesellschaft seinen kritischen
207  Inhalt verloren hat? Nun, er würde vorsichtshalber
208  einschränkend " da und dort " sagen. Diesmal haben seine
209  chronischen Erkältungsbeschwerden weiter um sich gegriffen und das
210  linke Ohr erreicht. Weil sie nicht genügend Ruhe haben, weil
211  sie nicht ungestört sind, drückt die Person eigentlich ungeniert
212  den Wattebausch tiefer in seine Ohrmuschel. Ja, gibt er jemandem
213  zu, es ist ein empörender Zwischenfall. Er erinnert sich
214  überhaupt nicht mehr an Borocain, denn er nimmt jetzt längst ein
215  anderes Medikament.

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