Quelle Nummer 313
Rubrik 11 : LITERATUR Unterrubrik 11.02 : POETIK
MATERIALISTISCHE LIT.-WISS.
W. GIRNUS/H. LETHEN/F. ROTHE
VON DER KRITISCHEN ZUR HISTORISCH-MATERIALISTISCHEN
LITERATURWISSENSCHAFT
VIER AUFSAETZE
OBERBAUMVERLAG BERLIN 1971, S. 58-
001 Werner Girnus. Neue bürgerliche Forschungen zum
002 18.Jahrhundert und Franz Mehrings " Lessing-Legende "
003 Historisch-materialistische Geschichtsdarstellung
004 als ideologische Waffe im Klassenkampf. In den Debatten über
005 marxistische Literaturwissenschaft, die seit der Studentenbewegung
006 im Bereich der Germanistik mit Heftigkeit geführt worden sind,
007 wurde viel darüber diskutiert, wie die Ästhetik von Marx, wenn
008 er sie hinterlassen hätte, aussehen würde; oder welche
009 Literaturtheorie den Marxschen Kategorien der politischen
010 Ökonomie am ehesten adäquat seien. Von dem bedeutendsten
011 Literaturhistoriker der Arbeiterbewegung, Franz Mehring, dessen
012 Hauptwerke, " Die Lessing-Legende " und die beiden ersten
013 Bücher der " Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ",
014 Musterbeispiele des historischen Materialismus sind, war jedoch in
015 diesen Debatten als ernstzunehmende Alternative zu der bisherigen
016 bürgerlichen Literaturwissenschaft nicht die Rede. Anstatt nun
017 die Marxschen und Engelsschen Zitate über das Verhältnis von
018 Basis und Überbau, Sein und Bewußtsein wieder von neuem
019 anzuführen und zu interpretieren, werden hier, am Beispiel der
020 Lessing-Legende als einem ausgeführten Werk des historischen
021 Materialismus, die Stoßrichtung und der Schwerpunkt
022 materialistischer Literaturwissenschaft entwickelt und in ihrer
023 Leistung mit den Resultaten linksbürgerlicher
024 Literaturwissenschaft verglichen. Mehrings Lessing-Legende
025 konzentriert sich, als hervorragendes Beispiel materialistischer
026 Literaturwissenschaft, auf drei Schwerpunkte: Sie stellt
027 eine prinzipielle Kritik an bürgerlicher Geschichts
028 wissenschaft und Literaturwissenschaft dar. Spezieller
029 Gegenstand der Kritik ist das Lessingbild der bürgerlichen
030 Geschichtsschreibung im 19.Jahrhundert. Das Urteil von
031 Heine, Gervinus, Danzel, Stahr, Lassalle, Scherer und
032 Erich Schmidt über Person und Werk Lessings führt Mehring auf
033 die Klassenpolitik des deutschen Bürgertums im 19.Jahrhundert
034 zurück. Mehring zeigt, wie politische Ursachen, Änderungen
035 und Umschwünge der bürgerlichen Klassenpolitik in die Gestalt
036 literaturwissenschaftlicher Aussage eingehen. In beispielhafter
037 Weise veranschaulicht er den Bedingungszusammenhang des politischen
038 Klasseninteresses und der Herausbildung bestimmter
039 geschichtsideologischer Formen auf dem Sektor der
040 Literaturwissenschaft. Mehring zeigt, wie die Lessing-
041 Legende durch schrittweises Verschweigen und Verfälschen der
042 antiabsolutistischen, fortschrittlich-bürgerlichen Momente in
043 Leben und Werk Lessings gebildet und ausgestaltet worden war;
044 wie die Verunstaltung der antifeudalen Oppositionshaltung Lessings
045 aus dem politischen Interesse des deutschen Bürgertums entspringt,
046 das angesichts des Erstarkens der proletarischen Klasse auf eine
047 Politik des Kompromisses und des Bündnisses mit der Hohenzollern
048 -Dynastie und dem preußischen Junkertum hinsteuert. In der
049 Logik dieser Klassenpolitik ist das geschichtliche Bewußtsein
050 eines kämpferischen Antifeudalismus, von dem das Werk Lessings
051 zeugt, ein Fremdkörper, der entfernt werden müßte. Die
052 Lessing-Legende Mehrings enthält nach einem Wort von Engels
053 die " bei weitem beste Darstellung der Genesis des preußischen
054 Staates " (Brief von Engels an Mehring vom 14.Juli 1893).
055 Zugleich entlarvt Mehring in materialreicher Darstellung die
056 preußenfreundliche bürgerliche Geschichtsschreibung als
057 Geschichtsklitterung. Auch hier beruhten die
058 Geschichtsfälschungen auf Klasseninteresse-Positionen der
059 deutschen Bourgeoisie. Schließlich zeichnet Mehring die
060 Umrisse einer Lessingbiographie vom Standpunkt des historischen
061 Materialismus: Die Frage nach Lessings Standpunkt in den
062 politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit ist die zentrale
063 Frage der Untersuchung. Mehring demonstriert, wie stark das
064 literarische Schaffen Lessings von der Parteinahme gegen die
065 indeellen und materiellen Bastionen des Feudalabsolutismus und für
066 die Ideale der bürgerlichen Aufklärung geleitet ist. Dabei hebt
067 Mehring den literarischen Charakter der antifeudalen
068 Oppositionshaltung Lessings hervor. Er konstatiert die
069 Notwendigkeit dieses literarischen Charakters mit dem Hinweis auf
070 die ökonomische und politische Schwäche der bürgerlichen Klasse
071 zu Lebzeiten Lessings. Diese gewiß sehr summarische Angabe der
072 hauptsächlichen Themen historischer Untersuchung in der Lessing
073 -Legende beleuchtet dennoch hinreichend den besonderen Charakter
074 dieser Schrift. Die Lessing-Legende war unter den
075 politischen Bedingungen der wilhelminischen Epoche nicht eine
076 Anwendung des historischen Materialismus auf ein beliebiges
077 historisches Thema. Mehring hat unter polotischem Gesichtspunkt
078 den Gegenstand der historischen Untersuchung ausgewählt. Er nahm
079 damit den ideologischen Kampf auf gegen die Verherrlichung des
080 preußisch-deutschen Staates und der Hohenzollerndynastie in
081 der bürgerlichen Geschichtsschreibung und Publizistik. In der
082 Bekämpfung einer bestimmten Spezies herrschender Gedanken als den
083 Gedanken der Herrschenden erweist die Lessing-Legende ihre
084 Stärke. Mehring hat von sich gesagt: " Es war meine Ehre und
085 mein Glück, ein Parteischriftsteller zu sein. " Diese
086 Selbstkennzeichnung verdient bei der Würdigung der Lesing-
087 Legende besondere Beachtung. Mehring kehrte um das Jahr 1890 der
088 bürgerlichen Linken den Rücken und begab sich in das Lager der
089 Sozialdemokratie. Seit 1891 arbeitete er in der " Neuen Zeit "
090 mit, dem wöchentlich erscheinenden theoretischen Organ der
091 deutschen Sozialdemokratie; dort veröffentlichte er ab 1892 in
092 der Form einer Artikelserie die Aufsätze, die 1893 zu einem
093 Buch zusammengefaßt und erweitert unter dem Titel " Die Lessing
094 -Legende. Zur Geschichte und Kritik des preußischen
095 Despotismus und der klassischen Literatur " erschienen sind.
096 Auch die Lessing-Legende ist also eine Schrift des
097 Parteischriftstellers Mehring. Sie ist ein Dokument der
098 politischen Parteilichkeit im Bereich der historischen
099 Untersuchung. Parteilichkeit heißt hier: nicht nur Anwendung
100 des historischen Materialismus, sondern auch Verpflichtung auf den
101 Standpunkt der Arbeiterklasse, auf die sozialdemokratische Partei,
102 deren Mitglied Mehring war. Parteilichkeit gegen die
103 herrschenden Ausbeuterklassen, deren geschichtliche Entwicklung
104 analysiert wird, und Parteilichkeit für die sozialdemokratische
105 Partei sind die politischen Fundamente, auf denen die historische
106 Untersuchung in der Lessing-Legende ruht. Hierin liegt der
107 Vorbildcharakter der Lessing-Legende als bedeutsames Beispiel
108 marxistischer Literaturwissenschaft. Richtet sich der Hauptstoß
109 der Lessing-Legende gegen die Geschichtsfälschungen der
110 bürgerlichen Historiker, so setzt sich Mehring darüberhinaus bei
111 der Darstellung des preußischen Despotismus mit politisch-
112 ideologischen Strömungen des Lassalleanismus in der deutschen
113 Arbeiterbewegung auseinander. Er entlarvt die Vorstellungen über
114 " Volkskaisertum " und " Staatssozialismus " als Illusionen
115 über den Fortschritt der deutschen Arbeiterbwegung, indem er
116 bestimmte historische Konstruktionen als Fundamente dieser
117 Theoreme zerschlägt. Indem die Lessing-Legende den
118 untrennbaren Zusammenhang der Klasseninteressen der
119 Hohenzollerndynastie und des preußischen Adels in der
120 geschichtlichen Entwicklung des brandenburgisch-preußischen
121 Staates bloßlegt, indem sie den Charakter dieser
122 Klasseninterssenverbindung seiner geschichtlichen Funktion nach als
123 reaktionär und fortschrittsfeindlich analysiert, richtet sie sich
124 entschieden gegen eine illusionäre Politik, die darauf abzielt,
125 das preußische Herrscherhaus als Bündnispartner der
126 Arbeiterklasse zu gewinnen. In der Lessing-Legende grenzt
127 sich Mehring besonders klar gegen Lassalle ab; er ordnet ihn in
128 den Kreis der bürgerlichen Ideologen ein, die zur
129 Legendenbildung über Lesing beitrugen. Diese Stellungnahme
130 gegen die Lassallesche Auffassung des preußischen Staats
131 konkretisiert Mehring in prägnanter Weise am Anfang des Kapitels
132 " Der brandenburgisch-preußische Staat ". Der
133 " ideologisch-hegelianischen Geschichtsauffassung " Lassalles
134 stellt er den historischen Materialismus, wie er von Marx
135 entwickelt wurde, entgegen. Franz Mehrings Leistung für die
136 Herausbildung einer marxistischen Literaturtheorie hat Hans Koch
137 in seinem Buch " Franz Mehrings Beitrag zur marxistischen
138 Literaturtheorie " (1959) richtungsweisend entwickelt. Anders
139 als noch Georg Lukacs in seinem Aufsatz " Franz Mehring "
140 (1933) benennt Koch in richtiger Weise Stärken und Schwächen im
141 theoretischen Werk Mehrings und analysiert sie vor dem Hintergrund
142 der wirderspruchsvollen Entwicklung der Linken in der deutschen
143 Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, zu deren führenden
144 Repräsentanten Franz Mehring gehörte. Kochs Buch ist ein
145 hervorragendes Beispiel solidarischer Kritik und hat nichts gemein
146 mit der Kritik, die in den Jahren der Studentenbewegung bei den
147 Bemühungen um die Entwicklung einer " kritischen " und
148 " emanzipatorischen " Literaturwissenschaft an Mehring geäußert
149 wurde. Diese falsche Kritik warf Mehring Vulgärmarxismus vor.
150 Der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule folgend,
151 äußerte sich dieser Vorwurf in der Klage, wie wenig subtil die
152 Deutung ästhetischer Phänomene bei Mehring sei, wie sehr
153 Mehring vorbeisehe an den widerspenstigen Momenten der Kunst und
154 Literatur, die der gesellschaftlichen Ableitung so schwer
155 zugänglich seien. Diese Kritik war völlig blind gegenüber der
156 eigentlichen Stärke Mehrings, die vor allem in der Lessing-
157 Legende hervortritt, nämlich den historischen Bewegungsprozeß
158 der Literatur aus dem Bewegungsprozeß der Klassen verständlich
159 zu machen und zu erklären. Mehrings Lessing-Legende
160 untersucht die Geschichte Deutschlands im 18.Jahrhundert am
161 Teilaspekt der Geschichte des brandenburgisch-preußischen
162 Staates als einer besonderen Ausprägung des absolutistischen
163 Staates: des Militärabsolutismus. Die Herausbildung des
164 Militärabsolutismus seit seinen Anfängen, die noch vor dem 18.
165 Jahrhundert liegen, ist dabei ein notwendiger Teil der
166 Untersuchung. Doch darin erschöpft sich die historische Analyse
167 nicht. Neben der Geschichte der feudalen Ausbeuterklassen ist die
168 Entwicklung des Bürgertums, der Anfang seines
169 Emanzipationskampfes gegen die feudalabsolutistische Ordnung in
170 seinem spezifisch theoretisch-literarischen Charakter
171 Gegenstand seiner Untersuchung. Person und Werk Lessings
172 repräsentieren diese frühe Etappe des antifeudalen Kampfes des
173 Bürgertums. Melancholie und Geisteskrankheit im 18.
174 Jahrhundert als avancierte Themenwahl bürgerlich-kritischer
175 Wissenschaft. Im Gegensatz zu Mehring, der in seinem Werk
176 über das 18.Jahrhundert in der Person Lessings den Kampf des
177 Bürgertums gegen den Feudalismus in den Vordergrund stellt, sind
178 die drei hier, vorgestellten neueren Untersuchungen durch ein
179 Eingehen auf die Opfer der feudalen und bürgerlichen
180 Unterdrückung gekennzeichnet. Die Untersuchungen von
181 Mattenklott, " Melancholie in der Dramatik des Sturm und
182 Drangs " (1968); Lepenies, " Melancholie und Gesellschaft "
183 (1969) und Dörner, " Bürger und Irre " (1969) zeigen
184 exemplarisch, wie sich avancierte bürgerliche Literatur
185 wissenschaft und Sozialwissenschaft dem Problem der
186 Erforschung des 18.Jahrhunderts zuwendet. Nicht nur in der
187 Wahl des Gegenstands un in der Methode, sondern auch in ihrer
188 politischen Konzeption unterscheiden sie sich grundlegend von
189 Mehrings historisch-materialistischem Vorgehen in der Lessing
190 -Legende. Während eines engen Zeitraumes von zwei Jahren
191 erschienen, fällt die Entstehung dieser Abhandlungen mit den
192 Höhepunkten, aber auch schon mit dem Abebben der
193 Studentenrevolte zusammen. Das ihnen gemeinsame Thema - die
194 Frage nach der psychischen Krankheit -, korrespondierte mit
195 bestimmten ideologischen Strömungen innerhalb der
196 Studentenbewegung. Die Raubdruckkonjunktur der Schriften von
197 Freud, Marcuse, Fromm, Wilhelm Reich u. a. beleuchtet
198 symptomhaft das damalige starke Interesse in weiten Kreisen der
199 studentischen Intelligenz an den Problemen der gesellschaftlichen
200 Ursachen psychischer Leiden. So nützlich für den einzelnen
201 Studenten die Erfahrung gewesen sein mag, die zerstörerische
202 Unvernunft der kapitalistischen Ordnung von Staat und
203 Gesellschaft am Beispiel der psychischen Deformierung der
204 Menschen zu erkennen, so phantastisch waren die Versuche, die
205 sich auf solche Einsichten beriefen, die revolutionäre Theorie
206 der Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus
207 " sozialpsychologisch " zu bereichern, ja den Lehren der Klassiker
208 erst dann eine kampfanleitende Mächtigkeit zuzugestehen, wenn
209 diese Bereicherung vollzogen sei. Bei den drei Autoren äußert
210 sich das Interesse an der Geschichte als ein Interesse an den
211 Erscheinungsformen psychischer Krankheiten und Leiden;
212 dichterische Werke fungieren vornehmlich als Quellengrundlage der
213 Untersuchung. Gemeinsam ist den drei Werken die Einsicht, daß
214 die Gründe für die Entstehung und Ausbreitung psychischer
215 Leiden sozialhistorischer Natur sind. Die drei Autoren erheben
216 implizit oder explizit den Anspruch, pathologische
217 Erscheinungsformen als sozialhistorische Probleme zu untersuchen.
218 Mattenklott geht von der Frage nach der sozialen Ursache der
219 Entstehung von Melancholie aus. Er vermutet ihre " Gründe in
220 Konkretem, etwa Sozialgeschichtlichem ". Seine Abhandlung
221 gliedert sich in zwei Hauptabschnitte. Im ersten Abschnitt
222 beschreibt er zeitgenössische Theorien über Ursachen und
223 Erscheinungsformen der Melancholie. Im zweiten Abschnitt
224 verarbeitet Mattenklott diese Theorien; er spricht ihnen für
225 seine Interpretation dreier Dramen (Klingers " Zwillinge ",
226 Leisewitz " " Julius von Tarent " und Lenzens " Hofmeister
227 ") " heuristischen Wert " zu. Der Verdacht liegt nahe, daß
228 hier ein Typ von Literatur aus einem anderen Typ von Literatur
229 erklärt werden soll: das Phänomen der Melancholie in den
230 Dramen aus der Reflexion der Melancholie in den zeitgenössischen
231 psychologischen Theorien. Wie weit ist dieser Ansatz vom
232 Historismus alten Schlags entfernt? Richtig ist, von der
233 sozialhistorischen Entstehung und Formung der Melancholie
234 auszugehen. Mattenklott hätte dann, die zeitgenössischen
235 Theorien über die Melancholie aufgreifend, zu einer Analyse der
236 politischen und sozialökonomischen Bedingungen vorstoßen müssen,
237 die im deutschen Bürgertum des 18.Jahrhunderts
238 Melancholiebildung förderten. Zwar setzt Mattenklott zu einer
239 sozialhistorischen Ableitung der Melancholie an, jedoch in
240 summarischer und daher unzureichender Form. Die " deutsche
241 bürgerliche Intelligenz " wird als im Zustand der "
242 gesellschaftlichen Ohnmacht " befindlich geschildert. Im Leiden
243 an der " subjektiven Machtlosigkeit " sieht Mattenklott die
244 psychologische Basis für die Entstehung und Verbreitung der
245 Melancholie als Teilmoment bürgerlichen Bewußtseins. Aber eine
246 präzise Benennung dieses Zustandes der " gesellschaftlichen
247 Ohnmacht ", seine Konkretisierung durch eine zumindest die
248 Grundzüge der politischen und ökonomischen Lage des Bürgertums
249 erfassende Beschreibung fehlt. Für die Darstellung der
250 Geschichte des deutschen Bürgertums im 18.Jahrhundert ist die
251 Ermittlung des damaligen Entfaltungsniveaus der bürgerlichen
252 Produktionsweise unerläßlich. Das konkrete Erfassen des sich
253 verschärfenden Widerspruchs zwischen der zunehmenden Entfaltung
254 der Produktivkräfte und den feudalen Produktionsverhältnissen,
255 die mehr und mehr zur Fessel der wirtschaftlichen Entwicklung
256 werden, sowie die Kennzeichnung der Zuspitzung des politischen
257 Antagcnismus zwischen der herrschenden Feudalklasse und dem
258 Bürgertum bilden die Voraussetzung für eine wissenschaftliche
259 Erklärung der ideologischen Bewegungen dieser Zeit, als deren
260 Teilmoment auch das Phänomen der Melancholie behandelt werden
261 kann. Der materialistischen Geschichtsschreibung für das
262 Deutschland des 18.Jahrhunderts stellen sich also zwei
263 wesentliche Fragen: Welches sind die besonderen
264 sozialökonomischen Ausgangsbedingungen in Deutschland hinsichtlich
265 der für die bürgerlich-kapitalistische Ökonomie
266 unerläßlichen Prozesses der Herstellung eines einheitlichen
267 nationalen Wirtschaftsraumes und der Eroberung des inneren Marktes?
268 Welches sind Form und Inhalte der Klassenpolitik des
269 Bürgertums, mit der die bürgerlich-kapitalistische
270 Umwälzung der Ökonomie angestrebt wird? Die
271 Geschichtsschreibung der deutschen Literatur im 18.Jahrhundert
272 wird, wenn sie selbst die Klärung dieser Fragen nicht vornimmt,
273 sich zumindest auf Abhandlungen zur politischen und ökonomischen
274 Geschichte beziehen müssen, die diese beiden zentralen Fragen
275 erörtern. Fortschrittlicher und reaktionärer Charakter der
276 damaligen Bewegungen im ideologischen Bereich kann nur an dieser
277 doppelten Fragestellung, die in allgemeiner Form das bürgerliche
278 Klasseninteresse bis in die erste Hälfte des 19.Jahrhunderts
279 angibt, gemessen werden. Nur durch die Benennung der zentralen
280 sozialökonomischen und politischen Aufgaben, die das Bürgertum
281 im Kampf gegen den Feudalabsolutismus zu bewältigen hatte, kann
282 auch der Irrtum der Überbewertung einzelner ideologischer
283 Bewegungen gegenüber anderen vermieden werden.
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