Quelle Nummer 307

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE

MAX ERNST
DIE NACKHEIT DER FRAU IST WEISER ALS DIE LEHRE DES
PHILOSOPHEN
SPIEGELSCHRIFT 4
VERLAG GALERIE DER SPIEGEL, KOELN 1970
(OHNE SEITENZAEHLUNBG) VON ANFANG AN


001  Es ist mir nicht gegeben, den Spezialisten zu gefallen.
002  Weshalb bestehen sie hartnäckig darauf, mir Fragen zu stellen?
003  Zum Beispiel folgende: Was bezweckten Sie, als Sie den
004  Chant de la Grenouille (Froschgesang) malten? Auf diese
005  alberne Frage weiß ich nur eine heitere Antwort: " Den Frauen
006  zu gefallen ". Eine andere Frage: " Wohin entwickelt sich die
007  Malerei? " Antwort: " Das menschliche Auge ist mit Glas
008  -Tränen, geronnener Luft und salzigem Schnee bestickt. " F.:
009  Sind Sie Philosoph? A.: Mißverständnis von
010  Leuten, die die Schiffahrt auf dem Gras einer Frauenbüste
011  vorziehen. F.: Immerhin werden Sie im dictionnaire abr‚g‚
012  du Surr‚alisme als Theoretiker dieser
013  Doktrin bezeichnet. A.: Ich habe die Entstehung einer
014  Naturgeschichte erzählt, und das hat mir diesen Ruf
015  eingebracht. Aber Jenseits der Malerei ist nur das
016  Expos‚ gewisser Methoden, die ich ausgearbeitet und
017  angewendet habe und die mir geholfen haben, für einige Mysterien
018  der Natur imaginäre Lösungen zu finden. Keine Theorie.
019  Folgerungen ja. Zum Beispiel die, welche verlangt, daß man mit
020  dem alten Mythos des ex-nihilo-schöpferischen Künstlers
021  aufräume. Philosoph? Ja, ich bin es im Sinne der Einführung,
022  die Georges Bataille (Pierre Seghers: Max Ernst. Propos
023  et pr‚sence, 1960) geschrieben hat, und auch in dem Sinne,
024  wie es Alexander Koval in einem Artikel mit dem Titel
025  " Halluzinationen im Dienst der Revolution " (Aktion, Berlin
026  1952) darstellt: " Max Ernsts Universum liest sich wie das
027  Inhaltsverzeichnis eines zeitgenössischen philosophischen Werkes,
028  das noch nicht geschrieben worden ist. Der ehemalige
029  Philosophiestudent der Universität Bonn hat darauf verzichtet,
030  dieses Werk zu schreiben; er hat es gemalt und fügt ihm Tag für
031  Tag neue Kapitel und Kommentare an, ohne deshalb ein Illustrator
032  der Philosophie zu werden ". F.: was halten Sie von Kant?
033  A.: Die Nacktheit der Frau ist weiser als die Lehre des
034  Philosophen. F.: Warum haben Sie Euklid gemalt? A.:
035  Einen Euklid, den der Flug einer nicht-euklidischen
036  Fliege beunruhigt. F.: Warum haben Sie Leonardo da Vinci
037  gemalt? A.: Weil er sich gefragt hat: " Warum erscheint
038  ein Bild im Spiegel gesehen schöner als in Wirklichkeit? " F.:
039  Minerva? (Abb.) A.: Fällt mir auf die Nerven! F.:
040  Wie sieht der Tageslauf eines Malers aus? A.: Als
041  erstes bohrt er am Morgen ein Loch in die himmlische Rinde, die
042  zum Nichts führt. Dann köpft er eine Tanne und verfehlt seine
043  Laufbahn. Er inspiziert sein Steckenpferd, er spannt seine
044  Staffelei vor das Steckenpferd. Er kriecht unter die Erdrinde
045  und ist guter Laune. Er malt ein Schlüsselloch auf die Wand und
046  entdeckt durch das Schlüsselloch die schwachen Lichtflammen. Er
047  läßt schwache Lichtfedern fliegen. Er grüßt ein paar dunkle
048  Götter und die Nymphe Echo. Ein Fußabdruck neben einem
049  offenen Grab zeigt ihm an, daß der Tag schön sein wird, der
050  Hügel vom Geist beseelt und daß die Menschen nichts davon wissen
051  werden. F.: Warum haben Sie Europe aprŠs la
052  Pluie (Europa nach dem Regen) gemalt? A.: Der edle
053  Rabe hat das Wort. F.: Ubu Imperator? A.: Ubu der
054  König besiegt, verfolgt, verachtet. Er sucht sein Unheil in
055  der Flucht. Mit Schmach und Scheibenhonig bedeckt kommt er
056  zurück und ruft sich selbst zum Sklaven aus. Hoch lebe die
057  Sklaverei! Freisklaven vor! Hunderte, tausende, ganze
058  Nationen treten vor. Hoch lebe die Sklaverei! Hoch lebe
059  Kaiser Ubu der Erste! und ein anonymer Obersklave schreibt mir
060  begeistert: " Wir lassen uns den Parademarsch nicht rauben "!
061  Wie, wo und (Abb.) wann das Sklavenschiff seine Fahrt beenden wird,
062  weiß nur Ubu. F.: Messalina als Kind? A.:
063  Messalina wurde als Kind von einer Nachtigall bedroht. F.:
064  Die chinesische Nachtigall? A.: Polnischer Reiter.F.
065  : Der große Liebende? A.: Malerei für die Jugend.F.
066  : Das Vogeldenkmal? A.: Der Schlüssel der
067  Lieder. F.: W. C. Fields? A.: Somnambuler
068  Aufzug. F.: Loths Töchter? A.: Das Lied des
069  Fleisches. F.: Nach Westen wandernde Barbaren? A.:
070  Dreiunddreißig kleine Mädchen steigen in eine Kohlenmine hinab.F.
071  : Sie messen den Titeln Ihrer Werke offensichtlich
072  große Bedeutung bei. Kommt es nie vor, daß Sie - ein
073  Zeichen äußerster Modernität - ein Werk einfach Bild oder
074  Komposition nennen und es mit einer Nummer bezeichnen? A.:
075  Die Buchführung scheint mir eine höchst unliebenswürdige Sache
076  zu sein. F.: Are you by any chance contemplating a visit to
077  London? A.: London ist so schön genug. F.: Wie
078  gehen Sie vor, um die Namen für Ihre Bilder zu finden? A.:
079  Ich dränge einem Bild niemals einen Titel auf: ich warte,
080  bis sich der Titel mir aufdrängt. Wenn ich das Bild fertig habe,
081  verfolgt es mich oft noch - manchmal sehr lange - und erst in
082  dem Augenblick, wo der Titel wie durch einen Zauber erscheint,
083  hört die Plage auf. Oft kommen mir harmlose Ereignisse des
084  täglichen Lebens zur Hilfe. Zum Beispiel: Kurz vor meiner
085  Abfahrt in die Ferien habe ich ein Bild beendet. Es verfolgt
086  mich, es fordert einen Namen, es läßt mir keine Ruhe. Damit
087  beschäftigt, einen Titel zu finden, gehe ich in Genf am See
088  spazieren, da spricht mich eine liebenswürdige Person an mit den
089  Worten: " Le prince mange mal ". Ich werde neugierig. " Es
090  handelt sich nicht um ein Restaurant ", sagte sie. Das dachte
091  ich mir. " Ist es der Name einer Straße? " Sie sagt ja und
092  läuft weg. Am nächsten Tag - ich hatte den kleinen
093  Zwischenfall ganz vergessen - werde ich von einer (anderen)
094  liebenswürdigen Person angesprochen: Sie beginnt: " Le
095  prince (...) ", ich fahre fort: " mange mal ".
096  Verständnisinniges Lächeln von ihrer Seite. Mit Hilfe des
097  Reims wird der Sinn des Satzes klar: Le prince mange mal
098  Dans son lit conjugal. Man könnte das etwa so übersetzen:
099  Des Prinzen Kost ist gar nicht nett In des Prinzen Ehebett.
100  In diesem Augenblick schießt mir der Titel für das Bild
101  durch den Kopf. Es wird heißen: Les princes dorment mal
102  (Die Prinzen schlafen schlecht). F.: Ich habe den
103  Eindruck, daß es Ihnen verdächtig ist, wenn man in Verbindung
104  mit dem Werk eines Künstlers den Ausdruck " Schöpfung "
105  gebraucht. A.: Allerdings, der Ausdruck künstlerische
106  Schöpfung, religiös angewendet, als ob es sich um eine Mission
107  handele, die der Künstler zu erfüllen hat, und als ob ihm diese
108  Mission wie einem Priester von einem Gott aufgetragen sei und
109  dieser Gott Gott oder der Künstler selbst sei, und daß
110  diese Mission ihn über den Alltagsmenschen hinaushebe - nein,
111  davon will ich nichts hören. Beim Durchblättern der Ersten
112  Bilanz der aktuellen Kunst (Edition Soleil noir, 1953)
113  stoße ich auf die Glaubensbekenntnisse zweier Künstler, die
114  durch die Ironie der alphabetischen Anordnung einander gegenüber
115  stehen. Ich lese: " Was wir konkrete Kunst nennen, basiert
116  auf Gesetzen, welche die eigentlichen Schöpfungsgesetze sind,
117  ohne von Naturphänomenen zu borgen, weder in Form von "
118  Reproduktionen ", noch von " Transformationen ", will sagen "
119  Abstraktion ". Die konkrete Kunst ist in ihrer letzten
120  Konsequenz der reine Ausdruck der Harmoniegesetze. Sie schafft
121  Systeme und verleiht ihnen mit künstlerischen Mitteln Leben.
122  Sie strebt nach dem Universellen, obschon sie sich dem Einmaligen
123  widmet. " Diese treuherzige und direkte Erklärung hat das (Abb.)
124  Verdienst, ganz klar die Ambitionen der Gruppe zu verraten, zu
125  deren Wortführer sich der Unterzeichnende macht: den verjährten
126  Mythos des schöpferischen Künstlers wieder auf die Beine zu
127  stellen. Ich komme nicht um den Verdacht herum, daß sie den
128  geheimen Zweck verfolgt, auch einen anderen Mythos wieder auf die
129  Beine zu stellen, den der Schöpfung durch einen allmächtigen
130  Schöpfer, welcher die Gesetze der Schöpfung und der Harmonie
131  kennt. Die Kenntnis dieser Gesetze und das Talent, sie ins
132  Werk umzusetzen, wären also gewissen Privilegierten vorbehalten,
133  zu denen Max Bill, der diese Erklärung unterzeichnet, gehört.
134  Seinem Programm fehlt es gewiß nicht an Stolz, es fehlt ihm
135  vielleicht ein wenig an Wahrheit. Lesen wir jetzt auf der Seite
136  gegenüber den folgenden schönen Gedanken von Jean Bazaine:
137  " Das Elementare, dem wir dunkel zustreben, ist wie die Erde
138  selbst die Zusammenfassung von unzähligen Schichten lebendiger
139  Materialien. Die wahre Sensibilität beginnt, wenn der Maler
140  entdeckt, daß die Strömungen des Baumes und der Wasserrinde
141  verwandt, die Steine und sein Gesicht Zwillinge sind, und daß
142  er, während die Welt sich so nach und nach zusammenzieht, unter
143  diesem Regen der Erscheinungen die großen wesentlichen Zeichen
144  aufsteigen sieht, die zugleich seine Wahrheit und die Wahrheit des
145  Universums sind. Es geht nicht darum, der Natur vage
146  Freundschaftserklärungen zu machen, sondern ganz genau die Natur
147  zu unterschreiben, sich das Gewicht ihres Inhalts und ihre
148  Absichten aufzubürden. " Wenn ich diesen scheinbar demütigen,
149  an Forderungen und Poesie großen Text lese, finde ich mit einer
150  gewissen Freude Ähnlichkeiten mit der Haltung, die ich seit
151  langem als meine eigene angesehen habe. Andr‚ Pieyre de
152  Mandiargues drückt sich folgendermaßen aus: (...) daß er (Max
153  Ernst) lieber die größten Anstrengungen mache, um sich mit dem
154  großen, universellen Konzert zu verschmelzen, sich in die vier
155  elementaren Welten zu projizieren und eine totale Einheit mit den
156  drei Reichen der Natur zu erzielen, anstatt sein Werk der Natur
157  zu entziehen und es von ihr unterscheiden zu wollen. Daß solche
158  Haltung in ihrer scheinbaren Demut der Gipfel des Stolzes sei,
159  weil es in Wirklichkeit die ganze Natur sei, die Max Ernst mit
160  seinem Siegel versehe - ich behaupte nicht das Gegenteil, aber
161  wir pflegen weder den Kult der Bescheidenen noch den der
162  Bescheidenheit. " (Le Belv‚dŠre. Grasset 1958)
163  F.: Immerhin scheinen mir zwischen dem Werk Bazaines und dem
164  Ihrigen wenig Ähnlichkeiten zu bestehen. A.: Bazaines
165  große Fähigkeit zur Sammlung scheint von keiner Störung
166  getrübt. Sein Werk, gesegnet mit den Zeichen der Einheit und
167  der Harmonie, löst ein Klima des geistigen Wohlbefindens aus,
168  das in unserer Epoche ungewohnt ist. Die Natur lesen, gutheißen
169  und unterschreiben zu können, scheint mir ein beneidenswertes
170  Glück zu sein. Der Wille, sie mit seinem Siegel zu versehen
171  (wie Mandiargues von mir sagt), bezeichnet zweideutige Gefühle
172  für sie, schließt die Revolte nicht aus. Er bringt Ungestüm
173  und Kehrtwendungen mit sich. " Sehr geehrte Frau Natur:
174  Zypressen, so fern! Sie sind die schönste der Gärtnerinnen,
175  aber ihre Hand versteckt uns oft die Erde. Ihre Engelsstimme
176  bewohnt das Meer der Heiterkeit, aber Ihre bitteren Fluten
177  zermürben die Erde. Das Auge Ihres Schweigens spiegelt sich in
178  einem gestohlenen Spiegel. Liebe Windsbraut, erlauben Sie mir,
179  mich von Ihnen zu verabschieden. Ich lasse mich bei den Antipoden
180  der Landschaft nieder, wo ich im Stall der Sphinx wohnen und bei
181  jeder Fehlzündung den Frühling entweihen werde. Ich versichere
182  Sie, sehr geehrte Frau Natur, meiner gemischten Gefühle. Max
183  Ernst. " Mein Vagabundieren, meine Unruhe, meine Ungeduld,
184  meine Zweifel, meine Glauben, meine Halluzinationen, meine
185  Lieben, meine Zornausbrüche, meine Revolten, meine
186  Widersprüche, meine Weigerungen, mich einer Disziplin zu
187  unterwerfen, und sei es meiner eigenen, die sporadischen Besuche
188  von perturbation, ma Soeur (Störung, meine Schwester),
189  la femme 100 Tˆtes (Die hundertköpfige Frau)
190  haben kein Klima geschaffen, das einem ruhigen, heiteren Werk
191  günstig wäre. Wie mein Benehmen, so ist auch mein Werk:
192  nicht harmonisch im Sinne der klassischen Komponisten, nicht
193  einmal im Sinne der klassischen Revolutionäre. Aufrührerisch,
194  ungleichmäßig, widersprüchlich, ist es für die Spezialisten
195  der Kunst, der Kultur, des Benehmens, der Logik, der Moral
196  unannehmbar. Es hat dafür die Gabe, meine Komplizen: die
197  Dichter, die Pataphysiker und ein paar Analphabeten zu bezaubern.F.
198  : Einige Ihrer Dichter-Freunde haben in Ihrer
199  Haltung eine radikale Veränderung festgestellt. In einem
200  Artikel mit dem Titel " Das Glück des Max Ernst ", Quadrum,
201  sagt Alain Bosquet: " Die Bilder, die dieses Jahr
202  ausgestellt sind (1958), und die man unter das Zeichen der
203  Touraine stellen könnte (aus mehreren Gründen: Max Ernst
204  lebt dort in einer Umgebung, die unweigerlich an die gewisse
205  Gedichte von Ronsard und auch an die " douceur angevine " von
206  Joachim du Bellay erinnert), bezeichnen eine Synthese seiner
207  verschiedenen Beschäftigungen und der Heiterkeit, die ihm
208  während der Zeit in Arizona eigen geworden ist. Diese
209  Integration geschieht mit einer bewundernswert natürlichen Frische,
210  Märchenhaftigkeit und feiner Impertinenz. ((...).) (Abb.)
211  Frische und Natürlichkeit? Sie kommen von der Überraschung,
212  die das Schauspiel des Universums als Beute seiner eigenen
213  Machtworte für Max Ernst bedeutet, und von der Entdeckung
214  seiner selbst als des Anderen, die sich unaufhörlich reproduziert.
215  Das Wohlbefinden von Arizona hat sich in Märchen verwandelt.
216  Er wohnt im Wunderbaren, wie Alice im Spiegel wohnt; er
217  durchschreitet es, er ist ein Teil von ihm, er ist sein Meister.
218  ((...).) " Was sagen Sie dazu? A.: " Vom Zeitalter der
219  Angst " bis zur " Kindheit der Kunst " bedarf es nur einer
220  halben Umdrehung des orthochromatischen Rades. Zwischen dem
221  Kindermord von Bethlehem und dem Durchschreiten des Spiegels
222  liegt nur das Intervall einer hellen Nacht. Die neue Dimension,
223  die sich in meinem Werk durchgesetzt hat, ist im Stadium des
224  Entwurfes schon immer dagewesen. Mit dem Namen Alice, den ich
225  ihr zuschrieb, bekommt sie ihre Bedeutung. Alice ist da: Beim
226  Zusammentreffen zweier Schilder, wovon eines für eine
227  Heringsschule, das andere für eine Kristallschule ist, gehen
228  dreiunddreißig kleine Mädchen auf die Jagd nach dem weißen
229  Schmetterling, tanzen die Blinden in der Nacht, schlafen die
230  Prinzen schlecht und gehört das Wort dem edlen Raben.

Zum Anfang dieser Seite