Quelle Nummer 305

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE

BAKUNIN
HORST BIENEK
BAKUNIN, EINE INVENTION
CARL HANSER VERLAG MUENCHEN 1970, S. 33-


001  Es war im Oktober und es regnete leicht, er hatte in Minusio
002  - auf einer Seitenstraße der Via Gottardo, die steil nach oben
003  führte - die Baronata gefunden; zwischen Kastanien, Palmen
004  und Maulbeerbäumen sah er den hochgereckten gelben Turm und
005  dahinter das breitkrempige Vordach eines kleinen Palazzo. - Er
006  hätte sichs beinahe denken können: aus der Baronate war, wie
007  konnte es in der Schweiz anders sein, eine Pension geworden. Er
008  war etwas verwirrt vom Schwarm der Flugzeugmodelle, die im
009  Empfangsraum an dünnen Fäden von der Decke herabhingen,
010  dazwischen baumelten kleine farbige Lämpchen, die in
011  regelmäßigen Abständen aufleuchteten. Der Pächter war einst
012  ein Pilot gewesen, und wie fast alle Piloten, war auch er eines
013  Tages vom Himmel gefallen. Seitdem war es hier oben still
014  geworden; seitdem blinkten die Lämpchen; seitdem zerfielen die
015  Flugzeugmodelle, manche verloren einfach ein paar wichtige Teile
016  wie Propeller, Kanzel, das Heck, einen Flügel, andere
017  platzten auf, andere verkrümmten sich im Leim (...) aber sie
018  schwebten noch alle, fliegendreckbeladen. Wenn beide Türen
019  geöffnet waren, begannen sie im Luftzug zu schweben, manche
020  flogen hinaus und kamen nicht mehr wieder. Am zweiten oder
021  dritten Tage unseres Aufenthaltes in Locarno fuhren wir mit B in
022  einem Kahn nach dem auf seinen Namen gekauften, in der Nähe der
023  Stadt gelegenen Hause, das er uns zeigen wollte. Als wir
024  gelandet waren, gingen wir auf einem schmalen Fußpfad den Berg
025  hinauf und traten durch ein Pförtchen ein. Ich erblickte vor mir
026  ein einstöckiges Haus mit verblaßten Mauern, die einmal gelb
027  angestrichen gewesen sein mußten. Die Vorderfassade, die auf den
028  See hinausging, war höher als die hintere, wie es gewöhnlich bei
029  Häusern zu sein pflegt, die auf einem steilen Abhang gebaut sind.
030  Die dicken Steinmauern gaben diesem alten Gebäude, welches mir
031  sehr wenig wohnlich erschien, das Aussehen einer kleinen Festung.
032  Als wir hineingingen, schlug uns ein feuchter und muffiger Geruch
033  entgegen. Die Hinterzimmer waren dunkel, da die Fenster auf
034  einen steil hinter dem Haus aufragenden Berg hinausgingen, wo ein
035  kleiner Obstgarten angepflanzt war. Dafür aber bot das Haus
036  viele Bequemlichkeiten zur Einrichtung eines Zufluchtortes. Man
037  konnte sich von hier aus unbemerkt bis zum See durchschleichen und
038  dann jede beliebige Richtung einschlagen. Italien konnte man, das
039  Zollhaus vermeidend, in einem Kahn erreichen. B begann davon zu
040  sprechen, wie die italienischen Revolutionäre (und er mit ihnen)
041  in diesem Haus eine fliegende Druckerei einrichten und im
042  Augenblick des Aufstandes Proklamationen drucken, wie sie hier
043  ein Waffenlager errichten, Congreve-Granaten und andere
044  Werkzeuge zum " Aufruhr " anhäufen und sie nach Italien
045  hinüberschaffen würden (...). Wir beendigten die Besichtigung und
046  gingen ins untere Stockwerk, wo der Hausaufseher einen aus Brot
047  und Käse und ziemlich schlechtem, saurem Wein bestehenden Imbiß
048  vorbereitet hatte. Am nächsten Tag war er allein in der
049  Baronata. Die letzten Pensionsgäste waren in der Frühe
050  abgereist, er hatte das Abschiedszeremoniell durch das offene
051  Fenster vernommen, noch im Halbschlaf: das Türenschlagen, die
052  Schritte auf dem Kies, die aufsteigenden und
053  absteigenden Stimmen, das Aufheulen eines Motors. Er muß noch
054  lange so dagelegen sein, die Augen geschlossen, der Körper
055  unbeweglich, und allen akustischen Signalen ausgeliefert, die
056  übersteigert laut zu ihm drangen. Den ganzen Tag über war er in
057  seinem Zimmer geblieben und hatte im " Diavolo del Pontelungo "
058  gelesen, das ihm Mondada mitgegeben hatte. Mit ihm war er am Tag
059  zuvor am Grab von Stefan George gewesen, auf dem Friedhof von
060  Minusio, nur fünf Minuten von der Baronata entfernt. Das
061  Reich und die Anarchie ganz nah beisammen. Am Abend ging er
062  durch die Zimmer, die offen waren und das waren alle, bis auf die
063  beiden Privaträume der Wirtin, und knipste überall das Licht an.
064  Auf der Balconata, die jetzt mit alten weißen Möbeln
065  vollgestopft war, öffnete er alle Fenster. Er hatte von Bs
066  Vorliebe gelesen, auf der Balconata zu sitzen, an manchen
067  Sommerabenden habe er dort sogar das Essen servieren lassen;
068  unten auf der Terrasse war schon der Wind vom See her zu spüren.
069  Von den Fenstern hatte man auch den schönsten Ausblick, weit
070  über den Lago Maggiore, bis hin nach Magadino, San Nazzaro
071  und Indemini, einem kleinen Dorf ganz tief in den Bergen, nahe
072  der italienischen Grenze, dort soll B, so erzählt man es sich
073  noch heute, Waffen und Dynamit gelagert haben. Bei klarem
074  Wetter konnte man von der Balconata Lichtsignale bis nach
075  Indemini schicken. Er knipste mehrere Male das Licht aus und ein.
076  B hatte hell erleuchtete Räume geliebt, und wenn es nach ihm
077  gegangen wäre, hätte das Licht in der Baronata die ganze Nacht
078  hindurch gebrannt. Aber Cafiero, der sowieso ständig zum Sparen
079  drängte, hatte es ihm verboten. Es war für B eine Erinnerung
080  an das elterliche Gutshaus im Gouvernement Twer; seine Mutter
081  hatte dafür gesorgt, daß im Salon ständig eine Öllampe brannte,
082  dieses Licht konnte man schon von weit sehen, wenn sie aus der
083  Stadt zurückkehrten in die Einöde von Priamuchino. Er ging
084  hinunter, die leicht geschwungene und jetzt schon etwas baufällige
085  Treppe, zum ehemaligen Salon, in dem sich noch der Kamin mit den
086  grünen Kacheln befindet; er soll unverändert sein. Lange nach
087  Bs Tod hat man hier umgebaut und aus den großen Räumen kleine
088  Gästezimmer hergerichtet. Die Hauskapelle hatte B, als
089  eingeschworener Atheist, niemals betreten, er ließ bei seinem
090  Einzug die Tür einfach verschließen. Seine Nachbewohner waren
091  da skrupelloser, sie machten daraus einen Duschraum und aus der
092  Krypta eine Toilette. Die neu-gotischen Spitzbögen kann man
093  noch an der Decke sehen. Es war ein merkwürdiges Gefühl für
094  ihn, hier, allein, in diesem Haus zu sein, in diesen Zimmern
095  umherzugehen, durch die Korridore zu schreiten, die Fenster zu
096  öffnen und Lichtsignale nach Italien zu schicken, im alten,
097  abgewetzten Ohrensessel zu sitzen, am Kamin sich zu wärmen und
098  hin und wieder ein Stück Holz nachzulegen, unter dem
099  jahrhundertealten Kampferbaum zu stehen und ein herabgefallenes
100  Blatt aufzuheben, es zwischen den Fingern zu zerreiben und daran
101  zu riechen: es war alles alltäglich, literarisch, fremd und
102  sinnlos. Hier, wo alles an ihn erinnern sollte, erinnerte nichts
103  an ihn. Es war nur seine Erinnerung, die ihn, B, aus dem
104  Nichts imaginierte. Er sah sich um. Von den weißgekalkten
105  Wänden, aus den blinden Fenstern, von allen unverrückbaren
106  Gegenständen ging die vollkommene Abwesenheit von B aus. Nein,
107  die Baronata war noch nicht zum Museum geworden. Vielleicht war
108  es das, was ihn beruhigte. B pflegte spät aufzustehen, so
109  daß wir ihn erst ungefähr um zehn Uhr morgens besuchen konnten.
110  Es war ein sonniges Wetter, und nach dem hellen Licht draußen
111  erschien mir sein Zimmer, das zu ebener Erde lag, ganz dunkel.
112  Ein Fenster oder zwei gingen auf einen dunklen Platz, vielleicht
113  auf einen Garten hinaus und gaben wenig Licht. Auf der rechten
114  Wand in der Ecke bemerkte ich im Schatten ein großes, niedriges
115  Bett, auf dem B lag. Liegend reichte er mir die Hände, erhob
116  sich keuchend vom Bett und begann sich langsam anzukleiden. Ich
117  sah mich um. An der Wand stand ein langer Tisch mit Zeitungen,
118  Büchern und Schreibzeug überhäuft. Daneben waren einfache,
119  beinahe bis an die Zimmerdecke reichende Holzregale, ebenfalls mit
120  allerlei Papieren vollgefüllt. In der Mitte des Zimmers, auf
121  einem runden Tisch, ein Samowar, Gläser, Tabak,
122  Zuckerstücke, Löffel (...) alles durcheinander. Die Stühle
123  ganz ungeordnet, einige mit Zeitschriften oder Büchern belegt,
124  man konnte sich jedenfalls nicht setzen. B war ungewöhnlich groß
125  und massiv, sein Gesicht aufgedunsen, unter seinen hellgrauen
126  Augen lagen dicke Wülste. Seinen mächtigen Kopf krönte eine
127  hohe Stirn; am auffallendsten war jedoch sein halbergrauter,
128  krauser Backenbart. Er kleidete sich keuchend an, und von Zeit
129  zu Zeit starrte er auf mich. Beim Sprechen stieß er stark mit
130  der Zunge an, da ihm viele Zähne fehlten. Als er sich bückte,
131  um seine Stiefel anzuziehen, bemerkte ich, wie sein Atem stockte.
132  Als er sich wieder aufrichtete, begann er sehr schwer zu keuchen
133  - der Atem ging ihm aus, sein aufgedunsenes Gesicht wurde blau.
134  Dies alles wies darauf hin, daß seine Krankheit bereits in hohem
135  Grad vorangeschritten war. Als er angezogen war, gingen wir auf
136  die Terrasse. Bald kam der Briefträger mit einem ganzen Haufen
137  von Zeitungen und Briefen, und B begann sie durchzublättern.
138  Später erschien Saizew, und es ergab sich ein Gespräch über
139  den Aufstand in Barcelona, der mit einem Mißerfolg endigte. B
140  sagte, die Revolutionäre selbst trügen eine große Schuld am
141  Mißlingen des Aufstandes. Man hätte die Amtsgebäude in Brand
142  stecken sollen! Das muß bei einem Aufstand der erste Schritt
143  sein - und sie haben es nicht getan. Er war ganz erregt. Er
144  war hinaufgegangen, zur Dependance, die etwa hundert Meter
145  oberhalb der Baronata lag. B hatte sie bauen lassen, als
146  Refugium für Revolutionäre, die überall in Europa verfolgt
147  waren. Ein dreistöckiges gelbes Haus, das seit langem leer steht
148  und langsam verfällt. Die Fensterläden waren geschlossen, die
149  Scheiben überall zerbrochen. Er ging durch die leeren Räume und
150  hörte die Zeit ticken: das Wasser tropfte langsam und
151  unablässig aus undichten Rohren; an vielen Stellen faulte der
152  Fußboden. B, der naive Freude an technischem Fortschritt
153  besaß, hatte eine (für damalige Verhältnisse ganz moderne)
154  Dampfheizanlage einbauen lassen, den gewaltigen Eisenherd ließ er
155  herbeischaffen aus Paris, von einer Firma in der Rue de
156  Miromenisle; er steht heute noch, leicht angerostet, im Keller.
157  Dort entdeckte er auch Bs Kutsche, in einem Nebengelaß, das
158  Holz ist verfault, die Räder sind zerbrochen, und nur die
159  Eisenteile stützen einander. Mit dieser Kutsche soll B zum
160  letzten Mal im Sommer 1876 nach Bern gefahren sein, zusammen mit
161  dem jungen Sant-Andrea, der Schuhmacher war. Nach Nettlau
162  soll B, als sie in der Nähe des Gotthard die Teufelsbrücke
163  überquerten, seinem jungen Schüler erklärt haben: die
164  symphatischste Person der Bibel ist Luzifer, er verkörpert am
165  reinsten das Prinzip der Empörung. Nachdem B in Bern
166  verstorben war, ließ Cafiero die Kutsche zurückholen; sie soll
167  seitdem nicht mehr benutzt worden sein. Es war dunkel geworden.
168  Das Licht aus dem Fenster fiel auf die Terrasse und schnitt
169  Vierecke in den Rhododendron und Lorbeer; silbern schimmerte das
170  Dickicht der Kampferblätter; in den Kronen der alten
171  Kastanienbäume knallten dumpfe Schüsse, wenn die Kastanien
172  aufplatzten. Unter ihm lag der nachtdunkle See wie eine Höhle.
173  Er löschte das Licht in den Zimmern der Baronata und ging
174  langsam zurück in den Salon. Es fröstelte ihn. Es war Oktober
175  und draußen regnete es leicht. Er rückte Holzscheite im Kamin
176  zusammen und legte trockene Kampferzweige auf. Die Flamme schoß
177  hoch und zitterte und warf ein rötliches Licht an die Wände. Er
178  wartete. Er wartete auf die Veränderung, die da kommen sollte.
179  Auf die große Veränderung. Es erfüllte ihn mit einer gewissen
180  Befriedigung, wenn er spürte, daß die andern ihn verachteten,
181  ja, daß sie ihn verspotteten, daß sie einen Bogen um ihn machten,
182  daß sie sich sogar räumlich von ihm distanzierten, daß sie ihn
183  aussetzten, daß sie ihn ausschlossen aus ihrer Gemeinsamkeit.
184  Das hatte er eigentlich gewünscht, das hatte er gewollt: dieses
185  Ausgeschlossensein. Nicht zu ihnen zu gehören, zu den anderen,
186  zu den vielen. Er hatte das deutlich gemerkt, wie sie ihn
187  anstarrten, zuerst eher heimlich und verstohlen, mit einem
188  zufälligen Blick oder durch ein Schaufenster hindurch oder getarnt
189  hinter Vorübergehenden; später immer offener, direkter,
190  kühner; manche hatten ihn einfach angesehen, lange; manche
191  hatten sich nach ihm umgedreht, hatten einander angestoßen und
192  aufgelacht; manche waren mitten in einem Satz steckengeblieben und
193  hatten erst weitergeredet, wenn er vorbei war oder hatten ihm so
194  lange nachgesehen, bis er in der Menge verschwunden war. Er hatte
195  zuerst versucht, nicht darauf zu achten, er war durch die Straßen
196  gegangen wie zuvor, aber er hatte doch überall und immer wieder
197  gefühlt, daß die andern Abstand hielten zwischen sich und ihm:
198  Leere. Wenn er in einen Laden ging, um etwas einzukaufen, wurde
199  er sofort bedient, ohne daß die andern, die Wartenden, murrten;
200  sie wollten ihn wohl alle rasch aus dem Laden haben. Wenn er
201  sich in ein Lokal setzte, wo man ihn nicht kannte, sah er, daß
202  die Kellner nervös hin und her liefen und sich in seiner Nähe
203  ansammelten; niemand setzte sich an seinen Tisch. Wenn er ins
204  Kino ging, standen seine Nachbarn links und rechts nach einer
205  Weile auf und setzten sich in eine andere Reihe. Manchmal dachte
206  er daran, damit Schluß zu machen, es wäre ja ganz einfach
207  gewesen, er hätte sich nur die Haare schneiden lassen müssen,
208  keine Stiefel mehr, kein schwarzes Hemd, kein Militärmantel;
209  aber da hatte er bereits seine Rolle angenommen. Nicht zu ihnen
210  gehören, zu den andern, zu den vielen, die in den Caf‚s
211  saßen und in den vornehmen, hell erleuchteten Restaurants, und
212  die aus ihren fetten Leibern ausschwitzten die Angst vor der
213  großen Veränderung. Er hätte nur gern gehabt, daß sie
214  irgendwo einen Stich spürten, wenn er an ihnen vorbeiging, einen
215  Stich und noch einen Stich und noch einen Stich, und er wollte
216  ihrem Haß seinen tausendfachen Haß entgegenschicken. Aber er
217  merkte bald, dieser Haß war nichts anderes als ein dünner Firnis
218  auf seiner Haut. Er war nicht fähig zu einem Verbrechen, das
219  ihn aus dieser Gesellschaft ausstoßen und für immer absondern
220  würde. Er hätte gern etwas getan, damit die Gesellschaft ihn
221  auskotzte (...).

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