Quelle Nummer 303

Rubrik 33 : BELLETRISTIK   Unterrubrik 33.07 : HUMOR

LESEBUCH
GUENTER BRUNO FUCHS
DAS LESEBUCH DES GUENTER BRUNO FUCHS
CARL HANSER VERLAG MUENCHEN 1970, S. 349-


001  Ein Haus ist weggelaufen. Größere Landschaften gab
002  es, doch in der Landschaft Sandomir gab es eine Bahnschranke.
003  Der Mann, der sie bediente, hieß Sandomir. Er war nicht
004  unbekannt. Er war bekannt bei vielen Leuten in der Landschaft
005  Sandomir. Er hieß genauso wie die Landschaft, in der er wohnte,
006  denn die Landschaft hieß Sandomir und der Bahnwärter hieß
007  Sandomir, das hatte sich herumgesprochen. Frau Sandomir kannte
008  ihn, das war Sandomirs Frau. Ein Junge kannte ihn, Sandchen,
009  das war Sandomirs Kind. Zwei Lokomotivführer kannten ihn,
010  Willy und Jacob: beide lenkten die Lokomotive, die von weitem
011  herandampfte heut früh. " Es ist früh ", sagte Sandomir zu
012  seiner Frau, " bitte sag mir sofort, was du haben möchtest heut
013  früh. " " Einen Gutenmorgenkuß ", sagte Frau Sandomir.
014  " Gut ", sagte Sandomir, " achte genau auf die Betonung. Ich
015  frage dich: Möchtest du einen Gutenmorgenkuß oder
016  möchtest du einen guten Morgenkuß? Überleg mal, das
017  ist deine Arbeit heut früh. " Sandomir ging zum Fenster des
018  Bahnwärterhauses. Er sah etwas kommen. " Ein kleiner
019  Eisenbahnzug ", sagte Sandomir, " kommt langsam näher mit
020  einer dampfenden Lokomotive. " Dann sagte Sandomir nichts.
021  " Der kleine Eisenbahnzug ", sagte er dann, " ist weit entfernt.
022  Ich sehe, der Zug ist klein. Ist er klein, weil er noch weit
023  entfernt ist? Wird er langsam größer, je näher er kommt?
024  Oder bleibt er klein? Bleibt er aber klein beim Näherkommen,
025  dann täuschen mich meine Augen heut früh! Egal, ob klein oder
026  groß - ich muß die Bahnschranke runterlassen, früh genug muß
027  sie unten sein. " Sandomir drehte sich um zu seiner Frau, er
028  sagte: " Ich muß arbeiten. Ein kleiner Eisenbahnzug kommt
029  langsam näher mit einer dampfenden Lokomotive. Vielleicht wird
030  der Zug größer, je näher er kommt. Kommt er aber ganz nah bis
031  zur Bahnschranke und ist noch immer klein geblieben, dann möchte
032  ich auch, liebe Frau, richtig angezogen sein ". " Was willst
033  du denn anziehn? " sagte Frau Sandomir. " Nehmen wir an ",
034  sagte Sandomir, " der Zug nähert sich langsam der Bahnschranke,
035  bleibt klein und wird nicht größer. " " Dann ", sagte Frau
036  Sandomir, " erlebst du eine Überraschung! " " Richtig ",
037  sagte Sandomir, " ein Zug, der beim Näherkommen klein bleibt,
038  das wäre eine Überraschung für einen alten Bahnwärter. Aber
039  so was kann vorkommen in dieser Landschaft! " " Du bist ",
040  sagte Frau Sandomir, " kein alter Bahnwärter, du bist
041  zweiundfünfzig Jahre alt. Also, was möchtest du anhaben, wenn
042  der Zug an der Bahnschranke ankommt und klein geblieben ist? "
043  " Gib mir ", sagte Sandomir, " die Bahnwärtermütze, die
044  kleine, die Bahnwärterjacke, die kleine, die Abfahrtskelle,
045  die kleine - und die Hose, die mir zu klein ist. " Frau
046  Sandomir reichte ihm die gewünschten Sachen. Sie sagte:
047  " Hier ist die Bahnwärtermütze. Du mußt sie mitten auf den Kopf
048  setzen, sonst fällt sie runter. Hier ist die Bahnwärterjacke.
049  Ich weiß jetzt schon, deine Unterarme werden aus den Ärmeln
050  rauskucken. Hier ist die kleine Abfahrtskelle. Wenn du sie in
051  der Hand hast, sieht sie aus wie ein runder Lutschbonbon am Stiel.
052  Und hier ist die Hose, die dir zu klein ist. Hoffentlich paßt
053  sie! " " Fein ", sagte Sandomir, " ich gebe dir jetzt einen
054  guten Morgenkuß. Bist du einverstanden? " " Ich bin ",
055  sagte Frau Sandomir, " einverstanden. Dankeschön. "
056  " Du brauchst doch nicht ", sagte Sandomir, " schon jetzt
057  dankeschön zu sagen. Ich muß dir den guten Morgenkuß ja
058  erst geben. " " Also ", sagte Frau Sandomir, " her mit dem
059  Kuß! " Sandomir tat es, er gab seiner Frau den Kuß. " Ab
060  morgen ", sagte er, " werde ich an meiner Erfindung
061  weiterarbeiten. Der kleine Holzkasten, aus dem das Männlein
062  rausspringt, öffnet sich noch zu sperrig. " Sandomir ging wieder
063  zum Fenster des Bahnwärterhauses. " Ist die Erfingung denn so
064  wichtig? " sage Frau Sandomir. " Wie meinst du das? "
065  sagte Sandomir erstaunt. " Ich meine ", sagte Frau Sandomir,
066  " gibt es nicht wichtigere Dinge als einen kleinen Holzkasten,
067  aus dem ein Männlein rausspringt? " " Hm ", machte Sandomir.
068  Er schwieg nachdenklich. Dann sagte er zu seiner Frau:
069  " Sag mal, wie meinst du das? Soll ich dir sagen, was unser Kind
070  von mir denkt? Es schreibt in sein Schulheft: Mein Vater ist
071  erwachsen, trotzdem kann mein Vater mit den Füßen lachen, daß
072  alle Leute in der Landschaft Sandomir vor Freude krähen.
073  Bittesehr! " " Was heißt bittesehr? " sagte Frau Sandomir.
074  " Bittesehr heißt: du bist meine Frau, nun denke darüber
075  nach, ob ich tatsächlich mit den Füßen lachen kann oder nicht! "
076  Sandomir stand knurrend am Fenster des Bahnwärterhauses. Er
077  betrachtete die Gleisanlage, auf der jetzt die Lokomotive
078  herandampfte und einen Eisenbahnzug hinter sich her zog. " Ja ",
079  sagte Sandomir, " jaja. Ich sehe, der Zug ist klein.
080  Vielleicht bleibt er das auch beim Näherkommen. Dann wirds eine
081  Überraschung für einen alten Bahnwärter, der zweiundfünfzig
082  Jahre alt ist. Am besten, ich zieh mich jetzt um! " Sandomir
083  zog sich um. Die kleine Bahnwärtermütze setzte er mitten auf den
084  Kopf. Er drückte sie fest mitten auf den Kopf, sie könnte
085  sonst runterfallen. Er versuchte nun seine Arme in die Ärmel der
086  kleinen Bahnwärterjacke zu stecken, das ging nicht so leicht.
087  Aus den Ärmeln kuckten Sandomirs Unterarme raus. Sandomir nahm
088  die Abfahrtskelle in die rechte Hand. Sie war doch sehr klein,
089  diese Abfahrtskelle: nicht größer als ein runder Lutschbonbon
090  am Stiel. Sandomir nahm die Abfahrtskelle in die linke Hand,
091  auch in der linken Hand blieb sie so klein wie in der rechten, da
092  war nichts zu machen. Sandomir legte die Abfahrtskelle wieder fort,
093  er brauchte jetzt beide Hände zum Anziehn der Hose. Sie
094  paßte noch einigermaßen. Sandomir lachte. Lachend griff er zur
095  Abfahrtskelle, er nahm sie in die rechte Hand, denn die rechte
096  Hand eines Bahnwärters ist die richtige Hand zum Festhalten
097  einer Abfahrtskelle. Sowas muß jeder Bahnwärter wissen.
098  Sandomir wußte es. Die linke Hand brauchte er jetzt zum
099  Festhalten der Hose. Die Hose rutschte ein bißchen, sie war
100  ziemlich klein. Sie paßte zwar einigermaßen, aber sie rutschte.
101  Sandomir griff mit der linken Hand an den Hosenbund. Die Hose
102  rutschte jetzt an der linken Seite nicht mehr, rutschte aber an der
103  rechten Seite, deren Hosenbund er nicht festhalten konnte, weil
104  er in der rechten Hand die Abfahrtskelle hielt. " Schön ",
105  sagte Sandomir beim Betreten des Bahnsteigs, " ich werde mir
106  einen Gürtel kaufen für solche Fälle. Richtig verlieren kann
107  ich die Hose ja nicht, denn eine Hand zum Festhalten habe
108  ich frei. Schwierig wäre die Sache allerdings, wenn ich zwei
109  Abfahrtskellen festhalten müßte, in jeder Hand eine. Hm. dann
110  dürfte ich mit einer so kleinen Hose eben nicht auf den Bahnsteig. "
111  Sandomir blickte in Richtung des langsam herandampfenden
112  Eisenbahnzugs. Der Zug war noch ein wenig entfernt. Trotzdem
113  konnte Sandomir deutlich erkennen, daß der Zug inzwischen
114  größer geworden war. " Er ist ", sagte Sandomir, " größer
115  geworden. Er wird bald hier sein, ich muß die Bahnschranke
116  runterlassen. " Das machte neue Umstände. Eine Hand brauchte
117  Sandomir zum Runterkurbeln der Bahnschranke, eine Hand zum
118  Festhalten der Abfahrtskelle, eine Hand zum Festhalten einer
119  Hosenseite, zusammen drei Hände. Sandomir sagte: " Auf die
120  dritte Hand muß ich verzichten, ich bekomme sie nicht. " Er
121  stand jetzt vor der Schrankenkurbel. Er war ratlos. " Sofort ",
122  sagte er, " muß mir etwas Gutes einfallen! Ah - ich werde
123  die Abfahrtskelle auf den Bahnsteig legen, mit der linken Hand
124  die Hose festhalten, mit der rechten Hand die Bahnschranke
125  runterkurbeln. Man sieht, ich bin auch im Dienst ein Erfinder.
126  Ich habe sozusagen eine dritte Hand erfunden! " Die
127  Abfahrtskelle legte er auf den Bahnsteig, mit der linken Hand
128  hielt er den Hosenbund fest, mit der rechten kurbelte er die
129  Bahnschranke runter. Langsam senkten sich die rotweiß
130  gestrichenen Rohre in die Gabelhalter, wo die Rohrenden auf
131  gefederte Bolzen treffen, ein paarmal kurz hochschnellen und gleich
132  danach ruhig liegen bleiben: waagrecht wie eine Bahnschranke
133  ausruht nach stundenlangem Aufrechtstehen und In-die-Luft
134  -Kucken, waagrecht, mit je einem Rohrende im Gabelhalter.
135  Sandomir legte die Klinkensperre ins Zahnrad der Schrankenkurbel,
136  dann bückte er sich nach der Abfahrtskelle. Er nahm sie in die
137  rechte Hand. Während des Bückens fiel ihm die kleine
138  Bahnwärtermütze vom Kopf, während des Bückens platzte die
139  Mittelnaht, die hintere Mittelnaht der kleinen Bahnwärterjacke.
140  Da war die Lokomotive schon mit allen Rädern dicht in seiner
141  Nähe. Sie bremste. Zwischen den Rädern war Dampf und
142  Gezisch. Sandomir richtete sich langsam auf. Er hob den Kopf,
143  er wußte: der Eisenbahnzug hatte sich beim Näherkommen stark
144  vergrößert. Sandomir sah es mit beiden Augen. Er sah auch die
145  beiden Gesichter seiner Freunde aus dem Führerhaus der
146  Lokomotive rauskucken: die von Kohlenstaub geschwärzten
147  Gesichter seiner beiden Freunde Willy und Jacob. " Ein großer
148  Zug ", sagte Sandomir leise, " unerwartet groß! Was mache
149  ich jetzt? Ich habe mich falsch angezogen! " " Tag, Sandomr! "
150  rief der Lokomotivführer Willy, und der Lokomotivführer
151  Jacob rief: " Schön' Tag, Sandomir! " Beide waren sehr
152  erstaunt über Sandomir, das konnte man erkennen trotz ihrer
153  rußbedeckten Nasen und Backen. Einer der beiden
154  Lokomotivführer begann plötzlich zu kichern, es war Jacob.
155  Dieser Jacob kicherte zunächst mit hoher Stimme, dann lachte er
156  freundlich, lachte laut und wurde augenblicklich vom
157  Lokomotivführer Willy unterstützt, das heißt, der
158  Lokomotivführer Willy half dem Lokomotivführer Jacob beim
159  Lachen, einer lachte gleichlaut wie der andere, Willy und Jacob
160  lachten über Sandomir, doch sie wollten ihn nicht ärgern damit.
161  Sandomir sagte geringschätzig: " Haha, ihr beiden komischen
162  Lokomotivführer, haha! " Er hielt die kleine Abfahrtskelle in
163  der rechten Hand, mit der linken Hand hielt er den Hosenbund an
164  der linken Seite fest. Seine Bahnwärtermütze, die ihm beim
165  Bücken vom Kopf gefallen war, lag auf dem Bahnsteig. Sandomir
166  dachte: Da liegt meine Bahnwärtermütze. Wenn ich mich jetzt
167  nach der Mütze bücke, dann bemerken diese beiden lachenden
168  Teufel, daß meine Bahnwärterjacke, die mir zu klein ist,
169  hinten am Rückenteil einen Riß hat. So dachte er und stand
170  betrübt auf dem Bahnsteig. " Dieser große Zug! " flüsterte
171  er. Willy und Jacob stiegen runter von der Lokomotive und
172  begrüßten Sandomir. Jacob hob Sandomirs Bahnwärtermütze auf,
173  pustete über den lackierten Schirm, klopfte, Knie angehoben,
174  auf dem roten Stoffteil eine runde Wolke Staub heraus und setzte,
175  augenzwinkernd, die Bahnwärtermütze auf Sandomirs Kopf. " Zu
176  klein ", sagte Jacob. " Du hast kleine Sachen angezogen ",
177  sagte Willy. " Ja ", sagte Sandomir, " seit wann steuert ihr
178  so große Lokomotiven? Das ist doch anmaßend und zeugt von
179  Größenwahn! Ich glaubte vorhin, ein kleiner Eisenbahnzug
180  käme bei der Bahnschranke an, da wollte ich ihn begrüßen ohne
181  große Sachen! Möchte nur wissen, weshalb solche Biester
182  gebaut werden! Meine Frau würde sagen: Gibt es nicht
183  wichtigere Dinge als rollende Elefanten herzustellen? Zum
184  Fürchten, meine Lieben! Ihr stellt die ganze Welt auf den
185  Kopf! Also auch die Landschaft Sandomir! " " Hm ",
186  machte Jacob. Er blickte verschämt auf Willy. " Hem-Tja! "
187  machte Willy. Beide Lokomotivführer schauten sich
188  gegenseitig an mit runden Augen aus geschwärzten Gesichtern.
189  " Was habt ihr? " sagte Sandomir. Jacob sagte: " Wir haben
190  (...) " Und weil er nicht weitersprach, sagte Willy: " Wir
191  haben, wie du siehst, nur drei Eisenbahnwagen an der Lokomotive
192  dran. Zwei Wagen sind voll geladen mit Arbeitsgerät für eine
193  Eisenbahnwerkstatt. Der dritte Wagen (...) " Willy zögerte.
194  Dann sagte er: " Der dritte Wagen (...) " " Na los! " sagte
195  Sandomir, " was ist mit dem dritten Wagen? " " Der dritte
196  Wagen ", sagte Willy, " ist ein Plattformwagen. Auf der
197  Plattform (...) " " Ich sehe ", sagte Sandomir, " auf der
198  Plattform steht ein Haus. " " Ja, ein Haus ", sagte Jacob.
199  " Ein kleines Haus ", sagte Willy. " Ein zweistöckiges,
200  kleines Haus ", sagte Jacob. " Und deshalb ", sagte
201  Sandomir, " deshalb (...) die große Lokomotive, hm? "
202  " Vielleicht ", sagte Willy zu Sandomir, " freut sich das Haus,
203  wenn du mal hingehst und ihm Guten Tag sagst in deinen kleinen
204  Sachen. Das Haus ist auf der Flucht. " " Flucht ", sagte
205  Sandomir, " Flucht? " Willy sagte: " Das Haus ist auf
206  der Flucht vor Leuten, die in dem Haus gewohnt hatten. Das
207  Haus muß flüchten, weil die Leute, die in ihm wohnten,
208  Spitzbuben sind. So sagt das Haus: Spitzbuben. "
209  " Spitzbuben ", sagte Sandomir, " das ist ein Wort zum Lachen.
210  Ich habe allerlei Wörter erfunden, ich kann das beurteilen. Ein
211  Wort zum Lachen! Gut, ich geh mal hin zum kleinen Haus und
212  werde mich nach seinem Befinden erkundigen. " " Du willst ",
213  sagte Sandomir zum kleinen Haus, " flüchten? " " Ja ",
214  sagte das Haus, " es geht nicht anders. Ich kann diese
215  Spitzbuben nicht leiden, die den ganzen Tag wie Spitzbuben leben.
216  Ich bin fortgelaufen, hab mich versteckt und will jetzt wegfahren.
217  Aber die Leute, die in mir wohnten, sind hinter mir her. Das
218  weiß ich. Sie suchen mich. Wenn sie hier vorbeikommen, dann
219  sage ihnen: Ihr seid Spitzbuben, ihr habt das Haus sehr
220  schlecht behandelt. Sagst du das? Oder so ähnlich? " " Ja ",
221  sagte Sandomir, " sei mal nicht traurig. Soll ich dir die
222  Fenster putzen? " " Danke ", sagte das Haus, " du bist so
223  lustig in deinen Sachen! " Sandomir nahm die Bahnwärtermütze
224  vom Kopf, verbeugte sich und sagte: " Ich bin der Bahnwärter
225  Sandomir. Außerdem der Erfinder des Wortes Cyge. " " Was
226  ist das? " sagte das Haus. " Cyge ", sagte Sandomir,
227  " wird geschrieben mit Ceh, Ypsilon, Geh, Eh. Cyge, das
228  Geheimwort für Ziege. Du verstehst? ".

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