Quelle Nummer 294
Rubrik 06 : RECHT Unterrubrik 06.13 : INLAENDISCHES
EIGENTUM UND OEFFENTLICHES INTERESSE
HANS SCHULTE
EIGENTUM UND OEFFENTLICHES RECHT
SCHRIFTEN ZUM OEFFENTLICHEN RECHT BAND 125
DUNCKER UND HUMBLOT, BERLIN 1970, S. 186-
001 9. Die öffentlich-rechtliche Nachbarklage.
002 Das bisherige System und seine Schwierigkeiten. Das
003 BGB, die BauNVO und die Bauordnungen der Länder schreiben
004 sachlich übereinstimmend vor, daß von ihren Vorschriften unter
005 bestimmten Voraussetzungen " Befreiung " (" Dispens ")
006 erteilt werden kann. Es ist allgemein bekannt, daß derartige
007 Abweichungen von - zwingenden - Vorschriften des öffentlichen
008 Baurechts nicht nur den jeweiligen Bauherrn und die Baubehörde
009 angehen, sondern auch die Interessen des Nachbarn berühren
010 können. Und es ist heute im Prinzip so gut wie unstreitig, daß
011 sich ein Grundeigentümer gegen eine dem Nachbarn erteilte
012 Baugenehmigung wenden kann, nämlich im Verwaltungsrechtsweg gegen
013 die Behörde auf Rücknahme der Baugenehmigung klagen kann, wenn
014 diese Genehmigung unter Abweichung von " nachbarschützenden "
015 Normen des öffentlichen Baurechts erteilt worden ist. Eine unter
016 dieser Voraussetzung zulässige " öffentlich-rechtliche
017 Nachbarklage " ist allerdings nur begründet, wenn die
018 gesetzlichen Voraussetzungen für die Abweichung nicht vorliegen.
019 Es scheint zunächst, als sei dies ein klares und praktikables
020 System. Die Frage der Abgrenzung zwischen nachbarschützenden
021 Normen und Normen, gegen deren Verletzung keine öffentlich-
022 rechtliche Nachbarklage zulässig ist, ist in der Rechtsprechung
023 kasuistisch weitgehend geklärt. Die Anwendung der
024 tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Dispens scheint kaum
025 Schwierigkeiten zu bereiten. Bei genauerem Hinsehen zeigt
026 sich jedoch, daß die rechtsdogmatischen Grundlagen und Probleme
027 der öffentlich-rechtlichen Nachbarklage bis heute nicht gelöst
028 sind. Alle bisherigen Versuche haben Lösungen erbracht, die
029 sich in Widersprüche verwickeln und zu einer Handhabung des
030 öffentlichen Baurechts führen, die den praktischen Bedürfnissen
031 nicht gerecht wird. Nach wie vor gibt es keine überzeugende
032 Begründung dafür, warum ein Nachbar gegen Verletzung der
033 nachbarschützend wirkenden Vorschriften des öffentlichen
034 Baurechts klagen kann. Selbstverständlich ist ein Klagerecht
035 gegen Verletzung solcher Normen nur dann, wenn dieser
036 Nachbarschutz privatrechtlich, etwa im BGB, normiert ist.
037 Wenn ein Grundeigentümer gegen im BGB ausdrücklich angeordnete
038 Einschränkungen seines Eigentümerbeliebens verstößt, dann kann
039 der beeinträchtigte Nachbar gemäß 1004 BGB Unterlassung
040 und Beseitigung verlangen. Verletzung der Normen des privaten
041 Nachbarrechts ist Eigentumsverletzung. Bei einem durch
042 Vorschriften des öffentlichen Baurechts vermittelten
043 Nachbarschutz ist das weit weniger eindeutig. Denn es ist
044 keineswegs sicher, ob diese Vorschriften, auch wenn sie nachhaltig
045 nachbarliche Interessen berühren, private Rechtspositionen
046 vermitteln oder ob sie nur Reflexwirkungen für die Nachbarn
047 zeitigen. Das ist deswegen fraglich, weil, wie man sagt, alle
048 Vorschriften des öffentlichen Baurechts in erster Linie im
049 öffentlichen Interesse erlassen sind, nicht im privaten
050 Interesse von Nachbarn. Wenn heute trotzdem allgemein anerkannt
051 wird, daß Vorschriften des öffentlichen Baurechts auch
052 subjektive Rechte oder " rechtlich geschützte Positionen "
053 schaffen können (und daher bei Verletzung dieser Positionen
054 Rechtsschutz gewährt sein muß), so beruht dies anscheinend mehr
055 auf einer intuitiven Einsicht, als auf einer klaren dogmatischen
056 Begründung. Wenn auch kasuistisch weitgehend geklärt ist,
057 welche Normen des öffentlichen Baurechts nachbarschützend sind,
058 so bleiben doch in einzelnen wichtigen Punkten Streitfragen
059 bestehen. Sehr schwierig gestaltet sich die Beantwortung der
060 Frage, inwieweit es rechtens ist, daß der Nachbar durch den
061 Dispens beeinträchtigt wird (wenn dessen Voraussetzungen im
062 übrigen vorliegen). Von der Ansicht, schon die geringste
063 Abweichung von nachbarschützenden Normen des öffentlichen
064 Baurechts sei eine unzumutbare Beeinträchtigung, die der Nachbar
065 abwehren könne, bis zu der Behauptung, u. U. müsse der
066 Nachbar auch wesentliche Beeinträchtigungen dulden, findet sich
067 eine breite Skala unterschiedlicher Meinungen. Es hat allerdings
068 den Anschein, als stimmten heute alle jedenfalls darin überein,
069 daß ein Dispens gegenüber dem Nachbarn nie die Grenzen der
070 Enteignung überschreiten dürfe. Meist wird daraus gefolgert,
071 ein Dispens dürfe den Nachbarn nicht wesentlich beeinträchtigen.
072 Gelegentlich wird allerdings auch bei diesem Ausgangspunkt eine
073 wesentliche Beeinträchtigung zugelassen, und zwar mit der
074 Begründung, das Eigentum des Nachbarn schließe in
075 Sonderfällen die Abwehr wesentlicher Beeinträchtigungen nicht
076 ein. Besondere Schwierigkeiten bereiten der Praxis
077 öffentlich-rechtliche Nachbarklagen, die erst nach Beginn
078 oder gar erst nach Fertigstellung des beanstandeten Baus erhoben
079 werden. Prozeßrechtlich ist das dort möglich, wo die
080 angegriffene Baugenehmigung dem Nachbarn nicht bekanntgemacht ist
081 und daher ihm gegenüber nicht bestandskräftig werden kann. Alle
082 bisherigen Versuche, unbefriedigende Ergebnisse zu vermeiden,
083 etwa indem man prozeßrechtlich die Jahresfrist des 58 Abs. 2
084 VwGO auch für die Klage des Nachbarn anwendet, oder indem man
085 materiellrechtlich mit Gedanken der Verwirkung oder der
086 Interessenabwägung zwischen den beteiligten Grundeigentümern oder
087 zwischen Bauherrn und öffentlichem Interesse operiert, - alle
088 Versuche führen oft zu wenig billigenswerten Ergebnissen, bei
089 denen ein im guten Glauben an die Richtigkeit der Baugenehmigung
090 errichtetes Gebäude wieder abgerissen werden muß oder ein Nachbar
091 sich seine Zustimmung zum Fortbestand des Gebäudes teuer abkaufen
092 lassen kann. Unklar ist auch das Verhältnis zwischen
093 Baugenehmigung und verwaltungsgerichtlichem Vorgehen einerseits und
094 zivilgerichtlichem Rechtsschutz andererseits. Muß bei jedem
095 zivilrechtlichen Vorgehen zunächst die Baugenehmigung beseitigt
096 sein oder genügt es, wenn ein an sich erforderlicher Dispens nicht
097 erteilt worden ist? Oder kann - oder muß - umgekehrt sogar
098 noch nach Aufhebung der Baugenehmigung verwaltungsgerichtlich
099 vorgegangen werden? Einigkeit besteht hier immerhin darin, daß,
100 wenn man schon nachbarschützende Normen und öffentlich rechtliche
101 Nachbarklagen anerkennt, es einen Bereich geben muß, in dem
102 diese Klageart den Vorrang vor zivilrechtlichem und
103 zivilprozeßualem Vorgehen hat und in dem die Baugenehmigung eine
104 Tatbestandswirkung entfaltet: Wenn nachbarschützende
105 Vorschriften des öffentlichen Baurechts Rechtspositionen auch
106 für den Nachbarn begründen, so kann dies in der Regel nicht
107 dahin führen, daß der Nachbar nunmehr gem. 1004 BGB
108 vorgehen kann. Wenn zwar auch die Baugenehmigung stets " unter
109 Vorbehalt der Rechte Dritter " erteilt wird, so können trotzdem
110 mit diesen Rechten Dritter nicht auch die im öffentlichen
111 Baurecht begründeten Rechtspositionen der Nachbarn gemeint sein.
112 Denn es ist gerade Aufgabe der Baubehörde, über die
113 Übereinstimmung eines Bauvorhabens mit dem öffentlichen Baurecht
114 und damit auch mit dessen nachbarschützenden Normen zu befinden.
115 Mit der Baugenehmigung wird gesagt, daß diese Übereinstimmung
116 gewahrt ist. Dann geht es nicht an, diese Feststellung dadurch
117 hinfällig zu machen, daß der Nachbar, weil die Feststellung
118 unrichtig ist, gegen den nach öffentlich-rechtlichen
119 Vorschriften rechtswidrigen Bau mit dem Mittel zivilrechtlicher
120 Abwehrklage vorgeht. Dasselbe gilt erst recht dann, wenn die
121 Baubehörde dem Bauherrn ausdrücklich eine Befreiung von der
122 Einhaltung nachbarschützender Normen erteilt hat. In beiden
123 Fällen muß an die Stelle des zivilen Rechtsschutzes des 1004
124 BGB ein Vorgehen gegen die Baugenehmigung treten. Diese muß
125 zunächst beseitigt werden, wenn der Nachbar einen normgemäßen
126 Bauzustand erzwingen will. Die Anerkennung nachbarschützender
127 Normen des öffentlichen Baurechts führt also nicht zur
128 Klagemöglichkeit des 1004 BGB, vielmehr zur Klage des
129 Nachbarn gegen die Baugenehmigung, eben zur öffentlich-
130 rechtlichen Nachbarklage. So einhellig dies heute auch im
131 Ergebnis anerkannt wird, so sehr ist auf einen trotzdem
132 verbleibenden Widerspruch hinzuweisen: Einerseits läßt man bei
133 Verletzung des öffentlichen Baurechts nur die Klage gegen die
134 Baugenehmigung zu. Nach deren eventuellem Erfolg, wenn also die
135 Baugenehmigung beseitigt ist, läßt man dennoch gegen ein schon
136 begonnenes Bauvorhaben vielfach immer noch nicht die
137 Beseitigungsklage aus 1004 BGB zu, sondern nur einen
138 Anspruch gegen die Behörde auf Einschreiten gegen den Bau. Man
139 nimmt hier also oft deutlich eine nur gegen die Behörde geltend zu
140 machende Position an, ein rein öffentliches subjektives Recht,
141 nicht auch ein privates subjektives Recht. Andererseits aber wird
142 allgemein angenommen, daß eine zivilrechtliche Abwehrklage dann
143 gegeben sei, wenn ohne jede Baugenehmigung unter Verletzung von
144 Vorschriften des öffentlichen Baurechts gebaut ist. Hier
145 äußern diese Vorschriften also plötzlich doch rein
146 privatrechtliche Wirkungen. Schwierigkeiten bereitet der
147 Praxis schließlich die Frage des vorläufigen Rechtsschutzes nach
148 erhobener öffentlich-rechtlicher Nachbarklage, nämlich, ob
149 hier Widerspruch und Klage des Nachbarn aufschiebende Wirkung gem.
150 80 Abs. 1 VwGO haben (und eine sofortige Vollziehung
151 besonders angeordnet werden muß) oder ob die Einstellung des Baus
152 vor Ende des Prozesses um die Baugenehmigung nur nach 123
153 VwGO (einstweilige Anordnung) angestrebt werden kann. Oft
154 fällt bei dieser prozeßrechtlichen Frage die Entscheidung über
155 das gesamte künftige Rechtsverhältnis zwischen den beteiligten
156 Grundeigentümern, denn wer weiterbauen darf, schafft vollendete
157 Tatsachen, über die später kein Gericht so leicht hinweggehen
158 wird. Alle diese Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten sind
159 letztlich darauf zurückzuführen, daß die zur Klage berechtigende
160 Position des Nachbarn viel zu häufig nur als ein öffentliches,
161 gegen die Behörde gerichtetes subjektives Recht angesehen wird,
162 daß also die gesamte Problematik meist nur unter öffentlich-
163 rechtlichen Gesichtspunkten betrachtet wird, nur als die Frage,
164 wie der beeinträchtigte Nachbar gegenüber der Behörde zu seinem
165 Recht kommen kann. Die vorliegende Untersuchung wird zu dem
166 Vorschlag führen, von dieser bislang kaum in Frage gestellten
167 Grundauffassung abzugehen. Die bisherigen Ergebnisse der
168 Untersuchung drängen dazu, einen solchen Vorschlag zu durchdenken
169 und zeigen die Alternative, die der bisherigen Auffassung
170 entgegengesetzt werden könnte, nämlich eine " extrem "
171 privatrechtliche Auffassung, die davon ausgeht, daß auch das
172 öffentliche Baurecht privates Nachbarrecht schafft. Das führt
173 nicht etwa zur privaten Nachbarklage. Wohl aber führt das zur
174 Annahme einer privatrechts-streitentscheidenden Funktion der
175 Baugenehmigung, also zu einer deutlichen Parallele zu der
176 gewerberechtlichen Anlagegenehmigung, die gerade dieser Parallele
177 wegen besprochen worden ist. Die folgenden Ausführungen versuchen
178 zu zeigen, daß eine solche Annahme rechtsdogmatisch möglich und
179 daß sie der öffentlich-rechtlichen vorzuziehen ist, weil sie
180 praktikabler ist als diese. Das liegt im wesentlichen darin
181 begründet, daß die privatrechtliche Auffassung es auch hier
182 ermöglicht, Erscheinungen, die bislang nicht anders als
183 enteignungsrechtlich verstanden werden konnten, privatrechtlich
184 einzuordnen und damit von den dem Nachbarrecht gänzlich
185 inadäquaten Fesseln des Art. 14 Abs. 3 GG zu befreien.
186 Gerade hieran sind auch die wenigen gescheitert, die bisher schon
187 versucht haben, den Problemen mit einer zivilrechtlichen
188 Betrachtungsweise beizukommen. Sie lassen keine Dispense zu, die
189 den Nachbarn wesentlich beeinträchtigen und kommen damit zu
190 Ergebnissen, die insoweit von denen der öffentlich-rechtlichen
191 Auffassung kaum abweichen und ebenso unpraktikabel sind wie diese.
192 Bisherige Versuche der prinzipiellen Rechtfertigung des
193 Instituts. Bei der Frage der grundsätzlichen
194 Rechtfertigung des Instituts der öffentlich-rechtlichen
195 Nachbarklage darf man sich nicht der Illusion hingeben, der
196 Gesetzgeber habe inzwischen irgendwie im Sinne einer prinzipiellen
197 Zulässigkeit der öffentlich-rechtlichen Nachbarklage
198 entschieden. Vielmehr wäre es wohl realistischer, anzunehmen,
199 daß mancher der hier zuständigen Gesetzgeber das Institut lieber
200 heute als morgen ausdrücklich abschaffen würde, wenn dagegen nicht
201 verfassungsrechtliche Bedenken beständen. Das materielle
202 öffentliche Baurecht hat dem Nachbarn nirgends ausdrücklich ein
203 Klagerecht eingeräumt, und gewiß ist eine derartige Nachbarklage
204 auch dem Verwaltungsprozeßrecht fremd, da sich keine
205 ausdrücklichen prozeßrechtlichen Vorschriften für diese Klageart
206 finden. Von einem Willen des Gesetzgebers, dem Nachbarn ein
207 klagbares Recht einzuräumen, kann keine Rede sein. Im Grunde
208 wird dies wohl überall dort erkannt, wo versucht wird, die
209 Existenz einer klagbaren Position des Nachbarn mittelbar zu
210 beweisen, nämlich dadurch, daß man zu begründen versucht, daß
211 nach dem Willen des Gesetzgebers eine Reihe von Normen des
212 öffentlichen Baurechts auch den Nachbarn schützen sollen. Das
213 ist für sich allein noch nicht schlüssig, denn es müßte noch der
214 weitere Beweis geführt werden, daß schon wegen dieses
215 gesetzgeberischen Willens auch ein klagbares Recht anzunehmen ist.
216 Dazu wird noch einiges zu sagen sein. Hier genügt zunächst die
217 Feststellung, daß es gerade diese Versuche eines mittelbaren
218 Beweises sind, die zeigen, daß ein Wille des Gesetzgebers, dem
219 Nachbarn eine klagbare Position einzuräumen, im Grunde nicht
220 erkennbar ist. Für die Annahme einer klagbaren Position des
221 Nachbarn reicht - jedenfalls nach fast einhelliger
222 verwaltungsrechtlicher Meinung - nicht aus, daß sich eine
223 faktische Auswirkung einer Norm auf nachbarliche Interessen
224 ermitteln läßt. In keinem Falle folgt hiernach allein aus
225 faktischem Betroffensein auch ein rechtliches Betroffensein.
226 Andernfalls würde man die Unterscheidung zwischen Recht und
227 Rechtsreflex illusorisch machen. Nach fast allgemeiner Meinung
228 ist selbst durch die ausdrückliche Statuierung eines
229 Anhörungsrechts der Nachbarn bezüglich bestimmter Punkte des
230 Baugenehmigungsverfahrens noch nichts für die Annahme eines
231 klagbaren Rechts der Nachbarn entschieden. Gelegentlich wird
232 versucht, aus den Worten " (...) auch unter Würdigung
233 nachbarlicher Interessen (...) " (in 31 Abs. 2 BGB 24
234 Abs. 3 BauNVO u. a.) unmittelbar darauf zu schließen,
235 daß der einzelne Grundeigentümer einen klagbaren Anspruch auf
236 Einhaltung von baurechtlichen Festsetzungen haben könne. Oder es
237 wird gar behauptet, aus den genannten Vorschriften ergebe sich
238 generell ein klagbares Recht des Nachbarn auf Einhaltung aller
239 planungsrechtlichen Normen. Derartige Schlüsse sind sämtlich
240 voreilig: In den 31 Abs. 2 BGB, 24 Abs. 3
241 BauNVO wird der dispensierenden Behörde vorgeschrieben, bei
242 der Dispenserteilung auch auf die Interessen der Nachbarn zu
243 achten. Damit wird zwar anerkannt, daß solche Dispense die
244 Interessen der Nachbarn berühren können. Darin mag man auch
245 noch den gesetzgeberischen Willen erkennen, daß diese
246 nachbarlichen Interessen tunlichst gewahrt werden sollen. Der
247 Schluß hiervon auf einen Anspruch des Nachbarn auf
248 Berücksichtigung ist aber nicht ohne weiteres zulässig. Er ist
249 ebenso unzulässig wie der Schluß von der faktischen
250 Beeinträchtigung auf einen derartigen Anspruch. Man könnte die
251 Gegenfrage aufwerfen, warum denn der Gesetzgeber die Behörde
252 zwingt, auch nachbarschützende Erwägungen anzustellen, und ob es
253 dann noch sinnvoll und kosenquent sei, einen eigenen Anspruch des
254 Nachbarn zu verneinen. Aber das wäre tatsächlich sinnvoll und
255 konsequent: Das öffentliche Interesse im öffentlichen Baurecht
256 geht zwar durchaus dahin, dem einzelnen Grundeigentümer eine
257 sinnvolle Nutzung seines Grundstücks zu ermöglichen. Das
258 öffentliche Interesse geht also zwar auch dahin, daß nicht dem
259 einen Grundeigentümer ein Dispens gewährt wird um geringer
260 Vorteile willen, wenn diese Vorteile beim Nachbarn einen weit
261 größeren Nachteil verursachen. Es ist aber sehr wohl denkbar und
262 als gesetzgeberischer Wille keineswegs fremdartig, wenn ein Gesetz
263 zwar einerseits diese ökonomisch sinnvolle Raumnutzung anstrebt,
264 ihre Verwirklichung aber allein den Behörden überantwortet und
265 dem einzelnen Grundeigentümer nur die Hoffnung läßt, daß sich
266 dies auch zu seinem Vorteil auswirkt. Eine solche Regelung wäre
267 theoretisch vielleicht sogar effektiver als eine Schaffung privater
268 Ansprüche auf Einhaltung der Normen des öffentlichen Baurechts.
269 Der Einzelfall wäre u. U. elastischer zu handhaben,
270 wenn der Grundeigentümer der Behörde nicht dazwischenreden
271 könnte.
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