Quelle Nummer 289
Rubrik 06 : RECHT Unterrubrik 06.01 : PRESSE
2 REPORTAGEN (SPIEGEL)
NACHRICHTENMAGAZIN "DER SPIEGEL"
GERHARD MAUZ: DROHT EIN STILLSTAND DER RECHTSPFLEGE"
NR. 44, S.119-120, 26.10.1970
ANONYMUS: "SEELISCH AUSGEZOGEN"
25. JG.,NR.26, 21.6.1971, S. 44
001 Droht ein Stillstand der Rechtspflege?. Wiederholt
002 haben Frankfurter Richter in diesem Jahr vor einem in nächster
003 Zukunft drohenden " Stillstand der Rechtspflege " gewarnt. So
004 begrüßenswert es ist, daß sich gerade Richter öffentlich zu
005 Problemen ihrer Tätigkeit äußern, die diskret behandelt und im
006 Versteck der Amtsrücksicht verborgen nur größer werden, bis sie
007 schließlich irreparable, tödliche Wucherungen sind: Was steht
008 da noch bevor, was ist nicht längst schon eingetreten? Die
009 Rechtspflege wird nicht nächstens stillstehen, denn es
010 wird schon jetzt nicht mehr " gepflegt ": Die Justiz taumelt,
011 von der endlosen Rolle ihrer Termine gewürgt. Reformatorische
012 Bemühungen mit höchsten Zielen, unstreitig notwendig und eher
013 ein Nachholen als Progression, breiten einen Schleier über die
014 Szene, auf die ab und an für Augenblicke das Blinklicht eines
015 ministeriellen Wortes fällt, dem zufolge auch etwas für die
016 Beschleunigung des Rechtswesens geschehen soll. Doch schon
017 gestern war und erst recht ist es heute ruinös, an die Justiz zu
018 geraten. Es mag einer verklagt werden oder klagen, eine
019 Entscheidung benötigen oder sich zu verantworten haben: er ist
020 geschlagen, ob er verliert oder gewinnt, ob er freigesprochen oder
021 verurteilt und wie auch immer entschieden wird. Am Donnerstag
022 vergangener Woche ist in Frankfurt der Lokführer Alfred Otto,
023 47, von der Anklage wegen fahrlässiger Tötung und
024 Körperverletzung freigesprochen worden. Alfred Otto hat das ihm
025 zur Last gelegte Eisenbahnunglück nicht verschuldet, bei dem
026 sieben Menschen getötet und 95 zum Teil schwer verletzt wurden.
027 Unmittelbar nach diesem Eisenbahnunglück hatte man in der
028 " Frankfurter Rundschau " gelesen: " Drei
029 Sicherheitsbestimmungen wurden mißachtet " In der " Frankfurter
030 Allgemeinen " stand nach diesem Eisenbahnunglück, Alfred Otto
031 habe, " wie inzwischen eindeutig feststeht ", die Handbremse
032 nicht betätigt - " wie es ausdrücklich in den Vorschriften
033 steht ". Wir zitieren nicht polemisch. Wir wissen nicht, unter
034 welchen Umständen es zu diesen Behauptungen kam. Diese Zitate
035 sollen lediglich eine Ahnung von der Last vermitteln, unter der
036 Alfred Otto bis zur letzten Woche gelebt hat: denn unter dieser
037 Last hat er fast vier Jahre lang leben müssen. Am 17.
038 November 1966 geschah in der Nähe von Oberliederbach am Taunus
039 das Eisenbahnunglück, an dem man Alfred Otto fast vier Jahre
040 hat schleppen lassen, unter dem er ohne seine Frau und seine fünf
041 Kinder und ohne seinen Anwalt Berthold Mehne zerbrochen wäre.
042 Jetzt wurde im Prozeß festgestellt: Die Steigung des
043 Bahnhofsgeländes, auf dem Alfred Otto seinen Triebwagen damals
044 abgestellt hat, ist mit 1:400 nur halb so stark angegeben
045 gewesen, wie sie tatsächlich ist. Alfred Otto ist, als er von
046 der Dampflok auf den Dieseltriebwagen umgeschult wurde,
047 autoritativ versichert worden, die Druckluftbremse sei
048 hundertprozentig sicher für ein Feststellen des Triebwagens bis zu
049 zwei Stunden. Erst nach dem Unglück vom 17.November
050 1966 ist es den Triebwagenführern per Dienstvorschrift zur
051 Pflicht gemacht worden, beim Verlassen des Fahrzeugs auch die
052 Handbremse anzuziehen. Im Februar dieses Jahres scheiterte
053 der erste Versuch, über Alfred Ottos Schuld oder Unschuld zu
054 entscheiden, an der Erkrankung eines Richters, doch schon im
055 Februar waren mehr als drei Jahre vergangen. Für den Februar
056 wie für den Herbst 1970 ist zu fragen: warum so spät, warum -
057 ein milderes Wort ist gerade angesichts der nicht anzuzweifelnden
058 Tatsache unangemessen, daß niemand diesen vierjährigen Verzug
059 gewollt hat - warum diese Brutalität? Ein Jurist
060 stelle sich vor, ihn beschwere vier Jahre lang der Verdacht und
061 ein " Wie inzwischen eindeutig feststeht " dazu, durch
062 fahrlässige Berufsausübung den Tod auch nur eines
063 Menschen verschuldet zu haben. Alfred Otto hat eine überaus
064 faire Hauptverhandlung gehabt. Das Gericht hat Aufklärung über
065 die zu entscheidende Strafsache hinaus betrieben und während der
066 Beweisaufnahme " Merkwürdigkeiten " erarbeitet, deren
067 Feststellung im Urteil vorbeugend wirken wird. Zuletzt hat sogar
068 die Anklage Freispruch beantragt, die Anklage, die erfolgreich
069 dem Antrag widersprochen hatte, das Verfahren gegen Alfred Otto
070 einzustellen; der denn doch einige Feststellungen, die zum
071 Freispruch führten, vor der Hauptverhandlung bekannt und
072 vorgetragen worden waren. Ermittlungen wegen eines
073 Eisenbahnunglücks liefern die Strafverfolgungsbehörden den
074 Gutachtern aus, den Terminen der Gutachter oft noch mehr als
075 ihrem Sachverstand. Die Ermittlungen wegen des Unglücks vom 17.
076 November 1966 mußten zeitraubend sein. Doch fast vier
077 Jahre Ungewißheit und Verdacht sind zuviel. Die Justiz
078 befindet tief einschneidend über Menschen. Nur der Krieg greift
079 härter nach den Schicksalen der Menschen. Niemals entlastet die
080 Justiz der Einwand, daß jene doch auch nur Menschen sind, die
081 sie repräsentieren. Wer, wenn nicht der Jurist, der in die
082 Lebensfristen anderer Menschen eingreift, hat sich der
083 Solidarität aller Menschen gegenüber dem Tod bewußt zu sein -
084 und sich also zu beeilen. Doch das Verhältnis der Justiz zur
085 Zeit gleicht dem Verhältnis eines ewig Verlobten zu seiner Braut.
086 Wie der ewig Verlobte die Braut (" Immerhin schlafe ich mit
087 ihr, und sie darf meine Hemden waschen "), so weiß auch die
088 Justiz die Zeit durchaus zu schätzen. Schließlich verhängt sie
089 Strafen, deren Gewicht nach Zeiteinheiten gemessen wird, und
090 manchen Zeitgenossen verbannt sie mittels " Lebenslang " sogar
091 auf Lebenszeit aus der allgemeinen Zeitrechnung. Die Justiz
092 schätzt die Zeit, ohne sie zu respektieren. Und wie der ewig
093 Verlobte das Verhältnis hinzieht (" Enger kann es gar nicht
094 werden "), versichert die Justiz, daß die Gerechtigkeit Zeit
095 braucht - und läßt sich also Zeit mit der Zeit. Das Recht
096 kann gegenwärtig nicht mehr " gepflegt " werden. Der für die
097 nächste Zukunft als Möglichkeit avisierte " Stillstand der
098 Rechtspflege " hat schon begonnen - um so mehr, als es schon
099 immer einen " Stillstand der Rechtspflege " gab. Noch nie hat
100 die Justiz in einem vertretbaren Verhältnis zur Zeit gestanden.
101 Es ist kein Zufall, daß die Wendung der Justizgeschichte
102 entstammt, mit der in Deutschland der Zeitverschleiß aus
103 Gedankenlosigkeit, Lässigkeit, Bequemlichkeit oder Dünkel
104 umschrieben wird. " Binnen den Bänken " saß im Mittelalter
105 das Gericht, die Akten lagen neben den Schöffen auf der Bank,
106 und was sogleich erledigt werden sollte, lag unmittelbar neben ihnen.
107 Das andere " schob man auf die lange Bank ", und der
108 Sprachgebrauch hat dieses Bild bis heute durch kein anderes ersetzt.
109 Personalmangel, Zunahme der Beanspruchung, unzureichende
110 Besoldung, komplikationsträchtige Gesetze, Ordnungen,
111 Verfassungen und Gliederungen werden angeführt, wenn man dem
112 " drohenden ", dem in Wahrheit bereits hereingebrochenen
113 " Stillstand der Rechtspflege " nachspürt. Diese Beschwerden
114 haben einzeln und insgesamt ihre Berechtigung. Doch hinter den
115 Beschwerden ruht auch, unangetastet bislang, das angemaßte
116 Vertretertum, das für ein Gericht über den Menschen zu sprechen
117 meint und sich darum gottähnlich und berechtigt dünkt, über die
118 menschliche Zeit zu verfügen. Keine Verbesserung im Detail,
119 nicht einmal die Anhebung der Besoldung und der Gebührenordnung,
120 wird der Justiz ein Verhältnis zur Zeit bescheren, das keine
121 Parodie wie das verbale Orgelspiel vom " Streben nach
122 Gerechtigkeit " ist. Es muß endlich ein heilsames Entsetzen
123 über die Juristen kommen: das Entsetzen angesichts der Tatsache,
124 daß ihnen Macht über menschliche Zeit auferlegt ist.
125 Übertreibung gelegentlich eines einzelnen Falles, wegen eines
126 Lokführers, dem zuletzt volle Gerechtigkeit widerfuhr? Am 6.
127 Dezember 1966 soll Kurt Günther Möller seine Geliebte
128 ermordet haben. Im April 1967 wurde er gefaßt und in
129 Untersuchungshaft genommen. Im Mai 1968 erhob die
130 Staatsanwaltschaft Frankfurt Anklage. Anfang dieses Jahres
131 ließ das Oberlandesgericht Frankfurt wissen, der Umstand, daß
132 jetzt eine psychiatrische Untersuchung Möllers stattfinde,
133 hindere die Staatsanwaltschaft nicht daran, nun Anklage zu erheben.
134 Es lag schon so viel Staub auf dem bis heute nicht terminierten
135 Fall Möller, daß ein leibhaftiges Oberlandesgericht die seit
136 1968 vorliegende Anklageschrift übersehen konnte. In einer
137 anderen Sache, einem Wirtschaftsstrafverfahren, ist dieser Tage
138 in Frankfurt durch Urteil einer Strafkammer eingestellt worden.
139 Die angeklagten Tatbestände waren in den Jahren 1955 und 1956
140 angefallen. Die Ermittlungen hatten spätestens 1958 eingesetzt.
141 Eine Voruntersuchung fand 1961 statt. Die Anklage datierte dann
142 vom 30.November 1967, und Rechtsanwalt Joachim Kügler, dem
143 Verteidiger, wurde sie am 18.Juli 1968 zugestellt. Der
144 Beschluß zur teilweisen Zulassung der Anklage erging am 30.
145 Juni 1970. Richter Hahn, unter dessen Vorsitz es zur
146 Einstellung des Verfahrens auf der Grundlage des Artikels 6 der
147 " Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten "
148 Kam: " Ein Verfahren kann nicht nur deshalb unendlich lange
149 weiter betrieben werden, weil die Ermittlungen besonders große
150 Anforderungen stellen ". Die Auguren nennen das einen " kühnen
151 Vorgriff " auf am 1.Oktober 1973 in Kraft tretende,
152 reformierte Teile des Strafgesetzbuchs und sind gewiß, daß diese
153 Entscheidung keinen Bestand haben wird. Ist es " kühn ", wenn
154 Juristen endlich auf Uhr und Kalender blicken? Frankfurter
155 Richter haben wenigstens von einem drohenden " Stillstand
156 der Rechtspflege " gesprochen. Anderenorts, in Lübeck
157 beispielsweise, teilte die Staatsanwaltschaft dpa mit, daß " die
158 Ermittlungen gegen Imiela im wesentlichen abgeschlossen " sind.
159 " Nur einige Untersuchungsergebnisse stünden noch aus. Nach dem
160 jetzigen Stand der Ermittlungen sei nicht vor 1972 mit einem
161 Prozeß gegen den 40jährigen zu rechnen, sagte ein Sprecher der
162 Staatsanwaltschaft. Nur wenn Imiela sein Schweigen bräche, sei
163 möglicherweise eine Beschleunigung des Verfahrens zu erwarten ".
164 Da kann man kaum noch davon sprechen, daß die Justiz kein
165 Verhältnis zur Zeit hat. Da muß eher von der Ankündigung
166 mehrerer Straftaten die Rede sein. Und in West-Berlin
167 begann in der letzten Woche einmal wieder ein Kurras-Prozeß,
168 Kurras zum dritten, wer weiß, ob zum letzten Mal. Am 2.
169 Juni 1967 fiel aus einer von dem Kriminalobermeister Kurras
170 geführten Dienstwaffe der Schuß, der den Studenten Benno
171 Ohnesorg tötete. Schon im November 1967 wurde Kurras
172 freigesprochen, doch die eigentlich zu rühmende Beeilung ging
173 leider zu Lasten der Beweisaufnahme. Die schöpfte nicht alle
174 Möglichkeiten aus, und so verfiel das Urteil der Revision. Im
175 April 1968 schied der zweite Kurras-Prozeß an einer Caprice
176 des Vorsitzenden dahin, der das Verfahren aussetzte, weil
177 Nebenklägervertreter Horst Mahler nicht in der Robe auftrat und
178 der Vorsitzende darin ein den ordentlichen Ablauf demolierendes
179 Verhalten und eine psychische Beschwerung des Angeklagten sah.
180 Im Januar 1970 beschloß das Kammergericht Berlin, es sei
181 fortzusetzen, doch jetzt erst fuhr man fort. Die Annahme,
182 Kurras sei von diesem strafrechtlichen Kunstturnen begünstigt
183 worden, geht fehl. Die Jacke spannt über Herrn Kurras Leib,
184 er hat zugenommen. Vom Dienst suspendiert, ist er in sein
185 Schicksal, in seinen Aufenthalt im Wartezimmer der Justiz
186 hineingesackt. 1967 war Herrn Kurras' Verstörung spürbar.
187 Daß auch er, trotz seiner Dürftigkeit als " Greifer " in
188 Zivil unter Demonstranten eingesetzt und ausgesetzt, ein
189 Opfer war, konnte man nicht übersehen. Heute ist an die Stelle
190 der Verstörung von Kurras Selbstgefälligkeit getreten, und auch
191 sein Verteidiger, der Rechtsanwalt Roos, ein schätzenswerter
192 Mann, ist der verlorenen Zeit zum Opfer gefallen: er leistet
193 Hilfestellung und stellt seinen Mandanten als einen " der ersten "
194 hin, " der am eigenen Körper die aufgegangene Saat der
195 Gewalt spüren mußte ". Herr Kurras hat sozusagen als Prophet,
196 als Pionier des Widerstands gegen die Gewalt nach dem 2.
197 Juni 1967 am 2.Juni 1967 geschossen. Drei Jahre sind
198 vergangen - und Herr Kurras schweigt in seinem dritten Prozeß,
199 geschwollen wie ein Pfau und " aus Protest ". Man bemüht sich,
200 daran festzuhalten, daß diese Entwicklung kosenquent, nicht
201 Kurras vorzuwerfen und er weiterhin der kleine Mann ist, den man
202 verheizt hat. Doch drei vertane Jahre haben eine Art
203 Schuldfähigkeit inihm gestiftet. Zeitverschwendung der Justiz
204 hat einem Angeklagten noch nie genutzt. Übrigens haben unlängst
205 in Genf 19 Untersuchungsgefangene einen Geldbetrag gesammelt und
206 der Genfer Justiz ein Photokopiergerät geschenkt, nachdem ein
207 seit dem Dezember 1967 in U-Haft befindlicher Mithäftling
208 nicht zu seinem Prozeß kam, der fortgesetzt nicht möglichen
209 Kopierung der Unterlagen für die Anklage wegen. Ein
210 interessanter Versuch, der buchstäblich mitten aus der Justiz
211 heraus unternommen worden ist. Für eine derartige
212 Justizerneuerung von innen haben wir uns allerdings an dieser
213 Stelle nicht erklärt. Seelisch ausgezogen. Eine
214 radikale Reform des deutschen Strafprozesses fordern Anwälte und
215 Rechtswissenschaftler. Besser als bisher soll die Intimsphäre
216 des Angeklagten vor Gericht geschützt sein. Vor deutschen
217 Gerichten kann es geschehen, daß einer bestraft wird, bevor noch
218 feststeht, ob er überhaupt straffällig geworden ist. Ob er in
219 der Schule ein Versager war oder im Berufsleben scheiterte, ob
220 ihm die Frau davongelaufen ist oder der Gerichtsvollzieher ihn
221 besucht hat - dies alles und zuweilen Intimeres erfragen Richter
222 vom Angeklagten, wenn dieser, wie es die Strafprozeßordnung
223 vorschreibt, zu Beginn einer öffentlichen Verhandlung " über
224 seine persönlichen Verhältnisse " vernommen wird. " Es ist im
225 Rechtsstaat unerträglich ", kommentiert der renommierte Bonner
226 Anwalt Professor Hans Dahs diese Prozedur, " daß ein
227 schuldloser Angeklagter es hinnehmen muß, im Gerichtssaal
228 erbarmungslos durchleuchtet und seelisch ausgezogen zu werden. "
229 Der Seelen-Strip soll ein Ende haben. Auf dem Deutschen
230 Anwaltstag vorletzte Woche in Nürnberg plädierten
231 Westdeutschlands Verteidiger für eine radikale Reform des
232 Strafprozesses - durch Einführung des sogenannten
233 " Schuldinterlokuts ". Das Fremdwort steht für eine Zweiteilung
234 der strafrechtlichen Hauptverhandlung. Danach würde in jedem
235 Prozeß, bei dem die Täterschaft des Verdächtigten umstritten
236 ist, das Gericht zuerst ausschließlich darüber Beweis erheben
237 und zunächst auch nur darüber entscheiden, ob der Angeklagte
238 tatsächlich die Tat begangen hat. Erst wenn sich die Richter
239 davon überzeugt haben, würden in einem zweiten
240 Verfahrensabschnitt alle für die Strafzumessung wichtigen
241 Gesichtspunkte geprüft - die einschlägigen Vorstrafen des
242 nunmehr Überführten, seine häuslichen und finanziellen
243 Verhältnisse, notfalls seine Zurechnungsfähigkeit. Vorteile
244 nach Ansicht der versammelten Anwälte und zahlreicher
245 Strafrechtsexperten: Die Urteilsfindung würde objektiviert,
246 die Privatsphäre des Angeklagten - für das Publikum oft
247 Hauptgegenstand des Interesses - besser geschützt, die
248 Persönlichkeitsprüfung andererseits dann, wenn es sich wirklich
249 als notwendig erweist, vertieft. Nach geltendem Recht, so klagt
250 Rechtsanwalt Hans Dahs junior, Sohn des prominenten Vaters und
251 Referent dieses Problemkreises auf dem Anwaltstag, leistet der
252 Betroffene zunächst einmal einen " persönlichen Offenbarungseid ",
253 der im Falle eines Freispruchs überflüssig ist. Und nicht
254 nur das: Der Freigesprochene, dessen vielleicht unerfreuliche
255 persönliche Verhältnisse in der Öffentlichkeit ausgebreitet
256 wurden, verläßt, wie sich der Heidelberger Strafrechtler
257 Eberhard Schmidt empört, den Gerichtssaal " als der
258 Gedemütigte, der Bloßgestellte und kann dadurch möglicherweise
259 erhebliche soziale Nachteile erfahren ".
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