Quelle Nummer 284

Rubrik 02 : RELIGION   Unterrubrik 02.24 : PRAKTISCHE

KONSULTATION (UEBER GOTTESDIENST)
KARL FERDINAND MUELLER (HRSG.)
GOTTESDIENST IN EINEM SAEKULARISIERTEN ZEITALTER
EINE KONSULTATION DER KOMMISSION FUER GLAUBEN UND
KIRCHENVERFASSUNG DES OEKUMENISCHEN RATES DER KIR-
CHEN
JOHANNES STAUDA VERLAG KASSEL/PAULINUS-VERLAG, TRIER
1971, S. 140-


001  Vom Gottesdienst als Lebensfunktion. Vom
002  Gottesdienst als Glauben. Gottesdienst auf die kürzeste
003  Formel gebracht, aber vollgültig, umfassend und ganz ausgelotet,
004  heißt also einfach Glauben. Wo an Christus geglaubt wird, ist
005  Gemeinschaft mit ihm. An diesem Glauben oder Nichtglauben fällt
006  eine Entscheidung. Dieser Glaube ist nichts anderes als eine
007  Beschlagnahme durch das Evangelium. Das schließt nicht aus,
008  daß es beim Glauben ein Ja im Nein und ein Nein im Ja gibt.
009  Daß ich von der Sache Christi nicht loskomme, daß ich
010  weiterfragen muß, daß ich in Gang gesetzt bin: das ist
011  entscheidend. Wo das ist, da ist Glaube. Der Glaube ist die
012  radikale Absage an das Gesetz und alle Gesetzlichkeit. Er ist im
013  Grunde kultfeindlich, weil Kult immer Gesetze aufrichtet. Im
014  christlichen Gottesdienst hingegen kann es immer nur eine Absprache
015  von Spielregeln geben. Das ist um der Ordnung und der gemeinsamen
016  Verständigung willen allerdings notwendig. Alle Gesetze aber
017  sind im Neuen Testament vom Evangelium gerichtet. Das Kreuz hat
018  sie gerichtet und damit auch den Kult. Kult ist dort, wo
019  Selbstdarstellung, Autonomie, Selbstzweck, Zwänge und
020  Unfreiheiten sind. Dort regiert das Gesetz. Wo aber das
021  Evangelium regiert, ist Freiheit. Gottesdienst im Neuen
022  Testament ist Leben aus dem Evangelium in Freiheit.
023  Gottesdienst als Glaube ist darum Anstiftung und Geschenk zur
024  Freiheit vor Gott und den Menschen in der Welt. Glaube ist nie
025  abstrakt, sondern immer konkret. Glaube ist immer etwas
026  Überfließendes. Der Glaube lebt stets von der Unmöglichkeit
027  des Möglichen. Das gleiche gilt vom Lieben und vom Hoffen.
028  Wäre das nicht so, wäre der Glaube kein Glaube. Er ist
029  transzendent, aber in der Immanenz wirksam. Er ist spirituell,
030  aber real. Er hat eine weltliche Intention. Er ist nie für sich,
031  sondern hat stets einen Bezugspunkt. Glauben im christlichen
032  Sinne heißt immer, den gekreuzigten und auferstandenen Jesus von
033  Nazareth anerkennen, aber nicht isoliert vom Mitmenschen, nicht
034  an ihm vorbei, sondern in Solidarität mit ihm. Beides gehört
035  immer zusammen. Gottesdienst verwirklicht sich nur so, daß
036  Transzendenz in der Immanenz zwischenmenschlich konkret wird.
037  Anders gesagt: an Gott glauben heißt heute: die Person Jesu
038  von Nazareth so nach Gott zu befragen, daß die Begegnung mit dem
039  Mitmenschen unausweichlich wird, " als wäre er mein Christus ".
040  Denn Christus ist auf die Welt gekommen, damit mir jeder Weg,
041  der an dem Mitmenschen vorbeiführt, ein für allemal versperrt ist.
042  Mit einem Bilde zu reden: Gott steht nicht vor oder über dem
043  Menschen, sondern seit Christus und mit Christus hinter und neben
044  ihm, auch wo der Mensch es nicht weiß. Gott ist eine Sonne im
045  Rücken, die alles Glauben, Lieben, Hoffen und Handeln in
046  Freiheit erst ermöglicht. Wir müssen es wagen und Lernen, wenn
047  wir von Gott reden, von den Gaben Gottes und ihrer Transzendenz
048  diesseitig zu reden. Christlicher Glaube will in jedem Falle
049  konkret gelebt sein. Er erfährt seine Zuspitzung, wo es um die
050  Vergebung geht. Wo Glaube ist, da ist auch Vergebung. Denn im
051  Glauben hat der Mensch alles: den ganzen Christus, und wo
052  Christus ist und anerkannt wird, ist Vergebung. Man darf die
053  Vergebung nicht durch das Gesetz verdunkeln. Wie es auch mit dem
054  Glauben sein mag: der gekreuzigte und auferstandene Christus
055  bürgt für ihn. Und darum ist Vergeben und Sich Vergebenlassen
056  Gottesdienst. Das ist das größte Abenteuer des Glaubens.
057  Diese Vergebung aber ist wiederum nicht denkbar, ohne daß sie
058  zugleich auch unter den Menschen realisiert wird. Auch Vergebung
059  und Vergeben sind untrennbar durch Christus an den Mitmenschen
060  verwiesen. Eins verlangt das andere, ja realisiert sich im anderen.
061  Der Gottesdienst des Glaubens ist immer ein Gottesdienst der
062  Vergebung und der Versöhnung, oder er ist kein Gottesdienst.
063  Er ist eine Friedenshandlung. Vom Gottesdienst als
064  Handeln. Gottesdienst ist ein Handeln Gottes und zugleich ein
065  Handeln der Menschen, die weitergeben und realisieren, was sie
066  empfangen haben. Innerer Friede, der nicht zugleich äußeren
067  Frieden in Aktion setzt, ist ohne Salz. Die Tat spricht hier
068  für das Wort. Damit wird Gottesdienst zugleich zu einem Handeln
069  unter den Menschen. Unter dem Vorzeichen Gottes wird das
070  Handeln an Menschen zum Gottesdienst. Gottesdienst ist überall
071  dort, wo der Glaube, der Glaube an Gott und die Liebe zu den
072  Menschen sich für die Welt verfügbar halten. So heißt
073  Gottesdienst immer mit dem Glauben unterwegs sein und das Ziel ist
074  immer der Mensch, der den Anspruch hat, geliebt zu werden. So
075  ist Gottesdienst die Verwirklichung der Liebe zur Welt um des
076  Menschen und seiner Freiheit willen und zugleich die
077  leidenschaftliche Kampfansage an das Gesetz und die
078  Gesetzlichkeiten, die den Menschen den Zwängen des Lebens und
079  dem Tode ausliefern. So vollzieht sich Gottesdienst immer in der
080  Profanität und kennt keine sakralen und profanen Bereiche. Das
081  ganze Leben Jesu ist ein einziges großes Beispiel hierfür. Der
082  Gottesdienst der Christen wird somit zu einem politischen Handeln
083  ersten Ranges. Und nach diesem Gottesdienst verlangt heute die
084  nach Christus fragende Welt. Die Verkürzung des Gottesdienstes
085  auf das rein kultische Handeln gehört zu den folgenschwersten
086  Verengungen der christlichen Kirche. Auch und gerade der Glaube
087  hat seine gesellschaftspolitischen und sozialen Aspekte. Vergebung
088  und Vergeben geschieht immer in die Welt hinein, am Einzelnen,
089  aber auch an der Gesellschaft, an einer Gruppe, wie unter den
090  Völkern. Er geschieht immer im Handeln. Auch ein verbaler Akt
091  ist ein Handeln, genau wie ein sozialer Akt zugleich ein verbaler
092  sein kann. So konkretisiert sich Gottesdienst als Glauben nicht
093  nur im Hören, Singen und Beten, sondern im Zugleich des
094  sozialen Handelns. Eins kann im andern aufgehen. Aber das eine
095  ist nicht ohne das andere. Vom Gottesdienst als Leiden
096  Dieser Gottesdienst des Lebens aber steht stets unter dem
097  Zeichen des Scheiterns. Jedes Überschießen des Glaubens und
098  der Liebe führt in das Leiden, weil Glaube und Liebe, mit den
099  Maßstäben der Welt gemessen, absurd sind und Ärgernis bereiten.
100  Für den Christen aber kann das Blut und Tränen bedeuten.
101  Die Erfahrung der Gnade Gottes schließt immer auch die
102  Erfahrung des eigenen Scheiterns ein. So ist der Gottesdienst
103  des Lebens immer Lebensopfer. Das einzige Opfer, das vor Gott
104  gilt. Die Christen haben heute die Aufgabe, sich mit dem
105  leerausgehenden Leben vertraut zu machen. " Experientia crucis "
106  sollte das Thema des christlichen Gottesdienstes sein. Mit
107  anderen Worten: Es kommt weniger darauf an, Kreuze zu schlagen,
108  als vielmehr selbst Kreuz zu sein. Die neue Frömmigkeit, die
109  daraus erwächst, wird die des Verzichtens und des Engagements
110  sein. Sie ist nicht ohne die Hoffnung möglich. Leiden ohne
111  Hoffnung führt in die Verzweiflung. Der Gottesdienst des
112  Leidens aber ist der Gottesdienst der Hoffnung. So ist
113  Gottesdienst eine Lebensfunktion, die sich in der Einheit von
114  Glauben, Handeln und Leiden verwirklicht. Ein unteilbares
115  Lebensganzes, das keinen Unterschied von Gottesdienst und
116  Weltdienst am Sonntag oder Alltag mehr zuläßt. Ein
117  weltverhaftetes Geschehen des Glaubens, ein Verhalten, das
118  Transzendenz im Diesseits glaubhaft macht. So ist Gottesdienst
119  das Leben mit dem gekreuzigten, auferstandenen und gegenwärtigen
120  Herrn und den Mitmenschen im Hier und Jetzt. Die Fragen, die
121  sich daraus ergeben, sind folgende: Ist der Gemeindegottesdienst
122  damit überflüssig geworden? Welche Folgerungen ergeben sich aus
123  dem Lebensgottesdienst für die Gestalt des Gemeindegottesdienstes?
124  Und wie kann es gelingen, daß der Gemeindegottesdienst und der
125  Lebensgottesdienst als einer gelebt wird? Vom
126  Gottesdienst als Gemeindeversammlung. Von den
127  Grundstrukturen. Wenn Gottesdienst Glauben, Lieben und
128  Hoffen mit Christus heißt, dann kann es sich bei dem
129  Gemeindegottesdienst weder um eine Überhöhung noch Voraussetzung
130  des Lebensgottesdienstes handeln, sondern nur um einen
131  Gottesdienst in anderer Weise. Was aber kann getan werden, daß
132  der Gottesdienst nicht immer mehr zum Fremdling wird, und wie kann
133  es gelingen, daß der Gemeindegottesdienst und der
134  Lebensgottesdienst zueinander finden, wenn den Christen aufgegeben
135  ist, mit dem Gemeindegottesdienst mitten in der Welt zu leben?
136  Mit anderen Worten: Welchen Sinn hat der Gottesdienst der
137  versammelten Gemeinde in der Kirche, und welche Aufgabe hat er zu
138  erfüllen und welche Mittel stehen ihm zur Verfügung? So
139  richtig es ist, daß sich erst aus dem Zusammenleben der Menschen
140  gültige Formen des Gottesdienstes ergeben, so darf darüber nicht
141  hinweggesehen werden, daß der Gottesdienst der versammelten
142  Gemeinde auf die Dauer bestimmter Grundstrukturen und Grund
143  formen nicht entbehren kann. Kein Gottesdienst kann auf die
144  Dauer ohne ein Gerüst, Spielregeln und ohne bestimmte Formen
145  leben, die freilich unter veränderten Verhältnissen auch
146  verändert werden müssen. Die Frage ist, ob sie so flexibel sind,
147  daß sie sich jeweils den neuen Verhältnissen anpassen können
148  und immer gegenwartsbezogen bleiben. Hiermit beschäftigt sich das
149  Problem der Transformation der Texte, der biblischen und
150  liturgischen, sowie das Problem der Wiederholung und
151  Wiederholbarkeit bestimmter Formen. Eine weitere Frage ist, ob
152  es dabei bestimmte Spielregeln gibt, die unbedingt beachtet werden
153  müssen, das heißt, ob es konstitutive Elemente gibt, die nicht
154  aufgegeben werden dürfen und ob diese sich auf Stiftungen Jesu
155  zurückführen lassen, die nicht ungestraft übersprungen werden
156  dürfen. So wird immer wieder die Frage nach den spezifischen
157  Elementen und der Notwendigkeit des Gottesdienstes gestellt.
158  Befragt man hiernach das Neue Testament und die Urgemeinde, so
159  wird man erfahren, daß zu diesen Spielregeln erstens das
160  Beieinandersein der Glieder der Gemeinde gehörte, zweitens der
161  Umgang mit der Botschaft Jesu und drittens die Taufe und das
162  Herrenmahl. Diese konstitutiven Elemente werden auch heute im
163  ganzen bestimmend bleiben müssen, also das Zusammenkommen im
164  Namen Jesu unter dem Wort. Aber das Neue Testament kennt keine
165  Theorie über den Gottesdienst. Verkündigung und Herrenmahl
166  wurden als selbstverständlich praktiziert. Dabei spielten drei
167  Faktoren eine Rolle: Das Christuserlebnis sollte lebendig
168  erhalten werden. Das Bedürfnis, mit diesem Herrn und für
169  ihn zu leben, wurde zur Gemeindeerfahrung und führte die
170  Gläubigen immer wieder zusammen. Die freudige Erwartung
171  seiner Gegenwart und Wiederkehr prägte die Atmosphäre der
172  Gemeinschaft. So kam man zusammen, um auszutauschen, was man
173  gesehen und erlebt hatte, es zu sammeln, zu reflektieren, auch um
174  die Überlieferung und die Folgen für das eigene und gemeinsame
175  Leben zu überprüfen, und das Erkannte weiterzugeben. Es sollte
176  zur inneren und äußeren Oikodome der Gemeinde dienen und zugleich
177  missionarisch wirken. Neben oder in dieser vorwiegend durch verbale
178  Kommunikation bestimmten Gemeinschaftsform stand dann das Mahl.
179  Was trug es für das Selbstbewußtsein der Gemeinde aus? War es
180  die Deutung einer neuen Erfahrung? Welche soziale Dimension
181  hatte es? Auf jeden Fall kristallisierte sich deutlich ein
182  Zusammenkommen um Christi und der Gemeinschaft untereinander
183  willen heraus, bei dem man die Wirkungen des Pneuma als Gegenwart
184  des Kyrios erwartete. Weil aber charismatische Gaben sich nicht
185  als fixierbar und pneumatische Wirkungen sich nicht einfach als
186  wiederholbar erwiesen, so wiederholte man z. B. den Akt der
187  Mahlsgemeinschaft und erwartete darin stets Neues für sich selber
188  oder für die ganze Menschheit. Eine Pluralität von Antrieben
189  stand unter dem Zentralgedanken: Der Herr ist da, und er kommt
190  wieder. Dabei ist von Bedeutung, daß das Neue Testament den
191  Begriff Gottesdienst nicht mit Worten aus der Kultsprache
192  beschreibt, beim Lebensgottesdienst dagegen antike
193  Kultterminologien verwendet. Kann diese erste gottesdienstliche
194  Gemeinde für uns heute normativ sein? Sie lebte in einer
195  Ausnahmesituation. Ihre Naherwartung entfällt bei uns völlig.
196  Und wie entsteht heute Gemeinschaft unter Christen? Ist
197  Christus allein das gemeinschaftsbildende Element? Welche Rolle
198  spielen dabei die allgemein menschlichen Gesellungsbedürfnisse?
199  Gibt es eine besondere " gottesdienstliche " Weise der
200  Gemeinschaft? Es ist heute sehr viel schwerer geworden, die
201  Notwendigkeit des Sonntagvormittagsgottesdienstes zu begründen.
202  Zwingend notwendig ist er jedenfalls nicht. Jeder weiß, daß
203  neben diesen Gottesdienst schon längst Tagungsgottesdienste
204  und Rundfunkgottesdienste getreten sind und daß sein
205  Informationspensum von der christlichen Publikation und Presse
206  überholt ist. Wie aber kann man heute mit dem Wort recht umgehen?
207  Mit der Auslegung der Schrift, mit Beten, Singen und
208  Handeln, mit jenem Akt, den wir Liturgie nennen, die die
209  Antwort der Gemeinde ist? Wichtig ist dabei, daß alle Formen
210  für den Menschen einsichtig sein müssen, weltlich, offen und
211  grundsätzlich veränderlich. Nie hat die Liturgie Selbstzweck.
212  Sie ist stets ausgerichtet auf den Menschen, um dessen Heil es
213  geht. Sie muß mit ihm auch zu jubeln vermögen. Ein wesentliches
214  Merkmal der christlichen Gemeinde, die beieinander ist, besteht
215  darin, daß sie hört und antwortet auf das, was angesagt wird.
216  Der Gedanke der Verständigung spielt für die Kommunikation und
217  das Beieinanderbleiben eine entscheidende Rolle. So gehört zu
218  den Merkmalen des Gottesdienstes das Kerygmatische und
219  Doxologische: Mitteilung und Freude, Glücklichsein und
220  Bejahung der Welt im Gedenken an Gott. Es wäre aber falsch,
221  wenn der Gottesdienst sich auf diese Intention beschränken würde,
222  wenn der Gottesdienst nicht zugleich auch Sendung wäre.
223  Gottesdienst, der nicht zugleich auch die Aufgaben an der Welt
224  artikuliert und Impulse für das Verhalten mitten in der Welt gibt,
225  hat seinen Sinn verloren. Das bedeutet, daß der Gottesdienst
226  immer Gespräch mit Gott und der Welt ist, Mitteilung und
227  Bekenntnis, Hören, Fragen und Antworten als ein Geschehen,
228  das das ganze Leben bestimmt und in Gang setzt. Damit besitzt der
229  Gottesdienst stets einen unüberhörbaren Ruf zur Konkretion. Er
230  wird somit zu einem Aufbruch aus der Unverbindlichkeit, der vor
231  agressiven und provokatorischen Verhaltensweisen nicht
232  zurückschrecken darf, wenn es um die Wahrheit geht. Jeder
233  Gottesdienst ist verdächtig, der nicht zugleich auch eine
234  Beunruhigung in der Welt verursacht.

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