Quelle Nummer 266
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.05 : ABENTEUERROMAN
WOLFGANG HAEDECKE
DIE STEINE VON KIDRON
AUFZEICHNUNGEN AUS AEGYPTEN, DEM LIBANON, JORDANIEN
UND ISRAEL
CLAASSEN VERLAG HAMBURG UND DUESSELDORF 1970, S. 62-
001 Wasser: es könnte genützt werden - aber wie langsam setzt
002 sich eine Einsicht durch, in einem Hirn, in vielen Hirnen?
003 Wie viele Kanäle braucht eine Einsicht, um durchzudringen,
004 Hände zu bewegen? Wieviel Geld braucht sie? Woher kommt das
005 Geld, und wenn es beschafft ist: in welche Kanäle fließt es?
006 Wem dient es, wenn es erst in Kanäle fließt - dient es noch
007 der Einsicht und ihrer Verwirklichung? Wem nützt es
008 schließlich - etwa doch wieder nur den Reichen, die es noch
009 reicher macht, die es in den Strandhotels verschleudern? Wieviel
010 Geld erreicht den Eselreiter, den Wächter? Was überhaupt
011 denken diese, wenn sie den unfertigen Damm, die ausländischen
012 Kräne, die Betonmaschinen, die Seilwinden, die Baracken sehen?
013 Dabei ist die Einsicht aus Not geboren, die Not ist uralt und
014 auch die Einsicht, die Not ist schon biblisch: seit Abraham
015 suchen die Hirten das Wasser, lassen sich an den Quellen nieder,
016 bauen Brunnen, denn wer die Brunnen hat, kann Herden halten,
017 und Vieh ist Reichtum; wer hier eine Botschaft zu verkünden hat,
018 dem diktiert die Not die Sprache, der redet vom Wasser des
019 Lebens, das er spendet: auch er, der bis in diese
020 Gegend gekommen sein müßte. Aber das Selbstverständliche ist
021 nicht immer selbstverständlich, das Uralte überlebt und haftet
022 zäh, es widersteht dem Neuen, ob es eine Botschaft ist oder ein
023 Staudamm: schon die alten Hirten verachteten die Arbeit, ihre
024 Verachtung hat sich vererbt - wenn also jetzt der Wächter vor
025 unseren Objektiven auftritt, mit mißtrauischem Blick nach unseren
026 Geräten, wenn er hinübergeht zum Damm, so daß, aus unserer
027 Perspektive, die Schultern links und rechts die Berge berühren;
028 wenn er dort lange bewegungslos steht und über den spärlichen
029 See blickt: was denkt er? Was schützt er? Ist er wirklich
030 für den Damm? Sind seine Brüder, seine Freunde dafür?
031 Verdient er sein Geld hier nur, weil er leben muß, weil sein
032 Amt leicht ist, oder wünscht er den Damm, will er die Mauer und
033 den See wachsen sehen? Will er Veränderung? Gegen Abend:
034 Dörfer; Toleranz. Später sehen wir den See von weit
035 oben. Drüben leuchtet noch sehr hell der Gegenhang, wir stehen
036 schon im Schatten, der Kühle bringt und die Beka'a schnell
037 überzieht. Nun erhebt sich auch die Moslemfrau, die lange stumm
038 in unserer Nähe hockte, ohne uns zu beachten; eine alte Frau,
039 halb schlafend, vielleicht träumend, vielleicht Erinnerungen
040 nachhängend, jedenfalls schweigsam; langsam geht sie davon; die
041 Falten sind als Netz über ihr Gesicht gespannt, die Augen
042 liegen in tiefen Höhlen, die Hände zittern. Durch die Dörfer
043 heimfahrend, empfinden wir überall Stille. Hast ist hier fremd,
044 niemand scheint hinter der Zeit herzulaufen, nicht einmal die
045 jungen Männer, deren staunende Gesichter sich erst zum Zuruf
046 oder zum Gelächter verzerren, wenn wir schon an ihnen
047 vorbeigefahren sind. Manche Dörfer sind mohammedanisch, die
048 spitzen Minaretts zeigen es an, andere christlich, wir sehen es an
049 den Kirchtürmen; manche sind christlich und mohammedanisch,
050 Turm und Minarett stehen zwischen den Häusern, das
051 Nebeneinander der Religionen anzeigend, das den kleinen Staat
052 Libanon beherrscht. Die Ämter werden hier peinlich genau
053 paritätisch verteilt, vom höchsten bis zum geringsten, an diesem
054 Modus ändert kein Putsch etwas und keine Korruption, von der die
055 Europäer immer wieder sprechen. Und wahrscheinlich ist das ein
056 passender Modus; gelegentliche Vorstöße der einen oder der
057 anderen Seite (die Moslems bauen mit Ölgeldern aus Kuweit eine
058 Moschee provokant in ein christliches Dorf, Herr W. setzt
059 nicht weniger provokant Häuser und Kirche im europäischen Stil
060 in die Beka'a) lassen sich abfangen oder ertragen, wenn der
061 Status der gegenseitigen Duldung in den Herzen und Hirnen der
062 Menschen verankert werden kann. Abends:Die erste Sure;
063 Gott. " Gott aber? Er ist sehr weit weg, sehr fremd,
064 eigentlich unbekannt und unerreichbar. Allah akbar - das
065 heißt: Gott ist größer. Gott ist nicht groß, nicht am
066 größten, damit wären Grenzen gesetzt. Er ist größer, das
067 schafft eine unendlich wachsende Distanz, einen wachsenden Gott.
068 Ungewiß ist auch seine Liebe und Gnade, er ist kein warmer,
069 wärmender Gott, er ist fern und eisig, er verlangt Unterwerfung,
070 er versklavt durch Ferne und Furcht ", sagt Herr W. über
071 den Gott des Islam, er interpretiert Fatihah, die erste
072 Sure, " also wird auch ein Erlöser völlig abgelehnt, es gibt
073 keinen Vorgriff, auch nicht die Hoffnung auf Vorgriff ins
074 Jüngste Gericht, die Menschwerdung Gottes, der Gottessohn ist
075 undenkbar, sein Kreuzestod ausgeschlossen. Trotzdem bleibt auch
076 hier Jesus groß, ein mächtiger Prophet. Unbekannt sind unsere
077 Begriffe von Schuld, Sühne und Vergebung; aufgerechnet wird
078 am Ende. " Wobei ich an die eine, mir schon vertraute End-
079 Vorstellung des Islam denke: über das Tal Kidron wird vom
080 Tempel zum Ölberg ein Seil gespannt, dünn wie ein Menschenhaar,
081 an den Seilenden stehen Jesus und Mohammed, während die
082 Auferstandenen über das haardünne Seil gehen müssen, wer
083 abstürzt, ist gerichtet: eine ebenso poetische wie vernichtende
084 Vorstellung. " Also fehlt dem Moslem die Liebesgewißheit, er
085 ist beschränkt auf die Furcht vor seinem Gott, dessen Ratschluß
086 undurchschaubar bleibt - sehen Sie, wie das den Moslem
087 verkrampft, wie es ihn unfrei macht? " Nicht unbedingt; ich
088 sehe zwar, daß die tiefen Verbeugungen des Beters in der Moschee
089 wie Würfe ins Leere wirken, aber ich sehe wenig Krampf bei ihm,
090 eher Leichtigkeit und ein gelassenes Warten-Können. Ich
091 sehe Krampf eher bei den Europäern, die hier angestrengt sich
092 behaupten wollen, von denen einige krampfhaft hierher flohen,
093 eindeutig vor sich selbst und liebesgewiß kaum. Selbst Herr W.
094 unterstreicht den Stolz und die gelassene Würde des Arabers
095 - Widersprüche, die offenbleiben. " So spüren Sie die
096 Überlegenheit unseres Gottes: er verspricht die Liebe, wir
097 sind ihrer gewiß durch den Erlöser - ein ungeheurer Vorsprung.
098 Ich füge hinzu, was ich über die Beziehungen von Christen und
099 Moslim weiß: die Moslim dulden die Christen äußerlich und
100 lange Zeit, aber letzten Endes hassen sie uns. Die Christen
101 tolerieren den Islam zunächst nicht, aber sie lieben den Moslem
102 letzten Endes. " Ich bin da nicht sicher. Müßten die heiligen
103 Stätten der Christenheit nicht längst Asche und Staub sein,
104 wenn die Moslim so dächten? Provoziert eine solche Meinung -
105 sie ist offenbar nicht bloß Selbstschutz in der Diaspora, was
106 begreiflich wäre - nicht erst die Unduldsamkeit der anderen:
107 durch Unterstellung? Schwierige Fragen, schwierige Urteile;
108 ich werde darüber nachdenken. Wir stehen auf schwankendem Boden.
109 Morgens: Der Schwärmer. An der Tür des Speisesaales
110 pralle ich mit Budrus zusammen. Er hat mich erwartet; wir lachen
111 uns an, er faßt mich am Arm und zieht mich in das kleine
112 Gärtchen neben der Kirche. Er hat ein schönes, verwegenes,
113 dabei kindlich zutrauliches Gesicht und fiel mir schon am ersten
114 Morgen auf: mit seinem strahlenden Lachen sprang er uns fast an
115 die Brust. Ich verstand zuerst seinen Namen nicht; er erklärte
116 ihn lachend: Budrus sei die arabische Form von Petrus, auf
117 seinen Namen sei er stolz, Budrus heiße der Fels. Jetzt zerrt
118 er einen zerlappten Ausweis aus dem Hemd und hält ihn mir hin.
119 Aufgeregt tanzt eine Locke auf seiner Stirn: Mit diesem
120 Ausweis werde er nächstes Jahr nach Deutschland kommen, mit dem
121 Ausweis und dem Zertifikat seiner Abschlußprüfung; mit dem
122 Zertifikat (er benutzt diesen Ausdruck) werde er studieren;
123 alle Tore sprängen in Deutschland vor ihm auf, vielleicht werde
124 er Arzt werden oder Ingenieur oder Rechtsanwalt oder Flugkapitän
125 oder Professor; er werde studieren und dann Geld verdienen,
126 schnell, viel Geld, sehr viel Geld. Alle Leute in Deutschland
127 verdienten sehr viel Geld. Er öffnet seine Hände, er schaufelt
128 das Geld an seine Brust, seine Zähne strahlen, sein dunkles,
129 kehliges, gebrochenes Deutsch rollt auf der Zunge. Er packt mich
130 an beiden Armen, schüttelt mich vor Begeisterung: als reicher
131 Mann werde er zurückkehren. Er läßt mich nicht zu Worte kommen.
132 Er fragt nicht einmal, er zweifelt gar nicht, daß alles so
133 kommen wird, wie er träumt. Er schiebt den Ausweis in die
134 Tasche, er nimmt mich am Arm, wir gehen langsam über den
135 Kirchplatz, stolz schaut er sich um; Herr W. lächelt uns zu,
136 Budrus ruft einem Freund nach: " Siehst du, er sagt es auch. "
137 Damit bin ich gemeint, aber ich komme nicht zu Wort, denn
138 nun malt er mir aus, welche Rolle er nach seiner Rückkehr aus
139 Deutschland spielen wird. Endlich kann ich zaghaft einwerfen:
140 " Sie müssen auf jeden Fall erst Ihre Schulausbildung beenden. "
141 Er lacht und nickt eifrig, aber er überhört den warnenden
142 Unterton meiner Bemerkung, bedankt sich überschwenglich und
143 stürzt davon. Ich komme nicht zum Luftholen; ein Auto fährt
144 ein, der Professor winkt mir zu. Später Vormittag: Der
145 Professor. Er lächelt. Seine kreidigen Hände zittern auf
146 der Karte. Sie schneiden das Land auf, Schicht um Schicht:
147 ein altes Kulturland, sagt er, viel älter als das germanische
148 oder griechische Europa. Hier habe die Bronzezeit um 4000 vor
149 Christus begonnen, in Europa erst vor 2500 Jahren - dies nur
150 als Hinweis, denn der historische Vorsprung sei kein Pfandschein
151 auf Gegenwart oder Zukunft, die eine völlige Neuorientierung
152 verlangten. Die Beka'a sei geologisch ein Grabenbruch wie die
153 oberrheinische Tiefebene, er zeigt es an der Karte und an einer
154 Querschnittskizze: die Beka'a gehöre zum längsten Graben der
155 Welt, er reiche von der Türkei bis zum Tanganjika-See.
156 Der Libanon bestehe aus Sedimentgestein, habe keine kristallinen
157 Gesteine, darum fehle es an Bodenschätzen - bis auf gewisse
158 bituminose Kohlen und Kreiden, Asphaltit am Hermon: und
159 Eisenerz. Der Professor tritt dicht vor die Zuhörer. Er ist
160 ein alter Mann, aber die wasserblauen Augen leuchten. Er spricht
161 den jungen Arabern direkt in die überraschten Gesichter: ein
162 Erbe sei anzutreten. Die Phönizier, das älteste Handelsvolk
163 des Libanon, hätten wahrscheinlich auch die Eisenverarbeitung
164 nach Europa gebracht, es müsse hier zahllose Eisenschmelzen
165 gegeben haben, der erste Stahl sei vielleicht in Damaskus
166 produziert worden, die Damaszenerklingen der Ritterzeit trügen
167 nicht umsonst ihren Namen - das Erz für den Stahl aber sei aus
168 dem Libanon gekommen, Syrien besitze keines. Das Erz (er hält
169 eine Probe in den zitternden, trockenen Händen) liege noch immer
170 im Boden, viele Millionen Tonnen. Allerdings fehle es an Kohle;
171 aber Eisenerz sei auch mit Petroleumgas aufzuschließen,
172 Petroleumgas sei aus Syrien leicht zu beschaffen,
173 selbstverständlich müsse man experimentieren, riskieren, aber
174 eine große Zukunft komme in Sicht - es fehle also nicht an den
175 materiellen Grundlagen, es fehle an Phantasie, Einsicht, einem
176 veränderten, veränderungswilligen Bewußtsein. Die ältere
177 Generation sei im kommerziellen Denken befangen, sie wolle
178 sofortige Gewinne, kein Risiko, keine Investitionen, möglichst
179 wenig Arbeit, sie schlage alle Pläne und Beschwörungen in den
180 Wind; also komme es auf die Jüngeren an, auf sie, die vor ihm
181 säßen. Sie staunen ihn mit großen Augen, aber schweigend an.
182 Sie stellen keine Fragen, trotz seiner Aufforderung. Mißtrauen
183 sie ihm? Er ist Deutscher, zwölf Jahre im Lande, hat mit den
184 höchsten Regierungsstellen verhandelt, mit Bankherren und
185 Grundbesitzern; er weiß, was er sagt. Er verachtet die Araber
186 nicht, er beschwört sie. Sie klatschen ihm Beifall, aber sie
187 fragen nicht. Er stäubt seine Hände am Jackett ab, lächelt
188 und geht an die Tafel zurück. Budrus nickt still vor sich hin,
189 aber auch er schweigt. Die deutschen Diakone und Lehrer lächeln
190 verächtlich. Sie erheben sich selbstgewiß, sie haben das
191 erwartet. Trotzdem weigere ich mich, ihnen recht zu geben.
192 Verachtung und Ironie, auch wenn sie sich uns aufdrängen wollen,
193 stehen uns nicht zu. Ein kritisches, auf Veränderung
194 orientiertes Bewußtsein hat viele Felder, und es gibt genügend
195 Bereiche, in denen wir versagt haben, täglich noch
196 versagen. Wir haben keinen Grund zur Überheblichkeit. Wir sind
197 nicht besser, weil wir fleißiger, technischer versierter sind.
198 Mittags, ausruhend: Gott. Ich grüble über den
199 gestrigen Abend nach. Die Selbstgewißheit von Herrn W.
200 irritiert mich: Wie kann man über das Ungewisse so sichere
201 Aussagen machen? Nur weil man glaubt? Wie kann man über Gott
202 so sicher Bescheid wissen, wie ihn mit solcher Unbefangenheit im
203 Munde führen, wie von ihm reden, als sei er der Nachbar oder ein
204 Baum, eine wohlvertraute Straße, ein Garten? Er scheint so
205 nahe zu sein, dieser Gott. Er scheint beim gleichen Krämer zu
206 kaufen; er ist vielleicht ein Herr, überlegen, aber man trifft
207 ihn oft, man zieht den Hut, er grüßt zurück; man muß nur die
208 Hände falten, und er ist da, überlegen, doch anwesend, er
209 spendet Liebe, er speist und tränkt, er ist wie ein sehr gütiger
210 Kaiser oder Präsident; jederzeit kann man ihn anrufen; man
211 weiß, wo er ist. Niemals werde ich ihn so auffassen können. Er
212 ist nicht mein Nachbar. Ich bin seiner nicht gewiß. Ich sehe
213 ihn nicht. Ich weiß beinahe nichts von ihm. Aber ich habe ihn
214 auch nicht abgetan. Ich kann nicht selbstgewiß behaupten, daß er
215 nicht ist. Die Selbstgewißheit der fest Gläubigen und
216 der wirklich Ungläubigen stößt mich ab. Sie ähneln einander so
217 sehr. Ich staune über sie; ich bin beunruhigt durch sie; ich
218 fühle mich klein und hilflos vor ihnen; manchmal möchte ich sie
219 auslachen.
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