Quelle Nummer 252

Rubrik 02 : RELIGION   Unterrubrik 02.24 : PRAKTISCHE

ZUR REFORM DES RELGIONSUNTERRICHTS
HUBERTUS HALBFAS
AUFKLAERUNG UND WIDERSTAND
BEITRAEGE ZUR REFORM DES RELIGIONSUNTERRICHTS UND
DER KIRCHE
CALWER VERLAG STUTTGART/PATMOS VERLAG DUESSELDORF
1971, S. 50-


001  Religionsunterricht als " ordentliches Lehrfach ".
002  Zum Religionsunterricht ziehen 12 evangelische Schüler aus der 8.
003  Klasse aus. Zurück bleiben 21 weitere Schüler, die auf
004  Grund der Konfession ihrer Eltern am katholischen
005  Religionsunterricht teilnehmen. Alle 21 sind getauft und - wie
006  man so sagt - katholisch erzogen, aber kaum ein Drittel dieser
007  Schüler besucht noch den sonntäglichen Gottesdienst, und es ist
008  zu erwarten, daß die späteren Jahre einen weiteren Teil jener
009  Jugendlichen der jetzt noch in Übereinstimmung mit dem Elternhaus
010  am Gemeindeleben teilnimmt, dem kirchlichen Leben " entfremden ".
011  Die Kirchenfremdheit der Schüler. Die Lehrer, die
012  in dieser Klasse den Religionsunterricht erteilen, gehen von der
013  Annahme aus, daß sie 12 evangelische bzw. 21 katholische junge
014  Christen vor sich haben, die sich auch ihrerseits als konfessionell
015  gebundene Christen verstehen, denen darum " der Glaube "
016  näherhin vorgestellt und in Auseinandersetzung mit
017  " glaubensfeindlichen " Ideen zu festem Besitz werden soll. Dabei
018  wird - mehr oder minder bewußt - übersehen, daß ein großer
019  Teil dieser Schüler kaum als " gläubig " im Sinne üblicher
020  Kirchengläubigkeit und Dogmengläubigkeit verstanden
021  werden kann und daß die Familien dieser Schüler über die
022  konventionellen Anlässe hinaus auf keinen Zusammenhang mit ihren
023  Pfarrgemeinden Wert legen. In den Klassen der Berufsschulen
024  oder der gymnasialen Oberstufe prägt sich die " Kirchenfremdheit "
025  der Schüler - um es neutral zu sagen - noch deutlicher aus.
026  Hier sitzen durchweg Jugendliche im Religionsunterricht, die auf
027  Grund öffentlicher Erwartung innerhalb der pädagogischen Provinz
028  der Konvention gehorchen, die aber - oft selbst bei gläubigen
029  und kirchentreuen Eltern - für sich selbst das Bekenntnis des
030  christlichen Glaubens nicht zu übernehmen vermögen. Im
031  Gegenteil: vielfach macht ihnen gerade der Besuch von
032  Gottesdiensten, das Hören von Predigten und die Teilnahme am
033  Religionsunterricht bewußt, wie fremd und unzugänglich ihnen
034  diese christliche Überlieferung ist, und - je nach Umwelt und
035  Selbstbewußtsein - sehen sie bereits jetzt ihren Ort außerhalb
036  der gläubigen Gemeinde, oder sie sind auf dem Weg, den
037  kirchlichen Lebensraum zu verlassen, da er ihnen als Lebens
038  raum von Jahr zu Jahr unzumutbarer erscheint. Diese
039  Situation darf nicht verwundern. Unsere Schulen sind öffentlich
040  und werden von Schülern aller religiösen und weltanschaulichen
041  Gruppen der Gesellschaft besucht, die in ihrer Gesamtheit nicht
042  mehr " christlich " ist. Der kirchlich engagierte
043  Bevölkerungsanteil wurde zur Minderheit, die von Jahr zu Jahr
044  weiter schrumpft. Erst recht ist darum im kommenden Jahrzehnt mit
045  einer Schuljugend zu rechnen, die aus kirchlich distanzierten,
046  vielfach sogar nachchristlichen Elternhäusern stammt und die im
047  heranwachsenden Alter Uninteressiertheit oder kritische Ablehnung
048  gegenüber dem christlichen Glaubensbekenntnis für sich in
049  Anspruch nimmt. Von dem Tage an, da die heute noch akzeptierten
050  christlichen Konventionen fallen und es nicht mehr zum guten Ton
051  gehört, am schulischen Religionsunterricht teilzunehmen, um auf
052  dem Zeugnis eine Note in Religionslehre aufweisen zu können,
053  wird nur noch die bezeichnete Minderheit ihre Kinder am
054  konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen lassen - und das
055  wahrscheinlich sogar vielfach gegen Neigung und innere Zustimmung
056  dieser Schüler. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wären
057  Gesellschaft und Staat dann gezwungen, eine Revision des
058  Religionsunterrichts zu beginnen, denn es scheint innerhalb unserer
059  öffentlich-staatlichen Schulen unmöglich, daß ein
060  " ordentliches Lehrfach " nur noch von einer gesellschaftlichen
061  Minderheit anerkannt wird. Eine Schulklasse ist keine
062  " Gemeinde ". Aber bereits die heute gegebene Situation
063  zwingt zu einem Neuverständnis des Religionsunterrichts. Da hier
064  kaum noch ein Lehrer eine Klasse vorfindet, deren Schüler
065  insgesamt aus kirchlich gebundenen Familien stammen oder sich
066  ihrerseits alle als katholische oder evangelische Christen im Sinne
067  des Glaubensbekenntnisses verstehen, ist es unmöglich geworden,
068  mit einem vorweg erwarteten Glauben dieser Schüler im Sinne eines
069  Unterrichtsansatzes zu arbeiten: Der Lehrer kann seinen
070  Schülern insgesamt nicht mehr unterstellen, daß sie die Bibel
071  als " Heilige Schrift " oder " Wort Gottes " betrachten.
072  Vielmehr müßte der Religionsunterricht, wenn er die
073  Glaubenssituation in unserer Gesellschaft ernst nimmt, die Bibel
074  schlicht als Text den Schülern vorlegen. Welche Kraft
075  dieser Text hat und welchen Anspruch er zu begründen vermag,
076  könnte allenfalls der Unterrichtsprozeß erhellen - wobei es dem
077  Schüler überlassen bleiben muß, wie er sich zu den gewonnenen
078  Einsichten und Erfahrungen verhalten will. Auch kann der
079  Religionslehrer einen dogmatischen Satz seiner Klasse nicht als
080  deren Glaubensbekenntnis unterstellen. Für den
081  Religionsunterricht in heutigen Schulen sollte dieser Satz als
082  eine Glaubensformel genommen werden, die aus ihrer geschichtlichen
083  Entwicklung heraus zu interpretieren ist, so daß der Schüler den
084  positiven Sinn der meist fremd gewordenen Formulierung verstehen
085  lernt. Ebenso ist es in der heutigen Schulsituation unmöglich
086  geworden, von einer Klasse Gebete oder gottesdienstliche
087  Vollzüge zu erwarten, sofern man nicht einen oft großen Teil der
088  Schüler zu Bekenntnisformeln verleiten will, die sie auf Grund
089  ihrer Erziehung nicht zu füllen wissen, oder die sie
090  schlechterdings ablehnen und nur um den Preis der Wahrhaftigkeit
091  auf Grund der schulischen Konvention für ausschließlich diese
092  Unterrichtssituation annehmen. Wenn der Religionsunterricht die
093  Schüler nicht bereits vom Ansatz her zu Heuchelei herausfordern,
094  vielmehr für seinen eigenen Unterrichtsprozeß offene, ehrliche
095  Auseinandersetzungen ermöglichen will, muß er die bislang
096  festgehaltene Arbeitshypothese aufgeben, die in diesem Unterricht
097  versammelten Schüler seien generell und vom Unterrichtsansatz her
098  als Christen anzusprechen, die - weil getauft - ihre
099  Zustimmung zu Glauben und Kirche längst gegeben hätten.
100  Zweifellos war in der Vergangenheit die Übereinstimmung zwischen
101  den Kindern einer Schulgemeinde und einer Pfarrgemeinde groß,
102  vielleicht gar komplett. Das ist aber vorbei. Wer heute eine
103  beliebige Schulklasse als Gemeinde betrachtet, verfehlt die
104  Gegebenheiten. Infolgedessen muß auch zwischen schulischem
105  Religionsunterricht und kirchlicher Katechese scharf
106  getrennt werden. Die Voraussetzungen in beiden Bereichen sind
107  unterschiedlicher Art und führen zu ebenso differenzierten
108  Unterrichtskonzeptionen. Religionsunterricht ohne
109  " Verkündigung ". Bis auf den Tag vertreten die meisten
110  evangelischen und katholischen Religionspädagogen die Ansicht,
111  der schulische Religionsunterricht müsse " Verkündigung des
112  Glaubens " sein. Man sagt, der Religionsunterricht geschehe im
113  Auftrag Christi und der Kirche um des Heiles der Schüler willen.
114  Sein Ziel sei der Glaube. Alle sonstigen unterrichtlichen
115  Intentionen seien dieser Aufgabe zu unterstellen. Diese
116  Konzeption betrachtet den schulischen Religionsunterricht als eine
117  staatlich institutionalisierte Missionsstation und
118  Seelsorgestation der Kirchen. Solange der größte Teil der
119  Gesellschaft keinen Widerspruch bot, konnte dieses
120  Unterrichtsverständnis auch verwirklicht werden. Je weniger sich
121  die heutige und zukünftige Schuljugend aber innerhalb der
122  öffentlichen Schulen als " gläubige Christen " oder junge
123  Gemeinde " ansprechen läßt, umso unhaltbarer wird diese
124  Regelung. Die allgemeine Entwicklung scheint auf folgende
125  Alternative zuzutreiben: entweder wird der schulische
126  Religionsunterricht wegen seines kirchlich-missionarischen
127  Charakters eine Veranstaltung für immer weniger Schüler,
128  oder dieser Unterricht konzipiert sich konsequent vom
129  Selbstverständnis heutiger Schulen her, um so ordentliches
130  Lehrfach für alle Schüler bleiben zu können. Im
131  letzten Falle müßte der Religionsunterricht alle kirchlichen
132  Verkündigungsabsichten dispensieren. Er bezöge seinen Auftrag
133  dann nicht mehr aus einer kirchlichen missio canonica oder vocatio,
134  sondern aus der Pflicht der Schule, Welt als geschichtlich
135  eröffnete und überlieferte Welt dem Schüler zu erschließen.
136  Das Überlieferte ist ja der Schule in allen ihren Fächern um
137  des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens willen aufgegeben. Der
138  Religionsunterricht steht nicht außerhalb dieser Aufgabe. Er
139  vollzieht Auslegung von Wirklichkeit in ihren religiösen
140  Traditionen und Dimensionen. Diese Wirklichkeit soll in ihrer
141  christlichen wie außerchristlichen Interpretation zur Sprache
142  kommen. Der zukünftige Religionsunterricht meiner Vorstellung
143  müßte sich darum mit dem Ursprung und dem Weg des Christentums
144  und seinen konfessionellen Ausprägungen ebenso beschäftigen, wie
145  mit den religiösen Erfahrungen und Institutionen außerhalb des
146  christlichen Geschichtsraumes, und schließlich mit jeder Suche
147  nach letztem Sinn, wo sie uns in allgemein-menschlichen
148  Zeugnissen verschiedener Zeiten begegnet. Dieser
149  Religionsunterricht postuliert von seinen Schülern kein
150  Glaubensbekenntnis. Weder Zustimmung noch Ablehnung christlicher
151  Gegebenheiten durch die Schüler sollten für seine Konzeption
152  grundlegend sein. Zu verlangen ist vom Schüler nur die
153  Bereitschaft zum kritischen Mitdenken. Doch darum verfolgt der
154  Religionsunterricht ebensowenig konfessionelle bzw. kirchliche
155  oder sonstwie ideologische Interessen. Er hat keinen
156  missionarischen Auftrag. Ihm obliegt die sachliche, methodisch
157  angelegte und stets kritisch kontrollierte Auseinandersetzung mit
158  den christlichen und religiösen Überlieferungen der Menschheit,
159  zumal unseres eigenen Geschichtsraumes. Der Schüler soll in
160  ernsthafter Arbeit zum Verstehen dieser Überlieferungen
161  angeleitet werden. Das ist nicht wenig. Weil der heutige
162  Religionsunterricht seine Schüler durchweg von einer
163  Glaubensposition her anspricht, welche diese Schüler vom
164  Elternhaus her oder auf Grund eigener Entwicklung nicht zu teilen
165  wissen, kommt eine verbreitete Aversion gegen viele Positionen der
166  Kirche und des christlichen Glaubens zustande. Diese Aversion,
167  die alle Werte zwischen Gleichgültigkeit und Aggressivität
168  durchlaufen kann, ist oft nur die hilflose Antwort auf einen
169  Religionsunterricht, der mehr Absichten verfolgt als er
170  Einsichten vermittelt. Sie läßt in den höheren Klassen
171  vielfach eine unvoreingenommene Beschäftigung mit biblischen
172  Texten, überlieferten Glaubenserfahrenungen oder kirchlichen
173  Bräuchen und Einrichtungen nicht mehr zu. Das durch
174  demoskopische Umfragen bestätigte Resultat dieses
175  Religionsunterrichts ist deshalb eher negativ und kirchlichen
176  Hoffnungen zuwider als ihnen entsprechend. Angesichts dieser
177  Situation sollte es selbst im wohlverstandenen Interesse der
178  Kirchen liegen, einen Religionsunterricht zu unterstützen, der
179  zwar keine Verkündigungsintentionen mehr verfolgt, stattdessen
180  jedoch in einem Klima allseitiger Offenheit eine zwar kritische
181  aber sachliche Auseinandersetzung z. B. mit biblischen oder
182  dogmatischen Texten leistet. Dieser Unterricht könnte viele
183  junge Menschen, die normalerweise christlicher und religiöser
184  Überlieferung nur oberflächlich und oft in affektiver Abwehr
185  begegnen, zu einer besonnenen Beschäftigung mit allen Zeugnissen
186  der schristlichen Überlieferungsgeschichte anleiten. Der Akzent
187  dieses Unterrichts läge auf Information und Aufklärung, denn
188  hier sind die Materialien vorzustellen, Kenntnisse zu vermitteln
189  und Maßstäbe zu verarbeiten, die für jede verantwortliche
190  Orientierung und Stellungnahme conditio sine qua non sind. Dabei
191  würde gerade eine solche Unterrichtsarbeit landläufige Vorurteile
192  überprüfen und manches Hindernis aus dem Weg schaffen, das heute
193  noch vielen Menschen eine sachgemäße Auseinandersetzung mit
194  religiösen Traditionen schwer macht. Eine bestimmte religiöse
195  Entscheidung zu treffen, z. B. als engagiertes Glied der
196  evangelischen oder katholischen Kirche zu leben, darf freilich
197  weder das erklärte noch verschwiegene Ziel dieses
198  Religionsunterrichtes sein. Sowenig die schulische Staatsbürger
199  kunde bzw. Gemeinschaftskunde für eine bestimmte
200  Weltanschauung, Partei oder Interessengruppierung werben darf,
201  vielmehr Wissen und Verständnis zu fördern hat, die für eine
202  humane, demokratische Ordnung vonnöten sind, sowenig darf der
203  Religionsunterricht für ein bestimmtes Glaubensbekenntnis oder
204  eine kirchliche Position votieren. Sein Auftrag heißt:
205  sachgemäß informieren und - möglichst anhand von Quellen und
206  Dokumenten - auf den Weg des Verstehens bringen. Es muß dem
207  individuellen Freiheitsraum des einzelnen Schülers überlassen
208  bleiben, zumal der Überzeugnungskraft der personalen Relationen
209  in Familie, Freundeskreis, Gemeinde und Öffentlichkeit,
210  welche Glaubensentscheidungen der Schüler jetzt oder später
211  trifft. Der Religionsunterricht soll für diese Orientierung
212  jenes Wissen und Verständnis anbieten, die hier sachlich
213  vonnöten sind, - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
214  Information - Aufklärung - Ideologiekritik. Mit dem
215  bisher Gesagten sind Charakter und Grenzen des
216  Religionsunterrichts grob skizziert worden. Eine nähere
217  Beschreibung seiner Aufgaben bleibt noch zu leisten. Die
218  Informationsaufgabe des Religionsunterrichtes wurde bereits genannt.
219  Sie impliziert eine Aufklärungsfunktion, die den seit
220  Jahrhunderten belastenden Zwiespalt zwischen Denken und
221  Glaubensvorstellungen reflektiert und viele befremdliche
222  Überlieferungsinhalte aus ihrer geschichtlichen Entwicklung
223  interpretiert. Diese Aufklärungsfunktion des
224  Religionsunterrichtes darf nicht gering veranschlagt werden. Sie
225  hilft den archaischen Ausdruck vieler religiöser Phänomene, die
226  häufige Unverständlichkeit des Mythos als der Sprache der
227  Religionen und manche abergläubischen und magischen Beimischungen
228  in religiösen Anschauungen, Bräuchen und Riten dem
229  Verständnis heutiger Menschen zu erschließen. Dabei wird diese
230  Aufklärungsleistung zweifellos manchen traditionellen Anschauungen
231  und Empfehlungen ein Ende bereiten, weil viele Formen der
232  kirchlichen Vergangenheit kritischen Maßstäben und den
233  existentiellen Vollzugsmöglichkeiten des Zeitgenossen nicht mehr
234  entsprechen. Insofern erzieht der Religionsunterricht notwendig
235  kritische, weil zum Denken angeleitete junge Menschen, die den
236  Kirchen wie allen sonstigen Gruppen der Gesellschaft hoffentlich
237  unbequeme aber umso wertvollere Partner sein können. Hiermit
238  zusammenhängend besteht die Aufgabe des Religionsunterrichts in
239  vielfältiger Ideologienkritik. Es gibt zahlreiche Ideologien,
240  und weder die Kirchen, noch Staaten, Parteien und sonstige
241  Interessenvertretungen sind frei davon. Die gefährlichsten sind
242  oft die verborgenen Ideologien, die sich sowohl als Forschungs
243  resultate und Denkresultate wie auch als offenbarte und
244  göttlich garantierte Wahrheit vorstellen. Kein Unterricht vermag
245  der Gefahr zu entweichen, selbst unter das Diktat subtiler
246  Ideologien zu geraten, darum ist es angemessen, daß er sich
247  selbst immer wieder allseitig infragestellen läßt, indem er den
248  Schüler niemals nur dem Argument, sondern immer auch dem
249  Gegenargument konfrontiert. Auf diese Weise kann zugleich
250  verhütet werden, religiösen Glauben als ein in sich gerundetes,
251  sich selbst tragendes und rechtfertigendes System mißzuverstehen.
252  Zwar gibt es solch ein Glaubensverständnis allerorten. (In
253  dessen eigenen Grenzen werden Geistesschärfe und Skepsis
254  gefördert und gelobt; es wehrt sich jedoch vehement gegen jede
255  Infragestellung des geschlossenen Gehäuses selbst.) Doch sollte
256  sich der schulische Religionsunterricht als ein Ort der kritischen
257  Vernunft, des Fragens und Zweifelns verstehen, um hier immer
258  wieder alle Bequemlichkeit und falsche Sicherheit abzuwehren und
259  gerade Glauben als Bewährung in der Offenheit verständlich zu
260  machen. Die wesentlichste Aufgabe des Religionsunterrichts ergibt
261  sich schließlich aus dem Gesamtauftrag der Schule. Die Schule
262  soll in allen ihren Fächern Welt eröffnen. Der Schüler soll
263  den Weg in diese Welt finden, so daß sie zu seiner Welt wird,
264  für die er Verantwortung übernehmen kann und will. Weil Welt
265  aber immer nur überlieferte Welt ist, hat Schule es umfassend mit
266  der Auslegung von Überlieferung zu tun. Der durch die notwendige
267  Sachdifferenzierung im Rahmen des Faches Religionsunterricht zu
268  wahrende Aspekt dieser Auslegung von Wirklichkeit heißt: die in
269  aller Welt und zumal in unserem Geschichtsraum überlieferten
270  religiösen Phänomene dem Schüler aufzuschließen. Dieser
271  unterrichtliche Umgang mit der religiösen Überlieferung geschieht
272  um der geschichtlichen Kontinuität des gegenwärtigen und
273  zukünftigen Lebens willen.

Zum Anfang dieser Seite