Quelle Nummer 230

Rubrik 11 : LITERATUR   Unterrubrik 11.04 : VERSCHIEDENES

KINDLER LITERATUR-LEXIKON
ERGAENZUNGSBAND, BAND 12, S. 10613-
KINDLER VERLAG AG ZUERICH 1970
(ENTNOMMEN DER SONDERAUSGABE FUER DIE MITGLIEDER DER
WISSENSCHAFTLICHEN BUCHGESELLSCHAFT DARMSTADT 74)


001  Deutsche Menschen.. Eine Folge von Briefen.
002  Kommentierte Briefsammlung von Walter BENJAMIN (1892-
003  1940), veröffentlicht unter dem Pseudonym Detlev Holz; die
004  einzelnen Briefe und Kommentare erschienen erstmals vom April 1931
005  bis März 1932 in unregelmäßigen Abständen in der " Rankfurter
006  Zeitung ", dann als Buch 1936 in der Schweiz. - Der
007  scheinbar so nationalistisch-pathetische Titel des Buches
008  ebenso wie das auf dem Einbanddeckel der Erstausgabe abgedruckte
009  Motto " Von Ehre ohne Ruhm/Von Größe ohne Glanz/
010  Von Würde ohne Sold " sind aus der Absicht Benjamins zu
011  verstehen, seiner Briefsammlung die Einfuhr in das
012  nationalsozialistische Deutschland zu ermöglichen, zugleich aber
013  dem genauer Lesenden einen Hinweis auf den oppositionellen Geist
014  dieses Buches zu geben, dessen Briefe " zeigen, wo heut wie
015  damals jenes Deutschland steht, das, leider, noch immer ein
016  geheimes ist " (aus Benjamins Entwurf eines Vorworts).
017  Benjamin hatte die Sammlung ursprünglich auf 60 Briefe mit
018  Kommentaren angelegt, mußte sich aber dann auch bei der
019  Buchpublikation auf 27 Briefe beschränken, die programmatisch den
020  Zeitraum des Jahrhunderts von 1783-1883 umfassen, zu dessen
021  Anfang " das Bürgertum seine großen Positionen bezog "
022  und an dessen Ende, in den Gründerjahren, " das Bürgertum
023  nur noch die Positionen, nicht mehr den Geist bewahrte, in
024  welchem es diese Positionen erobert hatte " (Vorwort). Die
025  Briefe sind, wie Benjamin in einem Memorandum, das sich in
026  seinem Nachlaß fand, schreibt, " klassische Texte ",
027  die aber " noch in keiner Weise der Ausschrotung durch den
028  üblichen Bildungsbetrieb anheimgefallen sind "; er wählte
029  sie aus als Zeugnisse für den asketisch-moralischen Geist des
030  aufsteigenden deutschen Bürgertums und hoffte damit, in einem
031  ebenso sublimen wie natürlich wirkungslosen Akt des Widerstandes
032  gegen die maßlose Großmannssucht des offiziellen Nazi-
033  Deutschland, " lebendige Überlieferung " zu stiften und
034  die Erinnerung wachzuhalten an " die Haltung (...), die sich
035  als humanistisch im deutschen Sinne bezeichnen läßt und die wieder
036  hervorzurufen um so angezeigter erscheint, je entschiedener
037  diejenigen sie preisgeben, die heute in Deutschland das Wort
038  führen " (Entwurf eines Vorworts). Die Sammlung wird
039  eingeleitet von einem Brief, in dem Karl Friedrich
040  ZELTER 1832, genau in der Mitte des von den Briefen
041  umspannten Zeitraums, dem Kanzler von MÜLLER für seine
042  freundschaftliche Anteilnahme an seinem Schmerz über den Tod
043  GOETHES dankt; es folgen dann in chronologischer Reihe
044  Briefe von LICHTENBERG, Johann Heinrich KANT an
045  seinen Bruder Immanuel, Georg FORSTER, Samuel
046  COLLENBUSCH, PESTALOZZI, SEUME, Johann
047  Heinrich VOSS, HÖLDERLIN, Friedrich
048  SCHLEGEL, BRENTANO, Johann Wilhelm RITTER,
049  Johann Baptist BERTRAM, Christian August Heinrich
050  CLODIUS, Annette von DROSTE-HÜLSHOFF,
051  GÖRRES, Justus LIEBIG, Wilhelm GRIMM, Zelter,
052  David Friedrich STRAUSS, Goethe, BÜCHNER,
053  Johann Friedrich DIEFENBACH, Jacob GRIMM, Fürst
054  Klemens von METTERNICH, KELLER und Franz
055  OVERBECK. Die Auswahl enthält zwar einige berühmte
056  Briefe, wie etwa den Hölderlins an BÖHLENDORFF,
057  worin er sich als einen, den " Apollo geschlagen ",
058  bezeichnet, oder das verzweifelte Bittschreiben Büchners an
059  GUTZKOW, worin er diesen um Unterstützung beim Druck von
060  Danton's Tod bittet, doch hat Benjamin diese Briefe
061  ebenso wie die vielen unbekannteren nicht als psychologische oder
062  philologische Dokumente aufgeführt, sondern interpretiert sie in
063  den ihnen jeweils vorangestellten Kommentaren als Zeugnisse für
064  den jeweiligen Stand der bürgerlichen Epoche, für die hohe
065  Kultur der brieflichen Kommunikation und für die Bescheidenheit,
066  Gefaßtheit und Entsagung, mit der Verfasser und Adressaten ihr
067  Leben führten. Die meist beschränkten, sogar ärmlichen, oft
068  auch kurios-versponnenen Lebensverhältnisse der Briefschreiber
069  und Empfänger stehen in scharfem Kontrast zu den ausgreifenden
070  geistigen Leistungen, mit denen sie zum Ruhm der bürgerlichen
071  Kultur und Deutschlands beitrugen, und entsprechen ihnen doch in
072  ihrer unprätentiösen Reinheit und Unbedingtheit bruchlos und
073  genau. Durch die Briefe nähert sich Benjamin den Großen dieser
074  Epoche gewissermaßen auf einem Seitenweg, indem er sie als
075  Privatleute zeigt, die aber noch in persönlichen Dokumenten
076  Zeugnis ablegen von Würde und Charakter ihrer Klasse, selbst wo
077  sie an unbedeutendere Partner über Beiläufiges sich zu äußern
078  scheinen; die Briefschreiber erscheinen in der Sammlung
079  " als Sozialcharaktere, nicht als individuelle. Sie verbindet eine
080  Sprache, die so unvereinbar ist mit der zurichtenden des Befehls
081  wie mit der hochtrabenden Phrase " (Theodor W. Adorno).
082  Zu einem Zeitpunkt, an dem er selbst, ins Exil vertrieben,
083  Zeuge und Opfer von Entartung und Verfall des deutschen
084  Bürgertums geworden war, läßt Benjamin noch einmal ein
085  versöhnendes Licht auf dessen Vergangenheit fallen. Die Briefe
086  fungieren als Zeugnisse der besten, aufklärerisch-
087  humanistischen Traditionen des Bürgertums; sie waren zum
088  Zeitpunkt ihres einzelnen Erscheinens in der Zeitung und später
089  in der Buchpublikation als Dokumente des Widerspruchs gegen die
090  pompösen nationalistischen und dann nationalsozialistischen Phrasen
091  vom " deutschen Geist " zu lesen. Deutsche Menschen kann noch
092  heute als eine der bewegendsten und originellsten Sammlungen zur
093  " deutschen Bildungsgeschichte des fraglichen Zeitraums "
094  (Entwurf eines Vorworts) gelten. Die Deutsche Turnkunst.
095  zur Einrichtung der Turnplätze. Lernbuch und
096  Lehrbuch für den Turnsport und Geländesport von
097  Friedrich Ludwig JAHN (1778-1852) und Erst Wilhelm
098  Bernhard EISELEN (1793-1846), erschienen 1816. -
099  In der Ideologie einer " körperkultur ", wie sie Jahn in
100  diesem Werk als erster - nach ganz spärlichen Ansätzen zu einer
101  " Gymnastik " im 18.Jahrhundert (VIETH,
102  GUTSMUTHS) - begründete, überwog zum Zeitpunkt ihres
103  Entstehens das progressive Moment: Gegen die körperfeindliche
104  Pädagogik des 18.und des beginnenden 19.Jahrhunderts
105  gerichtet, initiierte sie eine bürgerliche Turn-Bewegung,
106  die politisch auf nationale Einheit und auf Unabhängigkeit von der
107  Napoleonischen Fremdherrschaft abzielte. In dem Maße, in dem
108  nach den Freiheitskriegen die historische Legitimation wegfiel,
109  die in der Vorbereitung auf die Anforderungen eines patriotischen
110  Befreiungskrieges bestanden hatte, traten jedoch die abstrusen und
111  reaktionären Züge, die in Jahns Konzeption von Anfang an mit
112  enthalten waren, immer deutlicher hervor und verselbständigten sich
113  schließlich. " Es lag in der Natur der Sache, daß man
114  schon damals, als das Turnen begann, den Knaben und Jünglingen
115  nicht verschwieg, daß ihre Übungen vorzüglich den Zweck hätten,
116  sich körperlich zum Kampf gegen den Feind des Vaterlandes zu
117  erkräftigen, daß man sie mit glühendem Enthusiasmus für das
118  Vaterland zu beseelen, mit Haß gegen den Feind zu erfüllen
119  suchte. Ersteres, daß nämlich die Turnübungen dazu dienen
120  sollten, in den Turnern kräftige Verteidiger des Vaterlandes zu
121  erschaffen, wurde auch noch später fortwährend den Turnern
122  mitgeteilt. " Der ursprünglich paramilitärische Charakter
123  mancher Sportarten ist bei Jahn noch deutlich erkennbar. So
124  entwickelte sich der Stabhochsprung aus dem mit Hilfe des Gewehrs
125  durchgeführten Sprung über ein natürliches Hindernis, wie z.B.
126  einen Wasserlauf. Jahn, seit 1810 Gymnasiallehrer in
127  Berlin, begann 1811 zusammen mit seinen Schülern auf dem dadurch
128  berühmt gewordenen Turnplatz auf der Hasenheide mit einfachen
129  Turnspielen und Geländespielen. Bis 1816 entwickelte
130  er dann eine Reihe bereits bekannter Turngeräte weiter, erfand
131  aber auch neue und stellte sie in einem Plan für einen
132  " Turnplatz " zusammen, der, in übersichtlicher Gliederung,
133  zumindest die folgenden Einrichtungen haben sollte: Rennbahn
134  (samt " Schlängelbahn "), " Freispringel "
135  (Weitsprunganlage), " Stabspringel " (Stabhochsprunganlage),
136  Schwebebaum, " Schwingel " (Pferd), Reck, Barren,
137  Hangelreck, Kletterbaum samt Klettermast, " GerwurfBahn "
138  (Speerwurf-) Bahn, " Schockbahn " (eine Vorstufe
139  des Kugelstoßens) und " Ziehbahn " (für Mannschaftskämpfe
140  im Tauziehen). Die umfassende Körpererziehung, die Jahn und
141  seinem Mitautor Eiselen vorschwebte, sah neben den eigentlichen
142  Turnübungen und Geländeübungen Unterricht im
143  Schwimmen, Reiten, Tanzen, Fechten, in den " Kriegsübungen "
144  und im Schlittschuhlaufen vor. Durchgängig ist eine scharfe
145  Polemik gegen ständische, d. h. feudalistische
146  Erziehungsprivilegien: So soll auf alle " Buhltänze ", für
147  Jahn lediglich " Verderber der Sittlichkeit und Verführer
148  zur Sünde ", zugunsten der alten " Reigen " verzichtet
149  werden; das Reiten ist - ohne den " Dünkel von
150  Erwachsenheit und Vornehmigkeit " - erst im
151  fortgeschrittenen Alter zu erlernen und das Fechten lediglich
152  " nach Deutscher Art auf Hieb und Stoß " zu praktizieren.
153  Auch in der Deutschen Turnkunst, die diese Sportarten
154  ausspart und nur die eigentlichen Turnübungen und
155  Leichtathletikübungen behandelt, findet sich neben der
156  detaillierten Beschreigung aller Geräte, Übungen und Spiele
157  ein ausgearbeitetes pädagogisches Programm, das, weit über die
158  Körpererziehung im engeren Sinne hinausgreifend, die Begriffe
159  Anständigkeit, Sauberkeit, Geradlinigkeit, Ordnungsliebe und
160  Staatstreue als normative Tugenden ins Spiel bringt.
161  " Keiner darf zur Turngemeinschaft kommen, der wissentlich
162  Verkehrer der Deutschen Volksthümlichkeitist und Ausländerei
163  liebt, lobt und beschönigt. " Jahns Franzosenhaß, in der
164  Zeit vor den Befreiungskriegen noch politisch motiviert, steigert
165  sich - schon in der Deutschen Turnkunst - immer mehr zu
166  reaktionärem Chauvinismus: " Wälschen ist Fälschen,
167  Entmannen der Urkraft, Vergiften des Sprachquell, Hemmen der
168  Weiterbildsamkeit, und gänzliche Sprachsinnlosigkeit. "
169  Die Neigung zu archaisierender " Sprachthümlichkeit " -
170  Betriffe wie " Volksthum " und " Turnkunst " sind seine
171  Prägungen - läßt Jahn in seinem Turnlehrbuch ein teils
172  puristisches, teils germanische Wortstämme neologistisch
173  weiterbildendes Idiom verwenden. Sowohl HEINES Vorwurf,
174  daraus resultiere ein auftrumpfend " idealistisches Flegeltum "
175  als auch die Charakterisierung von ENGELS, der vom
176  " Turnwütherich Jahn " sprach, sind berechtigt. Jahn liefert das
177  sprachliche Modell für eine ressentimentgeladene Ideologie, die
178  alte Vorurteile in Begriffe faßt. Die emanzipatorische Funktion
179  eines neuen Körperbewußtseins, die Jahn anfangs betonte, wird
180  von dem rigiden moralistischen Impetus seiner " Turngesetze "
181  selbst sabotiert: " Tugendsam und tüchtig, rein und
182  ringfertig, keusch und kühn, wahrhaft und wehrhaft sei sein
183  Wandel (...) Frisch, frey, fröhlich und fromm - ist des Turners
184  Reichthum (...) So wird man am besten heimliche Jugendsünden
185  verhüten, wenn man Knaben und Jünglingen das Reifen zum
186  Biedermanne als Bestrebungsziel hinstellt. Das Vergeuden der
187  Jugendkraft und Jugendzeit durch entmarkenden Zeitvertreib,
188  faultierisches Hindämmern, brünstige Lüste und hundswütige
189  Ausschweigungen werden aufhören - sobald die Jugend das Urbild
190  männlicher Lebensfülle kennt. " Deutschstunde..
191  Roman von Siegfried Lenz (* 1926), erschienen 1968. - Der
192  Roman gliedert sich in eine Haupthandlung und eine
193  Rahmenerzählung, die im Jahre 1954 spielt. Siggi Jepsen, der
194  Ich-Erzähler, Insasse einer Jugendstrafanstalt, soll einen
195  Aufsatz über das Thema " Die Freuden der Pflicht " schreiben.
196  Für die Flut seiner Erinnerungen und Einfälle findet er
197  jedoch nicht die geeignete Darstellungsform. Er gibt ein leeres
198  Heft ab. Der Direktor der Anstalt sieht darin einen Akt der
199  Aufsässigkeit und ordnet eine Sonderbehandlung an: In einer
200  Einzelzelle muß Siggi unter verschärften Bedingungen
201  (Besuchsverbot) den Aufsatz als Strafarbeit neu schreiben. Mit
202  der Niederschrift beginnt die eigentliche Haupthandlung, die im
203  mittleren Teil des Romans und am Schluß noch einmal durch
204  Rekurse auf Siggis gegenwärtige Situation unterbrochen wird.
205  " Die Freuden der Pflicht " sind für Siggi eng mit dem Bild des
206  Vaters verbunden, der in dem fiktiven schleswig-holsteinischen
207  Dorf Rugbüll als " nördlichster Polizeiposten Deutschlands "
208  seinen Dienst tut. Es sind Erinnerungen, die bis ins Jahr 1943
209  zurückgehen. Der Vater überbringt einem Jugendfreund, der ihm
210  früher einmal das Leben gerettet hat, das von den nazistischen
211  Kulturfunktionären verhängte Malverbot - die Figur dieses
212  Malers Nansen erinnert an Emil Nolde, der mit bürgerlichem
213  Namen Hansen hieß. Während der Vater das Malverbot nach
214  anfänglichem Zögern unbarmherzig überwacht, wird Siggi zum
215  Vertrauten und Verbündeten des Malers, versteckt dessen Bilder,
216  warnt ihn. Aus dem Elternhaus, in dem die Mutter mindestens
217  ebenso nachdrücklich Obrigkeitsdenken und unmenschliche
218  Prinzipientreue verkörpert wie der Vater, bricht auch Siggis
219  älterer Bruder aus; um nicht am Krieg teilnehmen zu müssen,
220  fügt er sich selbst eine Verletzung zu und findet zeitweise im
221  Hause Nansens Unterschlupf. Nach dem Krieg können sich weder
222  Siggi noch der inzwischen von seinem Posten abgesetzte Vater mit
223  der neuen Situation abfinden. Beide sind nicht imstand, sich aus
224  dem Mechanismus ihres früheren Verhaltens zu lösen: Der Vater
225  kann nicht aufhören, den Maler zu verfolgen, obwohl das
226  Malverbot längst außer Kraft ist; sein Pflichtbewußtsein
227  nimmt paranoide Züge an (" Er hatte einen Tick zuletzt ",
228  schreibt Siggi, " so wie alle einen Tick bekommen, die
229  nichts tun wollen, als ihre Pflicht. Es war eine Krankheit zum
230  Schluß, vielleicht noch schlimmer "). Siggi dagegen kann
231  nicht aufhören, den Maler zu schützen, auch dann noch, als er
232  ihn gar nicht mehr zu schützen braucht. Seine vermeintliche
233  Hilfeleistung verkehrt sich ins Kriminelle: Er entfernt Nansens
234  Gemälde aus einer Ausstellung und wird wegen Diebstahls zu einer
235  Jugendstrafe verurteilt. Nach Absolvierung seiner Mammut-
236  Strafarbeit wird Siggi wegen guter Führung vorzeitig entlassen.
237  Zwar hat er mit seinen Autzeichnungen so etwas wie die Anamnese
238  seines bisherigen Lebens vollzogen, doch bleibt die eigentliche
239  kathartische Wirkung aus. Daß er stellvertretend für seinen
240  Vater bestraft worden ist, wird ihm zwar klar, doch zieht er
241  daraus keine Folgerungen. Die Richtung seines weiteren Lebens
242  bleibt am Ende des Romans völlig offen. Die Aufrichtigkeit der
243  Gesinnung des Autors, das Episch-Solide seines Romans kann
244  nicht bestritten werden. Dennoch sind die literarischen wie
245  politischen Schwächen unübersehbar. Sie liegen einmal in der
246  formalen Konstruktion, hauptsächlich in der Erzählperspektive:
247  Das Ausmaß der Erinnerungsfähigkeit des Ich-Erzählers ist
248  - bei diesem so bewußt realistisch gehaltenen Roman - ebenso
249  unwahrscheinlich wie seine Allgegenwart. Lenz muß hier
250  gelegentlich zu Tricks greifen, um die Glaubwürdigkeit der
251  Handlung noch einigermaßen zu retten. So hört Siggi von einem
252  Versteck aus Gespräche mit, beobachtet Szenen durchs
253  Schlüsselloch oder durchs Fenster. Durch die breit angelegte
254  Schilderung der Landschaft und der Naturvorgänge, überhaupt der
255  atmosphärischen Details, gerät der Roman auf weiten Strecken in
256  Gefahr, episch auszuufern und sich von seinem eigentlichen Thema
257  zu entfernen. Es gibt eine Reihe von Motiven und erzählerischen
258  Zusätzen, die nichts tragen (z. B. die Tatsache, daß
259  Siggis Vater " schichtig kieken " kann, also die Gabe des
260  Zweiten Gesichts besitzt). - Schwerer noch wiegt, daß sich
261  Lenz nicht um die psychischen, durch Erziehung und provinzielle
262  Enge vermittelten Ursachen für das Verhalten von Siggis Vater
263  kümmert. Die in das Buch eingestreuten klischeehaften Invektiven
264  gegen alles Psychologisieren wirken aus diesem Grund etwas fatal.
265  Die Charakterzeichnung der Figuren bleibt dementsprechend ungenau,
266  sie verläuft zu sehr nach dem Schema von Gut und Böse.

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