Quelle Nummer 229
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE
TRIVIALMYTHEN
RENATE MATTHAEI
MAERZ VERLAG, FRANKFURT 1970
DARAUS: PETER O. CHOTJEWITZ: TRIVIALMYTHEN
(VON BEGINN AN), S. 115
001 Trivialmythen. Ich bin ein Liebhaber von Trivialmythen.
002 Einige Leute, denen die Fülle meiner theoretischen Arbeiten
003 (von den praktischen zu schweigen) ihres niedrigen Niveaus und ihrer
004 großen Zahl wegen, schon immer ein Dorn im Auge gewesen ist
005 (auch das eine schöne, trivialmythologische Vorstellung), ahnen
006 freilich, daß mein gestörtes Verhältnis zur Gattung Essay,
007 wie zur Literatur überhaupt, mythisch motiviert ist, und
008 natürlich ist auch dieses mythische Motiv eine Trivialmythe: ob
009 eine Mythe einfach Mythe oder Trivialmythe ist, hängt von uns ab.
010 Was dem einen Mythe, ist dem anderen Trivialmythe, und dem
011 Dritten ist die Sache ganz klar: Er kapiert und er vergißt sie
012 gleich wieder. Das sind die Technologen. Sie sitzen die meiste
013 Zeit vor saubergearbeiteten Tischen. Wir wollen nämlich auch
014 nicht vergessen, daß Mythen, trivial oder nicht, Ausdruck
015 ungelöster Probleme sind, wie ja die ganze Literatur überhaupt
016 eine Art Heftpflaster ist. Man muß wohl einigermaßen weltfremd
017 sein, wenn man das Überangebot an Literatur bestaunen will, um
018 zu glauben, daß unser Mythenbedarf mit dem klassisch-
019 griechischen Mythenangebot zu befriedigen sei. Der Technologe
020 (der Gegner, der Zerstörer) ist in diesem Sinne ein Mann, der
021 so tut, als ob alle unsere Probleme lösbar seien. Diese
022 Dreiteilung können wir übrigens auch für diese erste, voll
023 durchmythologisierte Zeit, die griechische nämlich, feststellen.
024 Schon damals gibt es Mythologen, die zwischen Mythen und
025 (abfallig so genannten) Trivialmythen unterscheiden. Sie wollen
026 als saubere, hohe erstklassige Mythen nur jene Geschichtchen
027 akzeptieren, wie zum Beispiel " Jenseits von Eden ", die sich
028 auf die Erschaffung der Welt und ihre frühen naturkundlichen
029 Einrichtungen beziehen: Wie das Feuer auf die Erde kam, wie
030 die Griechen nach Sizilien gekommen sind - nämlich, indem die
031 Nymphe Aretusa vor Poseidon nach Syracus flüchten mußte und
032 dort aus einem Goldfischtümpel, der dem Blautopf in der Gegend
033 von Blaubeuren ähnelt, an Land stieg etcetera. Alles was danach
034 kommt und gewissermaßen den Lauf der Welt und die Beschaffenheit
035 ihrer Bewohner und deren Sitten charakterisiert, halten sie -
036 weil man dergleichen Erscheinungen täglich begegnet, für
037 alltäglich, sagen wir banal: - für triviale Mythen, womit
038 also der Ödipus, der Ganymedes-Komplex, der Centauren-
039 Komplex, die Nymphomanie und ähnliche Dauereinrichtungen gemeint
040 sind. Schließlich (drittens, denn ich sprach von Dreiteilung)
041 gab es schon damals gewisse Stückeschreiber, Komödientexttexter
042 - Ketzer genau gesagt -, für die eine Mythe nicht mehr als
043 eine vergnügliche Umschreibung ist. Um nun die Brücke zur
044 Gegenwart und zu meiner eigenen Position zu schlagen, will ich
045 bekennen, daß eine der schönsten Mythen eine bestimmte Stelle in
046 Kriegsromanen ist, wenn der Verfasser, oft mit wenigen Worten
047 nur, beschreibt, wie über ihm im endlosen blauen Himmel eine
048 Lerche singt und zwar nachdem er gerade das Massaker beschrieben
049 hat und wie die Iwans ihm und all seinen Kameraden, die er hatte,
050 und die jetzt auch alle tot an seiner Seite auf dem Schlachtfeld
051 irgendwo in den Weiten Rußlands liegen, die Bäuche
052 aufgeschlitzt haben, während die goldene Abendsonne ihren letzten
053 Schein sandte. Es gibt diese Stelle auch in Wildwestfilmen,
054 daß plötzlich und süß und schmelzend eine Geige erklingt, wenn
055 zwei verfeindete Gruppen nordamerikanischer Farmer sich gegenseitig
056 bis auf den letzten Cowboy umgelegt haben. Dann, wenn die Lerche
057 singt und die Geige spielt, empfinde ich immer ein sehr starkes
058 Gefühl von Dank und Glück. Denn warum singt die Lerche,
059 spielt die Geige? Ganz offensichtlich doch aus dem gleichen
060 Grunde aus dem Zeus, der Göttervater, die Kuh Europa
061 entführt. Um nun aber nicht mißverstanden zu werden, will ich in
062 Kürze einige der wichtigsten, mich selbst betreffenden, wahllos
063 ausgewählten Trivialmythen zitieren: Wie ich dachte, mein
064 Vater oder zumindest der Vater meines Vater sei Cowboy gewesen.
065 Wie ich einige Zeit lang fest glaubte, ich sei ein Junge namens
066 Jungsiegfried aus dem Nibelungenlied. Wie ich einige Zeit damit
067 rechnete, zu Weihnachten ein Pferd geschenkt zu bekommen. Wie
068 eine Zeitlang immer ein schmutziger Daumen in meinem Mund steckte.
069 Wie ich mich einige Zeit lang vergeblich gegen den dringlichen
070 Wunsch aufzulehnen versuchte, neben das Klosettbecken und nicht
071 ins Klosettbecken zu pinkeln. Wie ich mehrmals davon träumte,
072 ich könnte mir meinen eigenen Samen selbst in den Mund schießen.
073 Wie ich Würmer hatte und sah ein paar Dutzend von ihnen ein
074 mal oder zweimal täglich vier Jahre lang in meinen Exkrementen
075 herumkriechen, indem sie sich zusammenzogen und streckten. Wie ich
076 mit dem Fahrrad vor das Hinterrad eines voll mit Mist geladenen
077 Ackerwagens fiel und wie es langsam zu drücken und zu knacken
078 anfing, als das große, mit Eisen beschlagene Speichenrad die
079 linke Seite meines Rückens berührte. Wie mir Pelz das erste
080 Mal die Hose aufknöpfte und an die Eier faßte. Wie ich " Der
081 schwarze Desperado " von Zane Grey las und wie ich nicht glauben
082 wollte, daß alles erstunken und erlogen sei. Wie wir eine
083 Schlange fingen und sie tot schlugen und wie sie doch nicht sterben
084 konnte, ehe die Sonne unterging. Wie ich Äpfel abschlug und
085 hinter dem Burgberg die Sonne aufging und es fing an, warm zu
086 werden. Wie ich nachts über eine einsame Landstraße ging und der
087 Himmel war klar und auf dem Feld rechts von mir in einigen zehn
088 Metern Entfernung ein Irrlicht zu flackern und umzugehen anfing
089 und ich meinen Stengel herausholte und eine Hand voll Schnee nahm
090 und den Stengel in die Handvoll Schnee nahm und begann. Wie mir
091 der alte Schäfer Klemme erzählte, wie es früher bei uns war,
092 etwa in der Zeit gleich nach dem Dreißigjährigen Krieg
093 angefangen bis etwa zum Ersten Weltkrieg. Wie meine Freundin
094 Lili plötzlich eine Brust kriegte und mich immer anfassen und
095 fühlen ließ, wie sie wuchs. Wie ich eine lange 30-Pfennig
096 -Kerze anspitzte, in Niveacreme tunkte und sie mir in den
097 Arsch steckte und mir vorstellte, Dean Martin stände hinter mir.
098 Wie ich über den Ärmelkanal flog und das Wasser gleichzeitig
099 gegen die englische und die französische Küste schlagen sah. Wie
100 ich die erste Musikbox meines Lebens sah. Wie ich das erste
101 ellenlange amerikanische Auto meines Lebens ganz weich eine
102 Bordsteinkante hinabfahren sah, wie Seide und Samt. Wie ich das
103 erste Mal einen amerikanischen Soldaten auf einem Balkon zu ebener
104 Erde an der Hauptstraße eines kleinstädtischen Villenbezirkes
105 sitzen und Bier trinken sah. Wie mir mein Vater Pfeil und Bogen
106 und eine Armbrust schnitzte. Wie ich das erste Mal Alex'
107 Schwanz sah. Wie neben der Landstraße eine tote Kuh neben einem
108 toten Mann lag. Wie ich das erste Mal eine brennende Stadt sah.
109 Wie ich versuchte mir meinen kleinen Bruder hörig oder sonstwie
110 untertan zu machen. Wie ich auf dem Hof vor dem Holzstapel in der
111 warmen Frühjahrssonne saß und nichts tat und nichts dachte und,
112 was da für ein merkwürdiges summendes Geräusch in der warmen
113 Luft war. Wie ich mehrere Jahre lang glaubte, ich könne fliegen.
114 Ich breitete die Arme aus, hüpfte hoch und begann mit den
115 Armen zu wedeln. Wenn ich ganz intensiv wedelte und ganz intensiv
116 daran dachte, nicht abzustürzen und mich sehr stark zwang, in der
117 Luft zu bleiben, konnte ich fliegen. Ich flog über die Häuser,
118 die Straßen entlang und wenn ich ein offenes Fenster sah,
119 setzte ich mich auf das Fenstersims und flog in den hohen Raum
120 hinein und immer unter der Decke lang, so hoch oben, daß die
121 Leute unten mich nicht kriegen. Nur auf die Kabeln und
122 Oberleitungen für die Straßenbahnen und Trolleybusse mußte ich
123 aufpassen und manchmal war das Netz der gefährlichen Leitungen so
124 eng, daß die Fliegerei wirklich lebensgefährlich zu sein schien.
125 Nun gut, das sind alles Trivialmythen, die vielleicht zu
126 persönlich sind, als daß man verstehen könnte, was ich sagen
127 will. Deshalb in Kürze einige nicht nur mich selbst betreffende
128 Trivialmythen: Die unerhört große Brust der Verkäuferin in
129 dem Spirituosengeschäft nebenan. Die Behauptung, Haschisch und
130 Marihuana seien eine feine und aus irgendeinem Grunde
131 empfehlenserte Sache. Die Vagina, vor allem aber die erste
132 Vagina, die ich einmal gesehen habe. Die Religion, die Angst
133 vor dem eigenen Arsch. Die Philosophie, der Tischfußball.
134 Die Liebe. Der Glaube, die Hoffnung. Die Pornographie, der
135 Suff. Der Tabak. Ein Tag am Meer mit dir im heißen Sand und
136 die Erinnerung daran. Tarzan. Die Vorstellung, dir jetzt so
137 richtig schön die Fresse vollzuschlagen. Ein Regal voller
138 schöner alter Beatplatten von damals. Die Literatur der letzten
139 dreitausend Jahre. Alle Filme, die mir gut gefallen haben. Der
140 Mensch und das Abendland. Das Morgenland. Der Niagarafall und
141 die einsamen Achttausender des Himalaya. Alle Postkarten, die
142 ich jemals gesehen habe. Die Schlacht um den Davispokal. Die
143 Schlacht um Stalingrad. Die Schlacht bei Cannae. Die
144 Schlachtplatte bei Reimann. Die Wahlen zum westdeutschen
145 Bundestag, trotzdem bin ich dagegen, nicht zu wählen. Wählt
146 DKP! Die Annahme, daß man das Volk befreien kann. Die
147 Behauptung, es gebe einige nicht triviale Sachen. Eine
148 Schachtel voll Heftklammern. Das Hermannsdenkmal im Teutoburger
149 Wald hei da hat er sie geknallt. Eine schöne Maß Bier. Der
150 Behaviorismus. Das Beichtgeheimnis. Das Prinzip Hoffnung.
151 Die Trivialmythen. Der Calvinismus. Die chinesische Mauer.
152 Die Declaration of Rights. Die deutsche Geschichte. Die
153 Beatles. Isadora Duncan. Das Proletariat. Wie Hans Albers
154 in Wasser für Canitoga sterbend durch den vollbesetzten
155 Festsaal wankt und die Damen und Herren sich erheben und die
156 Herren den rechten Arm zum letzten Gruß erheben und alle singen
157 laut: " Good bye Jonny, good bye Jonny, warst mein bester
158 Freund. " Wie Hans Albers durch den vollbesetzten Festsaal
159 wankt, während das Orchester spielt und die Herren den Arm zum
160 Gruß erhoben haben und alle, auch die Damen, sich erhoben haben
161 und Hans Albers durch den vollbesetzten Saal wankt und man hört
162 das Orchester, wie es spielt: " Good bye Jonny, good bye
163 Jonny, warst mein bester Freund. " Wie der Chor der Damen und
164 Herren, die sich alle erhoben haben und die Herren haben auch den
165 rechten Arm zum letzten Gruß erhoben, singt: " Good bye
166 Jonny, good bye, warst mein bester Freund. " Wie Hans Albers,
167 sterbnd, es hing mit einer Druckluftkabine oder etwas Ähnlichem
168 zusammen, worin nicht genugend Luft war, sterbend durch den
169 vollbesetzten Festsaal wankt und den Gruß sterbend, wankend,
170 erwidert und die Musik braust auf und man kann nicht anders, man
171 muß weinen, weil die Szene eine derart ungeahnte Größe hat,
172 bis Hans Albers, durch den ganzen vollbesetzten Festsaal wankend
173 und mit letzter Kraft zurückgrüßend, den Festsaal durchquert
174 hat und an einer kleinen, niedrigen, schmalen Tür in der anderen
175 Ecke des vollbesetzten und ganz und gar gerührten Festsaales
176 angelangt ist und sich umdreht und winkend zurückgrüßt und die
177 Herren stehen alle dankbar grüßend da und auch die Damen haben
178 sich erhoben und das Orchester spielt und alle singen: " Good
179 bye Jonny, good bye Jonny, warst mein bester Freund. " Wie
180 Hans Albers wankend und sterbend in der kleinen Tür steht und
181 zurückwinkt, aber dasteht und man denkt noch gerührt und von
182 Dankbarkeit überwältigt, daß es solche Männer gibt, die ihr
183 Leben hergeben und einem hinterher noch die Chance geben, sich zu
184 bedanken, indem sie, ja halb tot eigentlich schon, noch durch den
185 vollbestztten Festsaal wanken - da steigern sich das Orchester
186 und der Gesang der Herrschaften, die sich grüßend erhoben haben,
187 zu einem gewaltigen Orkan des Dankes und sie singen: " Good
188 bye Jonny, good bye Jonny, warst mein bester Freund. " Wie
189 Hans Albers zurückwinkt und stirbt und dankt und nun ist kein
190 Halten mehr, man weint wie ein gewaltiges Rudel alter dankbarer
191 Schloßhunde, aber da macht sich Hans Albers, während Musik
192 und Gesang und Dankbarkeit und Rührung sich noch weiter steigern,
193 ganz klein, dreht sich um, wankend, grüßend und sterbend und
194 haut ab, durch die kleine, schmale, niedrige Tür mit unbekanntem
195 Ziel in der hinteren Ecke des vollbesetzten Festsaales und die
196 Herren und Damen setzen sich: Uffaah!! Nun wird man sicher
197 warnen vor einem derart uferlosen (auch das eine schöne
198 Trivialmythe!) Definieren dessen, was mythologisch oder
199 trivialmythologisch oder was auch immer ist. Man muß einmal vor
200 Augen halten (abermals: man muß einmal vor Augen halten, daß
201 die Art unserer Fähigkeit zu sehen, alles zutiefst mythologisch
202 macht), warum überhaupt zwischen Mythen und Trivialmythen und
203 anderem unterschieden wird. Diejenigen, die von Mythen sprechen,
204 tun das doch, um die sogenannten Trivialmythen (die Mythe spricht)
205 zu deklassieren und einen Klassenantagonismus der Mythen zu
206 erzeugen. Denn so kam der ganze Streit überhaupt auf den Tisch.
207 Die Mythologie war ein Fach, das seit Menschengedenken in den
208 Bereich der Literatur fiel. Nach geraumer Zeit aber hatten die
209 Schriftsteller die Mythen über. Sie sagten sich: Was sollen
210 diese ganzen entsetzlichen Mythen. Zur selben Zeit etwa, nur
211 einige sehr erheblich spätere Zeit später, verlor sich auch in
212 der Malerei eine akademisch vermittelbare, begrenzte, literarisch
213 beschreibbare Ikonographie: Warum wenden wir uns nicht den
214 Dingen zu, die hinter den Mythen sind?
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