Quelle Nummer 225

Rubrik 03 : PHILOSOPHIE   Unterrubrik 03.00 : PHILOSOPHIE

RELIGIONSPHILOSOPHIE
ULRICH MANN
EINFUEHRUNG IN DIE RELIGIONSPHILOSOPHIE
WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT, DARMSTADT 1970
S. 66-72


001  Geist. Unter diesem Aspekt müssen wir uns heute
002  sehr viel mehr aufs Formale beschränken als in der Zeit des
003  Idealismus und der Romantik. Die spekulativen Entwürfe der
004  damaligen Zeit ersetzten in gewisser Hinsicht jenes Wissen, das
005  uns heute durch die empirischen Wissenschaften der dritten
006  Typengruppe, also insbesondere durch Religionswissenschaft und
007  Religionspsychologie vermittelt wird. Es stellt sich uns also hier
008  vorrangig und vorwiegend die methodologische Frage: Durch welche
009  religionsphilosophische Methodik ist es möglich, die Ganzheit des
010  religiösen und daher auch des religionsphilosophischen Denkens in
011  der dem Ganzheitsbegriff philosophisch angemessenen Weise zum
012  Ausdruck zu bringen? Im Blick auf diese Frage sind unter dem
013  Aspekt des Verhältnisses von Religion und Geist - und Geist
014  heißt immer Ganzheitsdenken! - folgende drei Hauptprobleme zu
015  betrachten. Das Ganze der Religion. Hier kann es,
016  unter Berücksichtigung des eben erwähnten vorwiegend formalen
017  Aspekts, nur darum gehen, den immer schon vorgegebenen Rahmen
018  abzustecken, innerhalb dessen die Momente Mythos und Symbol
019  überhaupt sinnhaft begegnen. Es wird hier also, soweit nur
020  möglich, ein System aller wesentlichen religiösen Phänomene zu
021  entwerfen sein. Die Religionsphilosophie und ihr
022  Gegenstand. Hier ist die Sinnmitte des religiösen
023  Gesamtphänomens zu bestimmen; wobei freilich bedacht werden muß,
024  daß das schon vorgängig entworfene Gesamtsystem bereits eine
025  Vorkenntnis dieser Sinnmitte verlangte. Es geht hier also um die
026  Erörterung des Wesens der Religion. Der methodische
027  Aufbau der Religionsphilosophie. Die kritische Frage nach dem
028  Verhältnis der Religionsphilosophie zu ihrem Gegenstand läßt
029  uns zugleich kritisch fragen nach unserer eigentlichen Frage selbst;
030  und diese kritische Frage führt uns unmittelbar in die
031  Überprüfung der Methodik aller Religionsphilosophie. Aber bei
032  dieser letzten Frage stehen wir ja eben! Wir haben also beim
033  Entwurf unserer Übersicht einen Weg eingeschlagen, der uns zum
034  Ausgangspunkt zurückführte. Damit legt sich uns die Erwägung
035  nahe, ob die Reihenfolge der hier genannten Problemkreise, ob die
036  Fragerichtung, die wir uns von der Typenübersicht her geben
037  ließen, auch für unser kommendes Vorhaben verbindlich sein muß.
038  Wir ordneten ja die religionsphilosophischen Hauptthemen nach der
039  Reihenfolge der Aspekte Vernunft, Ethik, Intuition und Geist
040  an; denn dies war annähernd der historische Entwicklungsgang,
041  den wir in unserer Übersicht beobachtet haben. Da wir aber auf
042  jeden Fall zunächst unsere Methodik erarbeiten müssen, haben wir
043  nun zu prüfen, ob im weiteren nicht vielleicht die historische
044  Reihenfolge genau umzukehren wäre. Für diese Umkehrung spricht
045  ein gewichtiges Argument. Wenn wir nämlich die Reihenfolge
046  umkehren, so ergibt sich, daß wir, bei der Methodenüberlegung
047  und dem daran anzuschließenden empirischen Bild der Religionen
048  einsetzend und schließlich bei dem Thema Gottperson endend, mit
049  dem empirisch Faßbaren und also auf festem Boden beginnen, um
050  dann von da aus, Schritt für Schritt behutsam setzend, uns erst
051  allmählich dem intelligiblen Gegenstand der Religionsphilosophie
052  zu nähern. Dies aber ist zweifellos die unserem Gegentand
053  Religion angemessene Weise des Vorgehens. Denn wenn wir gleich
054  mit der Überlegung über die Gottperson beginnen, setzen wir
055  notwendig in fundamentalistischer Weise ein: Unser Einsatzpunkt
056  wäre in diesem Fall ganz unversehens einfach der metaphysische oder
057  auch christliche Gottesbegriff, den wir dann der empirischen
058  Gröse Religion als ihr eigenstes Gesetz vordiktierten. Freilich
059  könnte auch bei der umgekehrten Reihenfolge ein verdeckter
060  Fundamentalismus herrschen; wir könnten dabei nämlich versuchen,
061  uns den Anschein des empirisch gesicherten Vorgehens zu geben,
062  und dennoch schon von Anfang an auf den metaphysischen und
063  christlichen Gottesbegriff hinzielen. Dagegen sichern wir uns aber,
064  indem wir bei unserem Vorgehen in jedem einzelnen Thema
065  methodisch die drei Momente zur Geltung kommen lassen, die wir
066  schon hervorgehoben haben: Begründung, Kritik und Deutung.
067  Wenn wir dies ausreichend berücksichtigen, so haben wir die
068  Möglichkeit, auch jenen Religionen gerecht zu werden, welche den
069  religiösen Gegenstand nicht als Gottperson auffassen; wir
070  bleiben dann grundsätzlich offen in unserem Ziel, halten uns
071  dagegen im Einsatz strikt an das empirisch Gegebene. Noch ein
072  weiteres Argument spricht für die Umkehrung unserer Reihenfolge
073  gegenüber dem historischen Ablauf der religionsphilosophischen
074  Themenstellung: Durch sie nämlich werden wir erst aufmerksam auf
075  ein wichtiges Moment, das sowohl zum Verständnis unserer
076  Typenübersicht wie auch für unsere weitere Methode bedeutsam ist.
077  Bei der Umkehr zeigt sich, daß die Religionsphilosophie
078  offensichtlich im Lauf der neueren Geschichte jeweils nach den
079  Voraussetzungen der vorher erarbeiteten Entwicklungsphase gefragt
080  hat: zunächst nach der Vernünftigkeit des religiösen Seins,
081  dann nach deren ethischer Grundlage, dann nach deren nur intuitiv
082  ermeßbarem Ursprung und schließlich nach dem ganzheitlichen
083  Horizont, in dem Religion entsteht und den sie erfüllen will.
084  Ist es vielleicht so, daß die Religionsphilosophie immer den
085  Schwunderscheinungen nachspürt, um der schwindenden Religion zu
086  neuer Daseinskraft zu verhelfen? Ja, so ist es wirklich. Wenn
087  die Religion sich von ihrem Grund gelöst hat und den Gesamtraum
088  nicht mehr ausfüllt, ist es offenbar die Religionsphilosophie,
089  die nach neuer Begründung fragt. Kritisch nach den
090  Ursachen des Schwunds sucht und neu den Gesamtraum ausleuchtet.
091  Damit leistet sie, unbeabsichtigt, vielmehr einfach vom
092  Gegenstand her genötigt, die Vorarbeit für eine neue
093  Selbstverwirklichung der Religion, eine Neugeburt, die freilich
094  aus der Religion selbst kommen muß - oder auch nicht kommt, das
095  bleibe vorläufig dahingestellt; die Religionsphilosophie leistet
096  also jedenfalls ihren Dienst im Sinn der sokratischen Maieutik.
097  Damit haben wir endlich den weiteren Aufbau unserer Erörterung
098  sicher im Blickfeld: Wir halten uns an das aus der
099  Typenübersicht gewonnene Schema in genauer Umkehrung. In
100  unserer Methodenbesinnung bleibt aber noch ein letztes Problem kurz
101  zu erörtern: Wir haben zu fragen, wie sich denn die empirischen
102  Erkenntnisse der Religionswissenschaft und Religionspsychologie
103  sowie die Aussagen der Theologie praktisch für die
104  Religionsphilosophie verwerten lassen. Die Antwort ist einfach.
105  Es geschieht dies dadurch, daß wir die Religionsphilosophie
106  grundsätzlich synoptisch betreiben. Eine heutige
107  Religionsphilosophie kann nur ertragreich sein, wenn sie mit dem
108  religionsphilosophischen Aspekt auch den religionswissenschaftlichen,
109  religionspsychologischen und theologischen bündelt, und das,
110  ohne die Unterschiede jemals zu verwischen, bei jedem einzelnen
111  Fragenkreis. Daß die Theologie hierbei nicht entbehrt werden
112  kann, haben wir schon erwähnt; ist sie doch die wissenschaftlich
113  durchleuchtete unmittelbare Äußerung der lebendigen Religion,
114  ohne deren Weisung alle Religionsphilosophie ins Leere treffen
115  müßte. Fünftes Kapitel: Die Religionsphilosophie und
116  ihr Gegenstand. Das Problem des wesens der Religion.
117  Soren Holm stellt fest, " daß eine allgemeine Definition vom
118  Wesen der Religion höchst unvollkommen, wenig bezeichnend und in
119  der Praxis fast ganz wertlos ist ". Fast! Wäre sie ganz
120  wertlos, dann wäre Religionsphilosophie überhaupt unmöglich,
121  denn ohne Wesensbestimmung des Gegenstandes kann Philosophie nicht
122  sein. Aber freilich, auf dieses Problem achteten wir ja schon zu
123  Beginn: Die Definition muß bei einem Ganzheitsverhältnis
124  immer vorwiegend formal bleiben. Eine zureichende inhaltliche
125  Wesensbestimmung von Religion kann schon deshalb nicht erhofft
126  werden, weil die Vielfalt der religiösen Phänomene letztlich
127  jedes exakte System als unzulänglich erscheinen läßt. Im Grund
128  ist ja die ganze Religionsphilosophie um die Wesenserfassung der
129  Religion bemüht; suchen wir dafür nach einer formalen
130  Definition, so können wir diese getrost gleich zu Anfang
131  verwenden, auf eine inhaltliche können wir dann ganz verzichten.
132  Ohne eine formale Definition geht es freilich nicht, denn ohne
133  Nennung eines bestimmten Vorverständnisses ist ein geistiger
134  Gehalt nie zu erfassen. Wir werden auch deshalb nicht auf eine
135  inhaltliche Formel, und prägten wir sie erst am Ende als
136  Ergebnis unserer religionsphilosophischen Erörterung, hinzielen,
137  weil dies schon der formalen Wesensbestimmung widerspräche: Wenn
138  nämlich Religion ein Ganzheitsverhältnis ist, das auch den
139  religiösen Menschen ganzheitlich einbezieht, so kann eine ihrem
140  Wesen nach immer nur partielle philosophische Erörterung niemals
141  die Universalität selbst erreichen; dies bleibt vielmehr einem
142  neuen, dem eigentlichen religiösen Lebensakt vorbehalten. Der
143  religiöse Lebensakt aber könnte als überflüssig erscheinen,
144  wenn er voll und sachgemäß in einer Formel verfügbar gemacht
145  würde. Gerade um diesem Lebensakt Raum zu geben, verzichten wir
146  auf eine endgültige Wesensbestimmung. Das " Wesen der Religion "
147  ist für uns also lediglich ein Moment des Vorverständnisses,
148  und dabei muß es bleiben. Das schließt aber nicht aus, daß wir
149  über die formale Definition " Religion ist Vermittlung
150  ganzheitlicher Beziehung zum Ganzen " noch um einige wesentliche
151  Schritte hinausgehen. Wir können wirklich schon jetzt einiges
152  Inhaltliche sagen, wenn wir uns nur von der religiösen
153  Wirklichkeit her Aufschlüsse geben lassen. Dabei müssen wir
154  zunächst auf die Ganzheit achten. Die konkrete Religion
155  vermittelt und verwirklicht immer ein spezifisches
156  Ganzheitsverständnis, welches so qualifiziert ist, daß jeder
157  Religiöse heutzutage ein Wissen derart hat: Mein
158  Ganzheitsverständnis ist so beschaffen, daß ich den
159  Nichtreligiösen bedauern muß; denn ich sehe, daß er, auch
160  wenn er es vermeint, doch nicht wirklich zum Grund des Seins
161  gelangt ist. Das Ganzheitsverständnis des Religiösen
162  qualifiziert sich also als eigentlicheres, verglichen mit dem des
163  Nichtreligiösen. Der Nichtreligiöse kann letztlich niemals
164  sagen, wie das religiöse Ganzheitsverständnis aussieht; der
165  Religiöse jedoch hat, jedenfalls in unserer Zeit, immer ein
166  Wissen von dem, was dem Nichtreligiösen mangelt. Ohne Religion
167  kann demnach ein Ganzheitsverständnis offenbar kein wirklich
168  ganzheitliches sein. Der Grund dafür liegt darin, daß der
169  Religiöse niemals nur theoretisch über die Tranzendenz
170  nachdenkt, daß er vielmehr den in der Transzendenz beheimateten
171  religiösen Gegenstand in der Immanenz unmittelbar erlebt.
172  Am Verhältnis von Transzendenz und Immanenz also unterscheidet
173  sich religiöses und nichtreligiöses Ganzheitsverständnis
174  wesenhaft und das heißt qualitativ: Das nichtreligiöse
175  " Ganzheitsverständnis " ist vom religiösen her gesehen nicht
176  wahrhaft ganzheitlich und damit unzulänglich. Wir wollen dieses
177  religiöse Grundgefühl in gebotener Knappheit auf seinen
178  ontologischen Hintergrund hin analysieren. Dem erkennend und
179  denkend existierenden Menschen sind vier Sphären zugemessen. Der
180  Mensch hat ein " Außen ", ein " Draußen ", ein " Drinnen "
181  und ein " Innen ". Unter Drinnen wollen wir verstehen die
182  dem Bewußtsein zugängliche Welt des Subjektiven, unter
183  Draußen die Weilt des Objektiven; beide Sphären zusammen
184  können wir " Binnen " nennen. Ins Drinnen gehören
185  Erkenntnisse, Gedanken, Gefühle, Willensbestrebungen und
186  dergleichen, soweit der Mensch ein Bewußtsein von diesen
187  Faktoren hat; ins Draußen gehören die objektiv erkennbaren und
188  begegnenden Fakten der Natur und der Geschichte. Das Innen ist
189  die dem Bewußtsein nicht unmittelbar zugängliche Sphäre des
190  Unbewußten. Das Außen ist der Bereich der ontologischen
191  Transzendenz; hierher gehört alles, was dem ins Metaphysische
192  zielenden Zugriff des Bewußtseins sich überhaupt entzieht. Der
193  Begriff der Transzenz ist nun an sich völlig leer. Von
194  Bedeutung kann er nur dann sein, wenn an sich transzendente
195  Faktoren in irgendeiner Weise immanent werden und sich doch
196  zugleich als im Wesen transzendent manifestieren. Eine solche
197  Manifestation nennen wir Offenbarung. Die Wurzel eines solchen
198  immanenten Verhältnisses zu transzendenten Faktoren ist die
199  Religion; nur in lebendiger Religion können transzendente
200  Faktoren unmittelbar erlebt werden. Die Religionsgeschichte weist
201  viele Beispiele für dieses Erlebnis auf. In vorgeschichtlicher
202  Zeit " übersteigt ", transzendiert der Mensch sich selbst im
203  Ritual. Er tritt aus seiner immanenten Sphäre heraus und erlebt
204  ein ihm an sich verschlossenes eigentliches Sein. Im Ritual
205  werden die immanenten Dinge transparent für die tiefere
206  Wirklichkeit, die dem normalen Dasein verschlossen ist. Daß die
207  sogenannte primitive Religion dem Menschen im Ritual einen Zugang
208  zur Transzendenz vermitteln konnte, läßt sich nur dadurch
209  erklären, daß dem Menschen ein tiefes Wissen davon eingeboren
210  ist, daß die Transzendenz sich in der Immanenz manifestieren kann
211  und will. Das aber führt uns darauf, daß auch das Innen dem
212  Menschen letstlich transzendent ist; im Innen ruht nämlich jenes
213  geheime Wissen um die Wahrheit des Außen, ein Wissen, das sich
214  gelegentlich in Phasen der Hellsichtigkeit oder auch im Traum
215  anmeldet. Im alten Ägypten hat sich das Wissen um das
216  spannungsreiche Verhältnis des Menschen zur Transzendenz in einem
217  eindrucksvollen Symbol ausgedrückt: Es ist der Obelisk. Die
218  große Pyramide hatte das Gottesreich auf die Erde bannen sollen,
219  in der Zeit der 5.Dynastie jedoch erkannte man, daß das
220  Gottesreich jenseitig ist und dennoch wunderbarerweise mit dem
221  Diesseits in Verbindung steht: Man setzte das Pyramidion auf
222  einen Pylon, um die Ferne der Transzendenz anzudeuten und
223  zugleich doch wieder ihre wunderhafte Nähe. Im alten
224  Mesopotamien erbaute man Stufentürme, Zikurrats, welche die
225  jenseitigen Götter einladen sollten, das Außen zu verlassen und
226  über die Himmelstreppen niederzusteigen zu den Menschen: Wieder
227  eine Transzendenz, welche immanent geahnt wird. Im Gilgamesch
228  -Epos fährt der Held über das große Wasser und erreicht das
229  jenseitige Ufer, wo er die Kunde vom Lebenskraut gewinnt; er
230  verliert das Kraut wieder, nachdem er es aus dem Grund des Meeres
231  geholt hat. In dieser Sage wird ausgedrückt, daß das Leben
232  selbst letztlich in der Transzendenz gründet, wiewohl dieser
233  Grund nun verlassen und seine heilsame Wirklichkeit verloren ist.
234  Leben und Tod werden hier als Zeichen erkannt, die in der
235  Immanenz auf Transzendenz hinweisen. In der Tragödie des
236  Aischylos und Sophokles leidet der isolierte Mensch unter dem
237  Verlust des heilsamen transzendenten Grundes; dennoch muß der
238  Mensch das Gesetz der Urmacht befolgen, auch wenn ihm daraus kein
239  Heil erblüht: Die transzendente Wirklichkeit greift zwingend in
240  die Immanenz hinein, und auch im Scheitern muß dieser Zwang
241  bejaht werden. Der Tod bedeutet für den Menschen, der Augen
242  hat zu sehen, eine Grenze: das Wesen der Grenze aber liegt
243  darin, daß man über sie wegschauen kann und sie dennoch nicht zu
244  überschreiten vermag. Daß außerhalb der Grenze nicht etwa bloß
245  Nichts ist, das ist ein Urwissen der Menschheit, welches sich in
246  der Religion zum ganzheitlichen Erlebnis macht. Das alte Israel
247  hat in seiner Religion ein zweites Merkmal der Transzendenz zum
248  Mittelpunkt der religiösen Existenz gemacht: Es ist das
249  Verhältnis von Ich und Du. Gottes Ichsein ist ganz und gar
250  wirklich und doch, was in abgeschwächter Weise von jedem Mit-
251  Ich gilt, ganz und gar unverfügbar: Ich bin, der ich bin.
252  Der religiöse Mensch weiß, daß jedes Ich-Du-
253  Verhältnis, daß alle Personhaftigkeit an das Geheimnis der
254  ursprünglichen Transzendenz rührt. Das Du kann sich dem
255  Menschen erschließen oder entziehen, ohne daß der Mensch
256  letztlich darüber verfügen könnte. Der Tod und das Du sind
257  also die beiden großen " Irrationalien ", durch die sich die
258  Transzendenz im Immanenten manifestiert. Die Antigone des
259  Sophokles und der 139.Psalm sind die großen Dokumente für
260  dieses Wissen.

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