Quelle Nummer 219
Rubrik 33 : BELLETRISTIK Unterrubrik 33.08 : LITERARISCHE
MARTIN WALSER
AUS DEM WORTSCHATZ UNSERER KAEMPFE
SZENEN
VERLAG EREMITEN-PRESSE
STIERSTADT IM TAUNUS, SCHLOSS SANSSOURIS 1971
S. 55-74
001 Schön hier oben. Doch. Wirklich. Sehr schön. Man kommt
002 sich vor wie. Man steht irgendwie über den Dingen. Man fühlt
003 sich so ganz. Es ist für mich noch etwas ungewohnt. Ich muß
004 mich erst noch. Aber das spüre ich schon. Es ist wirklich mal.
005 Man sieht plötzlich alles wie von einer höheren Warte aus.
006 Endlich. Man atmet wieder. Man atmet wieder lieber.
007 Wahrscheinlich die Luft. Der Druck ist weg. Die Plackerei.
008 Der Clinch. Es war ja nicht immer leicht. Oft glaubte man, das
009 hältst du nicht aus. Und dann hat man's doch ausgehalten. Zum
010 Glück. Es hat sich gelohnt. Schön hier oben. Doch.
011 Wirklich. Sehr schön. Man kommt sich vor wie. Ich muß mich
012 zuerst dran gewöhnen. Das ist ja klar. Komm, ich hab ne
013 Überraschung für dich, sagt er, und dann zieht er das Tuch weg
014 und da steht dieser Sockel. Das war schon ne Überraschung für
015 mich. Also mit einem Sockel hatte ich einfach nicht gerechnet,
016 das gebe ich ganz ehrlich zu. Zuerst hab ich überhaupt nicht
017 begriffen. Aber dann bin ich doch rauf. Mit wurde gleich
018 schwindlig. Das legte sich. Und jetzt fühle ich mich so richtig.
019 Es ist einfach anders. Man steht mehr über den Dingen.
020 Kriegt ein ganz anderes Urteil. Auch der Horizont, also wenn
021 ich jetzt vergleiche mit früher, wirklich, das ist überhaupt kein
022 Vergleich, der Horizont, wie der sich geweitet hat. Man hat
023 jetzt eben ganz andere Vergleichsmöglichkeiten. Ich will gar
024 nicht abstreiten, daß ich auch Fehler gemacht habe. Jeder
025 Mensch macht Fehler. Man hat einfach zu wenig Erfahrung am
026 Anfang. Aber ich habe gelernt. Ich bin nicht stehen geblieben.
027 Ich habe mir Mühe gegeben. Heute kann ich sagen. Also auf
028 jeden Fall, ich. Ich meine, ich habe mich nicht aufgegeben.
029 Ich habe mich schon behauptet. Ich war ja ein Gänschen. So
030 richtig rührender Teenager war ich. Aber ich möchte das nicht
031 noch einmal durchmachen. So schön es war. Es war schon ziemlich
032 schlimm. Aber das ist ja nun vorbei, zum Glück. Er muß es
033 auch gespürt haben. Darum bringt er plötzlich diesen Sockel an
034 und sagt: Komm, ich hab 'ne Überraschung für dich. Wenn du
035 nicht willst, sagt er. Ich dachte bloß, so ein Sockel, was
036 soll das jetzt? Wenn du nicht willst, stellen wir ihn in den
037 Garten, nein, nein, sag ich, laß doch mal, ich muß das doch
038 zuerst einmal, ich muß mich doch zuerst damit, komm, hilf mir mal
039 rauf undsoweiter. Ich war ja überhaupt nicht sicher, aber ich
040 wollte ihm doch die Freude nicht verderben, ich sah doch, daß er
041 stolz war auf seinen Einfall, ist ja auch lieb von ihm, da will er
042 mir ne Freude machen, soll natürlich was ganz besonderes sein,
043 und auf was kommt er, auf einen Sockel. Ja, er ist eben nicht
044 der Erstbeste. Das zeigt sich immer wieder. Einen Sockel. Er
045 kauft seiner Frau einen Sockel. Er will sie erhöhen. Irdendwie
046 muß er das im Sinn gehabt haben. Und da hätte ich sagen sollen,
047 nee, du, auf sowas stell ich mich nicht! Wenn Sie sein Gesicht
048 gesehen hätten, als er mir den Sockel zeigte, also da hätten
049 Sie auch gesagt: nichts wie rauf. Und tatsächlich, jetzt habe
050 ich mich schon ganz gut eingewöhnt. Ich beginne, die Vorteile
051 des neuen Standpunktes zu genießen. Man hat einfach einen ganz
052 anderen Überblick von hier aus. Man kann sich auch bewegen. So
053 ist es nicht. Zumindest die Arme. Und den Kopf. Vor allem
054 geistig. Die intellektuelle Beweglichkeit, die Phantasie. Ich
055 bin auch fast schon schwindelfrei. Also, wenn ich den Blick
056 langsam hinunterrichte, dann geht es. Bloß wenn ich mal ganz
057 schnell hinunterschaue, dann schwankt gleich alles. Günther,
058 Günther! Ein kleines Geländer, und wenns nur bis zu den
059 Knien ginge, das wäre schon eine Hilfe. Wahrscheinlich wollte
060 er das nicht, weil ich mir dann zu sehr eingesperrt vorkäme.
061 Günther, bist du da? Sag mal, warum hast du eigentlich.
062 Günther? Lissi, bist du es? Lissi, ob du es bist? Machst
063 du Schularbeiten? Lissi, spiel doch mal 'n paar Schallplatten.
064 Wer geht denn da? Hallo?! Ist da jemand? Glaubt ihr
065 vielleicht, ich höre nicht, daß. Komisch, man täuscht sich
066 doch ziemlich leicht, wenn man so. Manchmal denk ich, ob ich
067 nicht noch ein bißchen zu jung bin für so 'n Sockel. Das sind so
068 Rückfälle. Anfechtungen. Darüber kommt man weg. Man regt
069 sich. Läßt den Blick schweifen. Atmet auf. Günther?
070 Einer Stille soll man ja nicht zu lange nachhören. Da wird's
071 nämlich immer noch stiller. Da könnte es einem auch schwindlig
072 werden davon. Günther, du weißt doch ich krieg so leicht
073 trockene Fingerspitzen, würdest du mit etwas Creme bringen,
074 bitte. Günther. Es gibt natürlich immer eine Lösung. Das
075 weiß man doch. Günther, könntest du mal. Bist du. Schick
076 mir doch mal. Lissi, bist du. Ihr steckt wohl unter. Ihr
077 erlaubt euch. Hallo. So dürft ihr nicht. Nun laßt. Hallo.
078 Ich kann doch nicht. Hört ihr. Ihr könnt mich doch nicht.
079 Günther. Ich bitte dich. Etwas Creme. Ich glaube, der
080 größte Vorteil, wenn man hier oben steht. Zum Glück habe ich
081 keine Uhr. Ich finde ja, wenn man alles so an sich
082 vorbeipassieren läßt, man wird dann. Ich meine, im Laufe der
083 Zeit. Die Zeit ist ja. Die Zeit. Also eine Minute zum
084 Beispiel. Wenn man eine Uhr hat, nicht wahr, dann ist eine
085 Minute ziemlich lang. Wenn Sie keine Uhr haben und auf einem
086 Sockel stehen, dann. Auch die Menschen. Man ruft natürlich,
087 das ist ja klar. Mehr so aus Gewohnheit. Oder daß es nicht so
088 still ist. Günther! Herbert! Julius! Bernd! Albert!
089 Thomas! Rolf! Rolf-Thomas-Albert-Bernd-
090 Julius-Herbert-Günther! Schade! Es ist nämlich
091 schön hier oben. Man kommt sich vor wie. Bist du's Günther?
092 Na ja, er kann ja noch gar nicht. Das ist das Gute auf so einem
093 Sockel. Man wartet nicht mehr so. Man schaut herum. Erlebt was.
094 Denkt. Schaut nicht immer auf die Uhr. Man ist mehr man
095 selber. Man ist auch jemand. Irgendwie nicht mehr so abhängig.
096 Man unternimmt was. Entwickelt sich. Und das wird sich auswirken.
097 Das zieht ihn natürlich wieder an, das ist klar. Aber so ist
098 es ja nicht gemeint. Man hat selbst etwas davon. Die Weite.
099 Der Horizont. Die Welt ist doch größer als man dachte. Das
100 ist schon ein Erlebnis. Günther? Diese trockenen
101 Fingerspitzen. Man denkt auch nicht immer an alles. Vielleicht
102 regnet es bald. Auf den Regen würde ich ungern verzichten.
103 Fragen. Kennen Sie das auch, dieses Gefühl. Haben Sie
104 sich schon einmal gefragt. Sind Sie auch manchmal so. Werden
105 Sie nicht auch oft Spüren Sie auch, daß es bald nicht mehr.
106 Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß Sie eine längere
107 Fußwanderung durch Niederbayern machen sollten? Ziehen Sie die
108 Konsequenzen aus Ihrer. Sind Sie auch so leicht ablenkbar?
109 Brauchen Sie also auch immer mehr Geld? Haben Sie auch das
110 Gefühl, Sie ließen sich viel zu viel gefallen? Wie finden
111 Sie eigentlich Gewerkschaft, ich meine das Wort, wie finden Sie
112 das? Würden Sie Armut auch lieber mit zwei m schreiben? Oder
113 finden Sie black power ganz einfach prima? Wissen Sie auch oft
114 nicht. Von welchem Dichter, meinen Sie, könnte die Geschichte
115 sein, in der eines Vormittags alle, die man um zehn Uhr noch im
116 Bett antrifft, zum Tode verurteilt werden? Oder sind Sie auch
117 gegen die Todesstrafe? Sicher finden Sie Inhalte allmählich
118 auch immer blöder? Wann stehen Sie normalerweise auf? Sicher
119 sind Sie sehr allergisch gegen Metaphern, nicht wahr. Wissen
120 Sie noch, was das Wort Omnibushaltestelle im Deutschen bedeutet?
121 Haben Sie etwa selbst Angestellte? Wenn nicht, wer arbeitet
122 für Sie? Die Zeit? Sie glauben also, das geht immer so
123 weiter, ja? Dann begreife ich aber nicht, warum Sie unzufrieden
124 sind? Denken Sie jetzt an Ihre Unterwäsche, an die
125 Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben, an Ihren
126 Lieblingskonzern oder an die Sprache, die so angenehm ist, wenn
127 sie nur noch von sich selber spricht? Finden Sie nicht, daß der
128 Tod der Sprache etwas zufügt? By the way, waren Sie schon mal
129 in Washington? War Ihr Abgeordneter schon mal? Genügt es,
130 daß wir die gleiche Seife benützen? Kennen Sie den Stadtplan
131 von Los Angeles? Ist Ihnen das meiste egal? Und wo soll dann
132 der Tischtennisnachwuchs herkommen? Frieren Sie auch manchmal an
133 den Haarwurzeln? Als Sie es durch die Finger gleiten ließen,
134 was empfanden Sie dabei? Auf welchen Ihrer Skrupel sind Sie am
135 stolzesten? Kennen Sie das auch, dieses Gefühl. Haben Sie
136 sich schon einmal gefragt. Sind Sie auch manchmal so. Werden
137 Sie nicht auch oft. Spüren Sie nicht auch, daß es bald nicht
138 mehr. Antworten. Ich fühle mich nicht stark genug.
139 Wenn ich könnte, wie ich wollte. Aber das gehört wohl kaum
140 hierher. Das darf ich doch keinem sagen. Wenn da einer draufkäme,
141 die würden mich doch sofort. Da wäre ich doch sofort. Das
142 kann ich mir doch gar nicht leisten. Das kann sich keiner leisten.
143 Oder nur ein paar, die's geschafft haben. Aber wieviele sind das.
144 Jeder andere muß doch, mein Gott, das ist ja nun wirklich
145 bekannt, daß auch in unserer Gesellschaft. Nein, kriechend.
146 Meistens kriechend. Am Ufer entlang. Schauen Sie doch nach,
147 meine Spur ist sicher noch zu sehen. Mit Hilfe eines Beils.
148 Stimmt, es war ein Radiergummi. Wie komm ich jetzt bloß auf
149 Beil. Boticelli. Das Betriebsverfassungsgesetz. Ich weiß
150 nicht. Einerseits ja. Andererseits, was soll ich machen, ich
151 allein. Und wie. Man möchte schon, deshalb habe ich doch
152 teilgenommen, aber als ich mich bücken sollte nach einem Stein,
153 da war's aus bei mir, da habe ich richtig versagt. Adenauers Grab,
154 zum Beispiel. Im Kabarett. Die Wasserverschmutzung. Oder
155 die SPD. Oder das Bankgeheimnis. Oder das Beichtgeheimnis.
156 Meine Mutter. Tot. Sie hat es mir vorhergesagt. Nein,
157 ziemlich genau. Sehr genau sogar. Ich bitte Sie, ich hätte
158 überhaupt nichts dagegen, Chefredakteur einer Herrenzeitschrift
159 zu sein, das wird ja sicher erstklassig honoriert, und man könnte
160 sowas ja auch intelligenter machen, sogar gesellschaftskritisch,
161 denken Sie nur an den New Yorker, warum also nicht, aber ich bin
162 nun einmal kein Chefredakteur. Das läßt sich doch feststellen.
163 Ich bitte Sie. Durch Hans Magnus Enzensberger. Auf einem
164 Hochspannungsmast. Nein, es regnete. Alle, die ich liebe.
165 Nichtraucher. 20 bis 30 pro Tag. Je nach dem, mit wievielen
166 Menschen ich sprechen muß. Wenn ich allein bin, rauch ich
167 höchstens 10. O doch, das kann ich schon sagen. Genau da, wo
168 das Schmelzwasser unter dem Schnee hervor (...) heraustritt und uns
169 Grüne rieselt. Fließt. Mit dem Kopf. Nein. Ich wasche mir
170 die Hände bevor ich aufs Clo gehe. Im Mai, in einem Dorf,
171 mittags um zwölf, plötzlich läutete es, das Dorf ganz
172 sonnenüber (...) ganz in der Sonne, da dachte ich daran, daß ich.
173 Nein. Freunde. Abends. Oft auch nachts. Auch telefonisch.
174 Oft blute ich noch, wenn es hell wird. (Lacht ein bißchen)
175 Das gebe ich zu. Der Kapitalismus. Diese betäubenden
176 Tautologien, zum Beispiel. Ein Rohling ist ein Rohling ist ein
177 Rohling. Tomatenglatt. Klassisch, wenn sie aber ein
178 Rasierwasser kaufen, drücken sie sich auch anders aus, da sagen
179 sie nämlich auch: Nein, ich möchte lieber was Herbes. Ich
180 bin nicht sicher. Zwanzig Mark pro Stunde. Von Hand. Mit
181 Ihnen schlafen. Am 3.des Monats. Auf dem Gerüst. Bei
182 Vollmond. Ich sah es kommen. Eine eins. Er schlug sie mir aus
183 der Hand, ich hob sie wieder auf, er schlug sie mir wieder aus der
184 Hand, ich hob sie wieder auf, er schlug. Bitte. Wenn Sie
185 meinen. Ich kann's ja mal probieren. P (...) Pappige Hände.
186 Platzende Hoden. Picklige Häute (...) Pissende Hunde.
187 Passende Handschuhe. Perfekte Hausschuhe. Paul Heyse. Peter
188 Handke. Prima Hemden. Praktische Herren. Purer Hohn.
189 Frauen, zum Beispiel. (Pause) Und Startblöcke.
190 Das sagt sich leicht. Aber bitte, wenn Sie meinen, ich mach's
191 mal. So etwa. Ich weiß nicht. Mein Handgelenk. Überhaupt
192 meine Hand. Ich finde, irgendwie fehlt der Druck. Eine Faust,
193 da gehört doch, ich habe das Gefühl, wenn ich eine Faust
194 mache, ich muß sie immer anschauen, und das stimmt irgendwie nicht,
195 glaube ich, wer eine Faust macht, der darf sie nicht andauernd
196 selber, der muß doch, aber wohin soll ich schauen, wenn ich eine
197 Faust mache. Darf ich sie wieder. Danke. Aminosäuren.
198 Polypeptidketten. Marx und Lenin. Ja, immer am Mittwoch.
199 Durch den Hinterausgang. Natürlich habe ich an die Gemeinde
200 geschrieben, man möge endlich Kunststoffeimer anschaffen wie es in
201 anderen Städten schon mit Erfolg geschehen ist. Aber Sie wissen
202 ja, wie das ist, wenn Sie sich engagieren, es kostet Nerven.
203 Das habe ich auch schon probiert. Aber erstens spannen diese
204 Kugeln so im Gehörgang, daß ich an nichts mehr denken kann als
205 an diese Kugeln. Und wenn ich sie kleiner mache, dann rutschen
206 sie mir womöglich so weit hinein, daß ich sie nir mehr
207 herausbringe. Vor allem aber habe ich, sobald ich die Dinger drin
208 hatte, nur noch dagesessen und gehorcht, ob ich die Männer und
209 die Eimer noch höre, und natürlich habe ich sie dann gehört,
210 ganz klar. Weil alle schwächeren Umweltgeräusche tatsächlich
211 wegfielen, blieb dieser Lärm als einziger übrig, so als gäbe es
212 nichts anderes. Nein, nein, entweder es werden Kunststoffeimer
213 eingeführt oder.
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