Quelle Nummer 215
Rubrik 13 : GESCHICHTE Unterrubrik 13.04 : ALLGEMEINE
VOLKSTUMSIDEOLOGIE
WOLFGANG EMMERICH
ZUR KRITIK DER VOLKSTUMSIDEOLOGIE
EDITION SUHRKAMP 502
SUHRKAMP VERLAG FRANKFURT 1971, S. 7-15
001 Vorbemerkung. Das vorliegende Buch befaßt sich mit der
002 vom öffentlichen Bewußtsein kaum registrierten Deutschen
003 Volkskunde in ihrer nie unterbrochenen Verknüpfung mit
004 nationaler und sozialer Volkstumsideologie. Nach Bertolt Brecht
005 gehört der Begriff Volkstum in jene Reihe der
006 " Tümlichkeiten " vom Schlage Brauchtum, Heiligtum,
007 Königtum, deren " ganz besonderen, sakralen, feierlichen
008 und verdächtigen Klang[ (...) ]wir keineswegs überhören
009 dürfen ". In seinem Essay Volkstümlichkeit und Realismus
010 hat Brecht vortreffliche Beobachtungen zur bürgerlichen
011 Ideologie von Volk und Volkstum notiert, die hier vollständig
012 zitiert seien, da sie auch die in diesem Buch eingeschlagene
013 Richtung der Kritik sichtbar machen: " Es sind gerade die
014 sogenannten poetischen Fassungen, in denen " das Volk
015 " besonders abergläubisch oder besser Aberglauben erweckend
016 vorgestellt wird. Da hat das Volk seine unveränderlichen
017 Eigenschaften, seine geheiligten Traditionen, Kunstformen,
018 Sitten und Gebräuche, seine Religiosität, seine Erbfeinde,
019 seine unversiegbare Kraft und so weiter uns so weiter. Da tritt
020 eine merkwürdige Einheit auf von Peiniger und Gepeinigtem, von
021 Ausnutzer und Ausgenutztem, von Lügner und Belogenem, und es
022 handelt sich keineswegs einfach um die " kleinen ", vielen,
023 arbeitenden Leute im Gegensatz zu den Oberen. - Die
024 Geschichte der vielen Fälschungen, die mit diesem Begriff
025 Volkstum vorgenommen wurde, ist eine lange, verwickelte
026 Geschichte und eine Geschichte der Klassenkämpfe. "
027 Möglichkeiten und Grenzen der ideologiekritischen Methode sollen
028 aufgewiesen werden. Der Autor geht dabei von der Voraussetzung
029 aus, daß Ideologiekritik immer dann eine stumpfe Waffe bleibt,
030 wenn sie die historischer Veränderung unterworfenen
031 gesellschaftlichen Verhältnisse auser acht läßt und ihre einzige
032 Absicht die Entideologisierung von Wissenschaft und Gesellschaft
033 ist. Daraus erklärt sich die relative Ausführlichkeit der hier
034 vorgenommenen historischen Analysen. Auf deren Notwendigkeit
035 haben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie
036 nachdrücklich hingewiesen: "[ (...) ]auf die Geschichte der
037 Menschen werden wir hier indes einzugehen haben, da fast die ganze
038 Ideologie sich entweder auf eine verdrehte Auffassung dieser
039 Geschichte oder eine gänzliche Abstraktion von ihr reduziert. "
040 Ideologiekritik im rein mentalen oder im rein pragmatischen Sinn
041 würde der Oberflächenreinigung eines in seiner Substanz
042 unverändert verharrenden Systems gleichkommen und das schlechte
043 Bestehende aufs neue und wirksamer funktionstüchtig machen. Diese
044 Studie geht zurück auf meine Untersuchung Germanistische
045 Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforschung im
046 Dritten Reich (Tübingen 1968). Nicht zuletzt unter dem
047 Eindruck der seitherigen Entwicklung in der Volkskunde hat sich
048 die Konzeption der Neufassung stark verändert, die Argumentation
049 geschärft, so daß ein neues Buch entstanden ist. Über die
050 gegenwärtige, zaghafte Hoffnungen weckende Entwicklung in der
051 Volkskunde, ihr neues Selbstverständnis als empirische
052 Kulturwissenschaft und Kultursoziologie gibt das letzte Kapitel
053 Auskunft. Für Rat und Kritik danke ich meinem früheren Lehrer
054 Hermann Bausinger und den Tübinger Freunden Jürgen Alberts,
055 Utz Jeggle und Gottfried Korff herzlich. Tübingen, im Mai
056 1971. Die ideologiekritische Perspektive. An deutschen
057 Universitäten wird ein Fach mit dem sonderbaren Namen
058 Deutsche Volkskunde gelehrt. Der nicht weiter Informierte,
059 der sich für aufgeklärt hält, wird Volkskunde ohne Zögern mit
060 nationalistischen und romantischen Tendenzen in Zusammenhang
061 bringen und vermuten, hier handle es sich um ein Fossil, das mit
062 dem Jahr 1945 mehr oder weniger von der Bildfläche verschwunden
063 sei oder doch zumindest sein sollte. Volkskunde, das läßt
064 assoziieren: Sonntagstracht und Bauernhaus, Maibaum und
065 Johannisfeuer, Relikte einer abgelebten Zeit. Aufs
066 Unzeitgemäß-Hinterwäldlerische abzielend, fügt ein
067 durchaus nicht übelwollender Laie aus der lokalen Tübinger
068 Perspektive hinzu, die Volkskundler hausten ja wohl nicht ohne
069 Grund in der hintersten Ecke des altehrwürdigen Schlosses. Der
070 antiquierte, fiktionale Charakter des Ganzen scheint ausgemacht
071 und tendiert zum Lächerlichen. Wissenschaftliche oder gar
072 gesellschaftskritische Anstöße werden von der Deutschen
073 Volkskunde ohnehin nicht erwartet. Gleichwohl ist die Zahl derer,
074 die den homo folkloristicus, den " Volksmenschen ",
075 noch lebendig wähnen, durchaus nicht gering. Eine massive
076 Minderheit von Universitätsprofessoren (die nicht wenig stolz
077 sind, zur Gelehrtenrepublik gerechnet zu werden), Dozenten in
078 der Lehrerbildung, Archivaren, Direktoren von Heimatmuseen und
079 schließlich liebevollen Dilettanten, in Vereinen organisiert,
080 die scheinbar aus eigenem Antrieb und voller Hingabe die
081 Feldforschung auf dem Lande versorgen, widmet sich pflegend und
082 bewahrend der Folklore. Daß der kommerzialisierte Kulturbetrieb
083 sich ihrer angenommen und sie vereinnahmt hat, verschlägt dabei
084 nichts. Im ungebrochenen Glauben ans Althergebrachte, freigiebig
085 (und kaum kontrolliert) finanziert von den öffentlichen Händen,
086 wird ursprüngliche Volkskultur in Sitte und Brauch, Lied und
087 Tracht beschworen, die es so ohnehin nie gab, das aktuelle, das
088 " Volkswagenvolk " hingegen ignoriert. Es mag scheinen, dieser
089 Tatbestand könnte als Kuriosität im soziokulturellen Panorama
090 der Bundesrepublik übergangen werden. Das ist nicht der Fall.
091 Vielmehr signalisiert er einen nie unterbrochenen Zusammenhang von
092 nationaler und sozial integrativer Volkstumsideologie einerseits und
093 wissenschaftlich verbrämter Volksforschung andrerseits, der - so
094 die These dieser Untersuchung - das Seine beigetragen hat zur
095 Einübung in reaktionäre gesellschaftliche Verhältnisse, zur
096 Befestigung und Rechtfertigung des schlechten Bestehenden,
097 endlich zur Aktivierung der kleinbürgerlichen, mittelständischen
098 Massen für faschistische Ziele. Wir fragen zunächst, mit
099 welchem Selbstverständnis sich die Volkskunde nach der
100 Zerschlagung des Faschismus, in der Nachkriegszeit im engeren
101 Sinne, präsentiert. " Deutsche Volkskunde ist die
102 wissenschaftliche Erforschung des deutschen Volkes in seiner
103 geistigen Artung, wie sie Abstammung und Landschaft, allgemeine
104 menschlich-seelische Grundlage und Gemeinschaftskultur in
105 Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Schicksal gebildet haben.
106 [ (...) ]Im Begriff Volk umfaßt die Volksdunde zwar
107 grundsätzlich alle Angehörigen dieser Blutsgemeinschaft
108 und Kulturgeinschaft, doch ist ihr Blick auf die Mutterschicht,
109 auf den Wurzelboden dieses Lebenskörpers gerichtet, wo die
110 Bindungen von Blut, Gemeinschaft und Boden ungebrochen in
111 Geltung sind.[ (...) ]Die Volkskunde als Wissenschaft kann
112 nur gedeihen und die ihr gestellte waltanschauliche, "
113 sozialpolitische " Aufgabe nur erfüllen unter einer Führerschaft,
114 die aus dem Volk kommt, vom Volk getragen wird und die selbst
115 Volk will. " Diese instruktive Definition findet sich im
116 Wörterbuch der deutschen Volkskunde von 1955, das vor kurzem
117 noch im Handel war (z. Zt. ist es vergriffen) und als
118 Handwörterbuch den Standort der volkskundlichen Disziplin
119 offiziell repräsentiert. Aber auch bei anderen Autoren stößt
120 man allenthalben auf der faschistischen Ära entstammende
121 programmatische Setzungen: " Erforschung stammlicher oder
122 völkischer Wesensart[ (...) ]ist ein Hochziel der Volkskunde ";
123 Rasse und Sippe erscheinen als die " wichtigsten Grundlagen
124 des Volkstums und seiner Schöpfungen ", Rasseforschung fungiert
125 auch 1960 noch als unentbehrliche Hilfswissenschaft der Volkskunde,
126 und der renommierte Autor des einzigen umfangreichen Handbuchs
127 der Volkskunde seit 1945 weiß zu berichten, daß der Gesamtteil
128 des nordischen Blutes am Aufbau der deutschen Bevölkerung bei 50
129 % liege - wie von der nordischen Rasse überhaupt nur im
130 Indikativ gesprochen wird. Auch im Beitrag Volkskunde
131 zum Handbuch der empirischen Sozialforschung (1962) ist
132 vom " karninen und doninen Komplex " die Rede,
133 der " trotz seines politischen Mißbrauchs unter dem Schlagwort "
134 Blut und Boden " volkskundlich relevant " bleibe. Gegenüber
135 Marxismus und Materialismus, Formen der " Zersetzung der
136 Grundlagen völkischen Lebens ", pocht man aufs Volk als
137 " Mutterboden ", " Wurzelgrund " und " produktiven Schoß "
138 - was immer das sei. Die Nähe zur Argumentationsweise der
139 bundesdeutschen Rechten, insbesondere der Verbände der
140 Heimatvertriebenen, ist augenfällig. So überrascht es nicht,
141 daß ein bevorzugtes Gebiet volkskundlicher " Pflege " und
142 Forschung das Brauchtum der Heimatvertriebenen war und ist. Es
143 wäre leichtfertig, den heutigen Bewußtseinsstand der Volkskunde
144 als ganzer nach ihren offensichtlich reaktionären, atavistischen
145 Vertretern zu bemessen. Auch in der Volkskunde hat es Versuche
146 gegeben sich mit der eigenen Vergangenheit, unterm Faschismus und
147 vorher, auseinanderzusetzen. Sie als aufklärerische
148 Selbstverständigung und Willen zum kritischen Neuanfang zu
149 interpretieren, will freilich nicht gelingen. Sämtliche
150 Stereotypen hilfloser, weil rein geistiger und unpolitisch
151 bleibender Vergangenheitsbewältigung sind hier versammelt.
152 Gutgläubig wird behauptet, daß zu Zeiten des
153 Nationalsozialismus " neben der lauten und den Vordergrund
154 beherrschenden " Volkskunde "[ (...) ]eine ernste, arbeitende,
155 wissenschaftliche Volkskunde bestanden " habe, daß " die
156 Quelle selbst nicht getrübt " worden sei, daß man " auch nach
157 der Begründung des nationalsozialistischen Staates seinen alten
158 Weg in der gleichen Richtung wie bisher " fortgesetzt und " eine
159 gewisse Freizügigkeit gegenüber politisch-organisatorischen
160 Bindungen " bewahrt habe, " um die Eigenständigkeit und
161 Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung, die ihre eigenen
162 Gesetze habe, nicht zu gefährden. " Geistiger Faschismus wird
163 verharmlost zur " romantischen Reaktion ", einem " eigenartigen
164 Gesetz des europäischen Kulturablaufs ". Übrig bleiben ein
165 paar " ideologische Überspanntheiten ", eine " ideologische
166 Überlagerung " ein verschleiernder Euphemismus ist, so legt das
167 Wort von den " Überspanntheiten " nahe, daß doch eigentlich
168 etwas Richtiges gemeint war. Die maßvollere Version wäre also
169 annehmbar gewesen? Indem dem " politisierten Betrieb " immer
170 wieder die " eigentliche Volkskunde " entgegengehalten wird -
171 unschuldig weil unpolitisch -, erscheint die amtliche
172 Gleichschaltung als Einbruch von außen, der auch gottlob zu
173 nichts anderem als zu einem " Nachgeben in äußeren Dingen und
174 Formulierungen " geführt habe. In aller vermeintlichen
175 Harmlosigkeit spricht sich ein wissenschaftliches
176 Selbstverständnis aus, das der wertneutralen, puristischen
177 Tradition der Geisteswissenschaften und
178 Sozialwissenschaften in Deutschland verhaftet ist. Wolfgang
179 Abendroth und W. F. Haug haben dargetan, wie die
180 unpolitische oder transpolitisch sich gebende Haltung, die sich den
181 vorgeblich objektiven, unstrittigen Inhalten ihrer Wissenschaft
182 und sonst nur dem " Volksganzen ", dem " Staat als solchem "
183 verpflichtet glaubte, in ihrer scheinbaren Objektivität gerade die
184 schlechteste Funktion der Subjektivität erfüllte, indem sie ihr
185 an sich fremde Interessen stützte und sanktioniert. Dieser
186 Standort kennzeichnet nicht nur die Volkskunde - als eine unter
187 vielen akademischen Disziplinen - im Dritten Reich, sondern
188 gleichzeitig die Bewältigungsversuche der fünfziger und sechziger
189 Jahre, womit eine fatale Kontinuität sichtbar wird. Im
190 speziellen Fall der Volkskunde ist allerdings der Zusammenhang
191 zwischen transpolitisch wissenschaftlichem Anspruch und hilflosem
192 Verfallensein an die politische Realität noch weitaus enger als
193 sonst. Waren doch die Liebhaber und Erforscher deutschen
194 Volkstums eineinhalb Jahrhundert lang die eifrigen Mitproduzenten
195 jener verfänglichen Ideologie der organischen Volksgemeinschaft,
196 des ursprünglich-naturhaften Volkstums, die nicht erst unter
197 dem Faschismus von den Herrschenden eingesetzt wurde, um den
198 tatsächlichen Klassenantagonismus im durchaus nicht organischen
199 Volk zu verschleiern. Wenn Werner Hofmann von der Wissenschaft
200 im allgemeinen sagen konnte, daß sie den Gang der Gesellschaft
201 begleite, ihren Bedürfnissen, ihren Parteiungen, ihrer
202 Bewußtseinshöhe entspreche, dan gilt das von der Volkskunde in
203 besonderem Maße. Volkskunde in Deutschland hat, trotz allem
204 historischen Interesse und positivistisch betriebenen Sammelfleis,
205 die ihr einen wissenschaftlichen Anstrich verliehen, von Anfang an
206 präzise die Doppelfunktion aller Ideologien erfüllt:
207 " erlittene Unrecht zu liefern. " Pointiert heißt das - und von
208 diesem Verdikt sind nur wenige aktuelle, später zu diskutierende
209 Neuansätze auszunehmen -, daß Volkskunde und
210 Volkstumsideologie über weite Strecken des historischen Verlaufs
211 miteinander identisch oder zumindest nicht voneinander zu trennen
212 sind. Wir haben den Ideologiebegriff bisher gebraucht, ohne ihn
213 definiert oder seine analytische Kraft plausibel gemacht zu haben.
214 Das ist in einer Zeit der inflationären Verwendung dieses
215 Begriffs, des totalen Ideologieverdachts, der - mit Adorno zu
216 sprechen - nachgerade auch schon zur Ideologie heruntergekommen
217 ist, unumgänglich. W. F. Haug hat in seiner bereits
218 zitierten Studie Der hilflose Antifaschismus deutlich
219 machen können, daß zumal gegenüber dem Faschismus ein
220 Ideologiebegriff versagen muß, der an " Momenten der
221 Innerlichkeit festgemacht " ist und folgerichtig die konkreten
222 sozioökonomischen Prozesse unterschätzt oder übersieht. Diesem
223 Vorwurf hat er auch den letzten, durchaus aufklärerischen Versuch
224 der Vergangenheitsbewältigung in der Volkskunde von Hermann
225 Bausinger ausgesetzt. Damit ist einmal die Tradition der
226 Mannheimschen Wissenssoziologie gekennzeichnet, deren
227 unverbindliches Jonglieren mit geistigen Schichten und Gebilden
228 stets Symptomdenken geblieben ist und, trotz der Einsicht in die
229 prinzipielle Standortgebundenheit alles Denkens, durchweg dazu
230 neigte, " die Bedeutung der Ideologien zu überschätzen
231 gegenüber dem, wofür sie einstehen ". Diese Fehleinschätzung
232 verbindet die Wissenssoziologie mit der deutschen idealistischen
233 Philosophie und ihren Popularisierern, die auf dem Standpunkt der
234 Eigengesetzlichkeit oder gar " Erzeugerkraft " des Ideellen
235 gegenüber dem Materiellen beharrten und damit nie in der Lage
236 waren, soziale Prozesse adäquat zu interpretieren. Gegen eben
237 diese typisch " deutsche Ideologie ", wirkliche Geschichte zu
238 Bewußtseinsgeschichte zu verharmlosen, wandten sich Marx und
239 Engels und begründeten damit eine Methode der Ideologikritik,
240 von der, in deutlicher Abgrenzung gegen ihre geistesphilosophischen
241 Verwässerer, heute noch auszugehen ist. Freilich ist in
242 Rechnung zu stellen, daß auch Ideologie und ihre Kritik
243 historischer Veränderung unterworfen sind, es also naiv wäre,
244 die von Marx stammende Kennzeichnung der Funktion von Ideologie
245 ohne Modifikation auf faschistische und spätkapitalistische
246 Verhältnisse zu übertragen. Statt vom menschlichen Bewußtsein
247 geht Marx von den " wirklichen Individuen, ihren Aktionen und
248 ihren materiellen Lebensbedingungen " aus, also von
249 Voraussetzungen, die " auf rein empirischem Wege konstatierbar "
250 sind. Das führt ihn zu der Feststellung: " Die Menschen sind
251 die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die
252 wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine
253 bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben
254 entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf.
255 Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte
256 Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. "
257 Bezogen auf den konkreten Antagonismus in der
258 Klassengesellschaft heißt das: Ideologie ist eine aus
259 ökonomischen und machtpolitischen Interessen entspringende
260 Verhüllung und Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen.
261 " Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die
262 herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die
263 herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist
264 zugleich ihre herrschende geistige Macht.[ (...) ]Die
265 herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck
266 der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken
267 gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse. " Die
268 Einordnung von Ideologie in den gesamtgesellschaftlichen Prozeß
269 läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Freilich hat schon
270 Marx einsichtig machen können, daß sich von dem Augenblick an,
271 wo sich der Zusammenhang zwischen dem Bewußtsein der Menschen und
272 ihrem materiellen Dasein in Produktion und Reproduktion ihres
273 eigenen Lebens löst, nämlich durch fortschreitende
274 Arbeitsteilung, das Bewußtsein der Menschen falsches
275 Bewußtsein werden kann, das ihre eigene sozioökonomische
276 Situation verzerrt widerspiegelt. Damit ist die Möglichkeit der
277 Verselbständigung von Bewußtsein gegeben.
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