Quelle Nummer 214

Rubrik 13 : GESCHICHTE   Unterrubrik 13.04 : ALLGEMEINE

GESCHICHTE UND PSYCHOANALYSE
HANS-ULRICH WEHLER
ZUM VERHAELTNIS VON GESCHICHTSWISSENSCHAFT UND
PSYCHOANALYSE
IN: HANS-ULRICH WEHLER (HRSG.): GESCHICHTE UND
PSYCHOANALYSE
POCKET 25, 1971 VERLAG KIEPENHEUER UND WITSCH KOELN
S. 9-16


001  Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und
002  Psychoanalyse. Die politische Biographie, so hat man in
003  jüngster Zeit wiederholt geklagt, sei hiezulande ein " **N1 ein "
004  Brachland " geworden. Nach ihrer großen Zeit zwischen 1830
005  und 1930 (wenn man so will: von Droysens " Alexander " bis
006  Ritters " Stein "), sei sie bei den deutschsprachigen
007  Historikern offensichtlich immer mehr in Mißkredit geraten, und
008  die Politikwissenschaftler hätten sie gewissermaßen überhaupt
009  noch nicht entdeckt. Dieses Pauschalurteil verrät eine
010  erstaunliche Unkenntnis, denn es ist in der Sache, zumindest
011  soweit die Historiker betroffen sind, schlechterdings falsch.
012  Eher ließe sich der gelegentlich von manchen ausländischen
013  Historikern zu hörende sachte Vorwurf verstehen: man folge in
014  Deutschland noch zu oft einer konventionellen biographischen Form
015  der Darstellung. Jedoch abgesehen davon, Reinhard Wittrams
016  unlängst vollendete große Biogaphie des Zaren Peter 1.wird
017  man unstreitig zu den bedeutendsten Biographien der deutschen
018  Geschichtsschreibung in diesem Jahrhundert - mithin zu Heinrich
019  R. v. Srbiks " Metternich " und Gerhard Ritters "
020  Stein ", vor allem aber auch zu den Werken zweier Außenseiter:
021  Erich Eycks " Bismarck " und Gustav Mayers " Friedrich
022  Engels " - hinzuzählen dürfen. In mehreren Bänden hat
023  soeben auch Adam Wandruszka das Leben und Lebenswerk Kaiser
024  Leopolds 2., Max Braubach das des Prinzen Eugen von Savoyen
025  eindringlich dargestellt; ebenso breit angelegt sind die noch nicht
026  abgeschlossenen Biographien von Lothar Wickert über Theodor
027  Mommsen und von Werner Kaegi über Jacob Burckhardt, wogegen
028  Carl Burckhardts Richelieu-Biographie jetzt doch noch zu
029  Ende geführt worden ist. Überhaupt ist besonders in den letzten
030  Jahren wieder eine Fülle von Biographien - von den
031  biographischen Essays ganz zu schweigen - erschienen: über
032  hervorragende Politiker und Militärs, über Monarchen und
033  Historiker, über Bischöfe und Industrielle. Anstatt wie nach
034  dem Ersten Weltkrieg der sog. Historischen Belletristik das
035  Feld zu überlassen, haben sich auch Fachhistoriker der populär
036  gefaßten Biographie zugewandt. Man denke etwa an Heibers Hitler
037  -Biographien und Goebbels-Biographien, an
038  Scheurigs " Stauffenberg " und Werner Richters " Bismarck
039  ". Und in einer eigenen Taschenbuchreihe " Persönlichkeit und
040  Geschichte " sind innerhalb weniger Jahre fünfzig zumeist von
041  Fachhistorikern geschriebene Bändchen erschienen. Nein, von
042  einem " Brachland " wird man, selbst nach diesem nur flüchtigen
043  Überblick, nicht gut sprechen können. Dennoch ist - nicht nur
044  unter jüngeren Historikern - ein deutliches Mißbehagen, das
045  sich gegen die herkömmliche Biographie richtet, unverkennbar
046  vorhanden, und seit 1945 hat aufs Ganze gesehen und im Vergleich
047  mit früher das Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft an
048  der Biographie spürbar nachgelassen. ungeachtet der zahlreichen
049  Veröffentlichungen, die auf diesem Gebiet weiter erschienen sind
050  - und oft handelte es sich dabei um die seit langen Jahren
051  verfolgten Projekte älterer Historiker -, wird man in mancher
052  Hinsicht durchaus von einer Krise der politischen Biographie
053  sprechen dürfen. Es ist daher auch keineswegs ein Zufall, daß
054  gerade in der jüngsten Vergangenheit einige vorzügliche studien,
055  die in ihrem Titel bedeutende Persönlichkeiten nennen, eine Art
056  Kompromißlösung darstellen, indem sie nämlich, anstatt eine
057  umfassende Biographie anzustreben, nur gewisse biographische
058  Aspekte mit monographischen Sachgeschichtspunkten verbinden. Zu
059  nennen sind hier etwa Wolfgang J. Mommsens " Max Weber und
060  die deutsche Politik " und Dietrich Geyers " Lenin in der
061  russischen Sozialdemokratie ", Lothar Galls " Benjamin
062  Constants politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz " und
063  Erich Angermanns " Robert v. Muhl " (und dessen
064  Verhältnis zu Rechtsstaat, Sozialer Frage, Staat und
065  Gesellschaft), sowie darüber hinaus eine ganze Reihe ähnlich
066  angelegter Arbeiten, denen allen eine gewisse Skepsis dagegen:
067  sich ausschließlich im steng biographischen Sinn auf die
068  Entwicklungsgeschichte einer Persönlichkeit zu konzentrieren,
069  gemeinsam ist. Besonders diese Studien schneiden bei einem
070  Vergleich mit den Biographien angelsächsischer Historiker, unter
071  denen die Tradition der biographischen Darstellung noch
072  ungebrochener ist, vorteilhaft ab, obwohl von denselben in letzter
073  Zeit nicht wenige wichtige Biographien auch über
074  Persönlichkeiten der deutschen Geschichte verfaßt worden sind.
075  Jedoch, auch und gerade diese deutsche Arbeiten, die solch einem
076  Kompromiß folgen und die Grenzpflöcke der Biographie etwas
077  zurücksetzen, verweisen indirekt auf jene Krise der Biographie,
078  für die es fraglos ein Bündel von Ursachen gibt. Die
079  politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen der vergangenen
080  Jahrzehnte haben die Gewalt von Sachzwängen in der Industriellen
081  Welt, die Macht großer Massenbewegungen in Frieden und Krieg,
082  kurzum: die Durchschlagskraft von Kollektivphänomenen in einem
083  besonderen Ausmaß erwiesen. Von ihnen sind die großen
084  Persönlichkeiten dieser Zeit - " groß " im guten oder
085  schlechten Sinn einer unleugbaren historischen Bedeutung und
086  Wirkung - mitgetragen worden, ohne sie sind ihre rühmlichen oder
087  fatalen Erfolge kaum denkbar. Diese realhistorische Entwicklung
088  hat dem von der Romantik geförderten Persönlichkeitsideal
089  und Genieideal, aber auch dem oft geradezu dogmatisierten
090  Individualitätsprinzip des deutschen Historismus gewissermaßen
091  den Boden entzogen oder ihn doch so unsicher gemacht, daß mancher
092  biographisch interessierte Historiker ihn leichten Herzens nicht
093  mehr betreten mag, ganz im Gegensatz etwa zu zahlreichen
094  Historikern der 1920er Jahre, z. B. vielen Schülern
095  Friedrich Meineckes, die eine Biographie der Untersuchung von
096  Sachproblemen vorzogen. Dieser Zusammenhang verweist auf
097  erkenntnistheoretische, methodologische Bedenken gegen die
098  herkömmliche politische Biographie, auf Einwände, die wiederum
099  aufs engste mit der Krise des " Verstehens "-Begriffs
100  zusammenhängen, wie ihn der klassische deutsche Historismus als
101  hermeneutisches Prinzip entwickelt und begründet hat. Ob das "
102  Verstehen " nämlich strengen wissenschaftstheoretischen
103  Ansprüchen weiterhin voll genügen kann, ist heftig umstritten und
104  wird namentlich von einigen Sozialwissenschaftlern energisch
105  bezweifelt. Das " Verstehen " ist aus dem aristotelischen
106  Intuitionsbegriff erwachsen, von der theologischen Hermeneutik
107  erstmals systematisch behandelt worden - man denke hier an
108  Schleiermachers Theorie der Auslegung - und fortab meistens mit
109  einem rational nicht ganz erklärbaren Einfühlungsvermögen
110  verbunden worden. Es ist mithin in hohem Maße Ausfluß sensibler
111  Begabung und menschlicher Reife und beruhte überdies in
112  Deutschland stillschweigend auf einigen zunehmend der Kritik
113  ausgesetzten Voraussetzungen, von denen hier nur einige erwähnt
114  seien. Wenn Johann Gustav Droysen, der vielleicht mit dem
115  schärfsten analytischen Verstand über die Probleme des
116  historischen Kerngedankens: " forschend zu verstehen ",
117  reflektiert hat, zu der Behauptung vorstoßen konnte, daß "
118  nichts, was den menschlichen Geist bewegt und sinnlichen Ausdruck
119  gefunden hat, (...) nicht verstanden werden könnte ", dann darf man
120  das heute unter anderem auch als Ausdruck der optimistischen,
121  relativ statischen Anthropologie des Historismus bewerten. Sie
122  war statisch in dem Sinne, daß sie trotz allem Interesse an
123  Evolution eine gleichbleibende Struktur der Empfindungsweise
124  und Ausdrucksweisen, der Impulse und des Denkens voraussetzte,
125  wie das etwa auch Bruckhardts berühmtes Wort " vom duldenden,
126  sterbenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und
127  sein wird ", ausdrückte. Wahrscheinlich hat die Verstehenslehre
128  die Historiezität der Verhaltensweisen und Kategorien
129  menschlichen Denkens doch noch unterschätzt - so paradox das auch
130  gerade im Hinblick auf den Historismus klingen mag - und
131  andererseits ihre Möglichkeiten überschätzt. Wegen ihrer
132  individualistischen Zuspitzung, wegen ihres Zuschnitts auf die
133  bedeutenden historischen Persönlichkeiten hat sie zudem zum
134  Verständnis von Kollektivphänomenen insgesamt nicht nur wenig
135  beigetragen, sondern trotz Droysens Betonung der " sittlichen
136  Mächte " oft geradezu deren historische Erfassung gehemmt. Sie
137  hat, der Kantschen Kategorienlehre ungeachtet, zu der eigentlich
138  unhistorischen anthropologischen und erkenntnistheoretischen
139  Auffassung hingeneigt, eine Gleichartigkeit der Denkmuster und
140  Reaktionsweisen über die Jahrhunderte und gar Jahrtausende hinweg
141  unterstellen zu können. Nicht nur die moderne Kulturanthropologie
142  und Ethnosoziologie haben indessen diese Prämisse äußerst
143  fragwürdig und unsicher gemacht, sondern auch die Erfahrungen,
144  die Historiker selber, z. B. aus der Beschäftigung mit
145  höchst fremdartigen Denkweisen, etwas resignierend gewonnen haben
146  (und wie sie etwa ein so eminent feinfühliger Historiker wie
147  Johann Huizinga im " Herbst des Mittelalters " beschrieben hat),
148  tauchen ihre beanspruchte allgemeine Gültigkeit in das Licht
149  des Zweifels. Der Wert erlernbarer Kenntnisse ist natürlich vom
150  Historismus nie geleugnet worden, jedoch im Grunde ist das "
151  Verstehen " an die instuitive Begabung und Einsicht, an Talent
152  und Genius, an die Befähigung zu Droysens " " schöpferischem
153  Akt " des Nachvollziehens, aber auch und vor allem an den
154  Erfahrungshorizont des Historikers stets gebunden gewesen. " Man
155  muß (...) immer schon Horizont haben ", hat daher Gadamer zu
156  Recht betont, um sich überhaupt " dergestalt in eine Situation
157  versetzen zu können ". Von diesem individuellen
158  Erfahrungshorizont kann das " Bezugssystem " des Historikers,
159  wie auch Habermas unterstrichen hat, schlechthin " nicht
160  unabhängig sein ". Mit dem Blick auf diesen Zusammenhang hat
161  daher Theodor Mommsen einmal sinngemäß geurteilt, daß der
162  Historiker erst mit zunehmendem Alter ein guter Historiker werde,
163  d. h.: wenn er im Besitz möglichst vielfältiger
164  menschlicher Erfahrungen ist, die als Grundlage seines Urteils
165  dienen können. Ähnlich drückte sich dann Dilthey aus, als er
166  den " Ausgangspunkt für das Verständnis " im " Lebensreichtum
167  der einzelnen Individuen selber " erkannte. Nach Herkunft,
168  Bildungsgang und Lebensumständen werden aber natürlich auch dem
169  Erfahrungshorizont des Historikers gemeinhin deutliche Grenzen
170  gesetzt. diese begrenzte Weite und Intensität seiner Erfahrungen
171  - das Wort durchaus im weiten Sinn verstanden - bestimmen mit
172  die Selektion, die beim Prozeß des " Verstehens " notwendig
173  stattfindet. Sie bedingen entscheidend das Denken des Historikers
174  in Analogieschlüssen, d. h., er erfaßt einen Ausschnitt
175  aus der Vergangenheit am ehesten analog zu den Möglichkeiten, die
176  in seinem Erfahrungshorizont eingeschlossen oder dort aufgespeichert
177  sind. Hier wird selbstredend ein Grundproblem auch der
178  Wissenssoziologie angeschnitten, die ursprünglich vor allem in
179  Deutschland durch Marx und Weber, Mannheim und Scheler die
180  stärksten Impulse empfangen hat. Mit ihren Theorien und
181  Ergebnissen hat sich aber die theoretische Diskussion in der
182  Geschichtswissenschaft noch nicht intensiv genug auseinandergesetzt,
183  obwohl sich die Zurückhaltung in dieser Hinsicht offenbar nicht
184  zum Vorteil der wissenschaftstheoretischen Klarheit ihrer Position
185  ausgewirkt hat. Daß der Historiker kraft seiner Ausbildung und
186  Begabung, seiner Phantasie und Selbstdiziplin usw. die
187  Schranken seiner Herkunft und Persönlichkeit transzendieren kann,
188  trifft sicher manchmal zu. Daß es ihm oft oder gar in der Regel
189  gelinge, ist wohl eine Täuschung. Daß er es aber könne sollte,
190  bleibt das stete Postulat der Geschichte als Wissenschaft.
191  Hier vor allem werden weitere Überlegungen zu ihrer Theorie
192  einzusetzen haben. Schließlich setzte auch das " Versehen "
193  insgeheim eine harmonische Übereinstimmung mit einigen als
194  vorwaltend aufgefaßten Grundtendenzen des 19.Jahrhunderts
195  voraus. Der mit nicht allzu starker Skepsis versetzte Glaube an
196  einen steten menschlichen Fortschritt, an die Segnungen des
197  liberalen Nationalstaats und einer sich in ihm entfaltenden reichen
198  Kultur - er durchtränkte fast die gesamte Geschichtsschreibung
199  des deutschen Historismus, er gestattete es dem " verstehenden "
200  Historiker, sich in einem gewöhnlich unausgesprochenen
201  Einverständnis mit der kontinuität der jüngsten Entwicklung
202  seines Kulturkreises zu wissen. Dieses innere Schanier zwischen
203  Wissenschaftstheorie Ersten Weltkrieg, spätestens jedoch durch
204  die Erfahrungen seit 1933 gesprengt worden, obwohl es eine
205  Übertreibung wäre zu behaupten, daß daraus allenthalben auch
206  schon die Konsequenzen für die Methodologie des
207  Historikersgezogen worden seien. Seither sind oft Zweifel,
208  Skepsis und Unsicherheit an die Stelle der Selbstsicherheit und
209  der ehemal selbstverständlichen Wertmaßstäbe - seien es nun die
210  verfassungspolitischen oder die gesellschaftspolitischen
211  - getreten, zumindest ist der optimistische Grundton, der
212  früher meistens beim " Verstehen " mitschwang, gedämpft worden.
213  Wenn vorher Kontinuität in gleichsam aufsteigender Linie alles
214  durchwaltete, so warf auf jeden Fall die Erfahrung mit dem
215  Nationalsozialismus die Frage nach der Kontinuität in der neueren
216  deutschen Geschichte mit einer beispiellosen Schärfe auf. Die
217  Diskussion über diese Kontinuität hat erst vor kurzem wieder neu
218  begonnen. Sie wird, wie mir scheint, die Kategorie der
219  Diskontinuität nicht als zentral anerkennen, zudem aber mit
220  größerer Aussicht auf Klärung der probleme vorangetrieben werden
221  können, wenn explizit Theorien der sozialökonomischen
222  Entwicklung, der politischen Herrschaft und der sozialpsychischen
223  Auswirkungen des gesellschaftlichen und politischen Systems
224  zugrunde gelegt werden, anstatt allein beim herkömmlichen
225  " Verstehen " mit seiner Bindung an den individuellen
226  Erfahrungshorizont zu verharren. Nachdem die idealistische
227  Individualtätsphilosophie ihre ehemals verbindliche
228  Überzeugungskraft verloren und die wissenschaftstheoretischen
229  Grundlagen der biographischen Geschichtsschreibung brüchig
230  geworden sind, sozialwissenschaftliche Ansätze aber von der
231  deutschen Geschichtsschreibung noch nicht methodisch auf ihre
232  Tragfähigkeit hin überprüft, geschweige denn rezipiert worden
233  sind, mangelt es zur Zeit der Biographie an einem unbezweifelt
234  sicheren Fundament; sie bleibt eben deshalb oft in einer
235  positivistischen Stoffbewältigung und narrativen
236  Ereignisgeschichte stecken. Der Ratschlag, die traditionelle
237  Hermeneutik durch " die " Dialektik zuersetzen, scheint mir
238  insofern nur sehr begrenzten Wert zu haben, als auch diese Methode
239  keineswegs auf das Verstehen der Entwicklungsgeschichte
240  dialektischer Spannungen und Wiedersprüche verzichten kann. Auch
241  sie führt sofort auf die Problematik der Verstehenslehre im Sinn
242  des Historismus zurück. Wenn dieser Sachverhalt zwar äußerst
243  knapp umrissen, aber zutreffend beschrieben worden sein sollte,
244  dann wird man die Forderung, daß außer der Menschenkenntnis des
245  Alltags, außer Instuition und Einfühlungsvermögen - die
246  natürlich in jeder Sozialwissenschaft immer ihren hohen Wert
247  behalten werden! - unter anderem auch die Theorien und
248  Ergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie und Psychoanalyse
249  zum " Werkzeug des Historikers " gehören sollten, schwerlich
250  abweisen können. Hier bieten sich auch Möglichkeiten einer
251  strengeren intersubjektiven Kontrolle - wie es im
252  Wissenschaftsdeutsch heißt -, zumindest wohl in einem höheren
253  Maße, als es allein bei intuitivem Nachempfinden möglich ist.
254  Zu dem naheliegenden Einwand, daß doch die Kontrolle durch die
255  Quellen hinreichen Sicherheit und Schutz gegen allzu subjektiven
256  Verzerrung gewährleiste, wird man sagen müssen, daß die
257  Quellen auf unterschiedlich Fragen durchaus verschiedene Antworten
258  geben, sie sind - wie menschliche Handlungen überhaupt - fast
259  nie eindeutig, sondern überdeterminiert und daher vieldeutig.
260  Freilich können die Psychoanalyse un die Sozialpsychologie die
261  bisher entwickelte Verstehenslehre keineswegs ganz verdrängen,
262  wohl aber dort partie ergänzen, wo sie für ein bestimmtes
263  Forschungsfeld bewährte Theorien und Untersuchungstechniken zur
264  Verfügung stellen können. Sie geben einige zusätzliche und
265  manchmal bessere Erklärungsmöglichkeiten, bieten aber keineswegs
266  einen Ersatz für alle anderen. Zusammen mit anderen
267  Sozialwissenschaften sollen sie durch rational kontrolierbare und
268  lehrbare Theorien den Ermessensspielraum des subjektiven
269  Nachempfindens und intuitiven Verstehens etwas einengen und
270  zugleich vor allem den individuellen Erfahrungshorizont durch ihre
271  allgemeinen Theorien erweitern, um dem Historiker einen
272  entscheidenden Schritt nach vorn: das Transzendieren seines
273  Erfahrungshorizonts methodisch gesichert zu erleichtern.

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